50 Jahre „Asterix“: Bums!

50 Jahre „Asterix“. Das sind 310 Millionen verkaufte Bände in 100 Sprachen und Dialekten, Filme, Nippes aller Art, ein Erlebnisland in Frankreich. Und eine nicht und nicht enden wollende Diskussion: Sind Comics Literatur?

 

Sind Comics Literatur? Nein, das ist keine rhetorische Frage, hier geht es ganz ernsthaft ums Grundsätzliche: Darf und kann und soll und muss ein Jubiläum wie „50 Jahre Asterix“ Gegenstand einer „Spectrum“-Ausgabe sein, auf deren erster Seite, gleich unter dem Kopf, der Schriftzug „Literatur“ prangt? Und schauen Sie nur hier, auf dieser Seite sechs, an den oberen Rand, in die sogenannte Pagina: Da steht es noch einmal, klar und unmissverständlich: „Literatur“.

Ich gestehe: Bis heute morgen hätte ich diese Debatte für erledigt gehalten. Selbstverständlich sind Comics Literatur, auch wenn sie nur den einen Fuß im Literarischen, den anderen in der bildenden Kunst stehen haben. Man diskutiert ja auch nicht, ob Dramentexte Literatur sind, nur weil sie zugleich einer anderen der schönen Künste zugetan sein wollen. Und da muss man gar nicht den „erweiterten Literaturbegriff“ strapazieren, wie er im Lauf des vergangenen halben Jahrhunderts immer wieder eingefordert und praktiziert wurde. Ein Blick auf die mehr als wechselvolle Geschichte des Begriffs Literatur sollte uns lehren, dass Literatur jeweils das ist, was jede Zeit als solche definiert – und wir werden doch nicht ernsthaft das Sprachgeschehen noch im 21. Jahrhundert einzig an den Maßstäben, sagen wir, der aristotelischen Poetik messen wollen.

Man könnte meinen, bei – in gegenständlichem Fall – 310 Millionen weltweit verkauften „Asterix“-Bänden sei die Frage Literatur oder auch nicht ohnehin nur so relevant wie die aus Torbergs „Tante Jolesch“ bekannte Diskussion, ob es sich bei Zwetschgenröstern denn nun um Kompott handle. Andererseits verkauft sich nicht jede Comic-Serie 310-Millionen-mal, und diesen anderen bleibt dann nur die intellektuelle wie ästhetische Geringschätzung, die man vorzüglich im deutschen Sprachraum einer Sprache in Bildern im Vergleich zu einer nur buchstäblichen nach wie vor und breit gestreut entgegenbringt. Da kommt dann rasch die Rede auf das „Analphabetentum“ der Comics-Leserschaft. Freilich, nicht nur Buchstaben, auch Bilder lesen will gelernt sein. Und wie wichtig das für unser Leben ist, wird jeder Autolenker rasch erkennen, der ein Einfahrtverbotsschild nicht zu deuten weiß und hundert Meter später als Geisterfahrer über die Autobahn rast. Ganz abgesehen davon, dass Buchstaben ja auch nichts weiter als Bilder sind, ja Wörter vornehmlich nicht buchstabiert, sondern als ganzheitliche Bilder gelesen werden.

Wie auch immer, heute morgen stellte er sich mir wieder in den Weg, der comicophobe Generalverdacht: Das „Gros der Comics“ sei „mehr oder minder dem Bewusstseinsstand von Analphabeten angepasst“. Bums. Das hat kein finsterer Reaktionär der Fünfzigerjahre geschrieben, das findet sich in einem Beitrag zu „Kindlers neuem“ – und im Übrigen hochseriösen – „Literatur-Lexikon“, Jahrgang 1996, unter G wie Goscinny, verfasst von einem gleichermaßen hochseriösen Würzburger Romanisten, dem mittlerweile verstorbenen Kurt Reichenberger. Sicher, man muss schon froh sein, dass da überhaupt jemand auf die Idee gekommen ist, dieser Herr Goscinny könnte Kindler-würdig sein. Und Reichenberger hebt ihn samt „Asterix“ auch deutlich von diesem grauslichen „Gros der Comics“ ab, aber: Allzu gern würde man doch wissen, auf wie viel Comics-Lektüre Reichenberger sein summarisches Urteil wohl gestützt haben mag.

13 Jahre später sind wir einen Schritt weiter. Richtung Fünfzigerjahre. In der kürzlich erschienenen Kindler-Neuausgabe fehlt Goscinny im alphabetischen Autorenverzeichnis, der Comic bleibt in das Ghetto eines zusammenfassenden  Kurzessays verbannt. 50 Jahre nach dem Ersterscheinen von „Asterix“: zurück an den Start einer ästhetischen Debatte, die nicht einmal mehr lächerlich ist? Wer wollte denn ernsthaft – und nach welchen Kriterien genau – bestreiten, dass ein Goscinny, ein Robert Crumb, ein Art Spiegelman zumindest auch Autor ist, und zwar einer von Weltrang?

Bleiben wir bei Goscinny. Da haben wir es, nur so zur Erinnerung, nicht bloß mit dem Miterfinder und Texter der „Asterix“-Bände zu tun. Lucky Luke, erdacht vom belgischen Zeichner Morris, erhielt erst unter Goscinnys inhaltlicher Führung die Statur, die den Cowboy made in Europe zur Wildwest-Ikone machte. Oder denken wir an Goscinnys „Petit Nicolas“, der derzeit auch auf Deutsch, als „Kleiner Nick“ (Diogenes Verlag, Zürich), eine zweite, dritte Renaissance erlebt: Alltagsminiaturen rund um ein Schulkind von seltener Präzision der Beobachtung, Zeugnis einer singulären Fähigkeit ihres Autors, sich ins gar nicht immer so gemütvolle Gemüt eines Halbwüchsigen zu versetzen. Und nein, entgegen gängiger Erwachsenenmeinung brauchte Monsieur Goscinny keineswegs die eigene Vaterschaft, um so viel Einfühlungsvermögen aufzubringen: Als er den „Petit Nicolas“ schuf, war er Single und lebte bei seiner Mutter in Paris.

1951 jedenfalls lernt der Franzose, Jahrgang 1926, der Kindheit und Jugend in Buenos Aires verbracht hat, den knapp ein Jahr jüngeren Zeichner Albert Uderzo kennen. Ersten gemeinsamen Projekten bleibt der Erfolg zunächst versagt. Aber dann: Am 29. Oktober 1959 erscheint in der Erstausgabe der Jugendzeitschrift „Pilote“ die erste Folge von „Astérix le Gaulois“. Bis zum 14. Juli 1960 wird die erst später zu einem eigenen Album zusammengefasste Geschichte abgeschlossen sein. Und sie wird nichts nach außen hin erkennen lassen, was sie zum Selbstläufer quasi prädestiniert: der Stoff bei oberflächlicher Betrachtung so gut wie rein historisch, im Gallien des Jahres 50 vor Christus angesiedelt, der Text durchsetzt von Lateinzitaten, wie sie auch damals schon nur aus dem Munde verzopfter Schulmeister quollen, die Titel- und Hauptfigur klein, fast gnomenhaft, mit Knollennase, jeder Zoll kein Held. „Albert wollte Asterix zunächst nach traditioneller Vorstellung als heldenhaften Muskelmann zeichnen“, wird Goscinny später berichten. „Meine Idee war genau das Gegenteil: Ich wollte einen Antihelden, einen kleinen Kerl. Asterix sollte ein Knirps sein, so wahrnehmbar wie ein Satzzeichen, eine gerissene Figur.“

Allein an dieser Episode lässt sich mühelos zeigen, was Goscinny so sehr auszeichnete – und woran es den „Asterix“-Bänden nach seinem frühen Tod, 1977, schmerzhaft fehlte: Sein Ziel steuert er nie direkt an, seine Pointen erwischen uns regelmäßig auf dem falschen Fuß; nichts kommt, wie es zu erwarten wäre, alles scheint in ständiger Bewegung – ohne dass der Eindruck jener Hatz nach Effekten entsteht, die nichts weiter als die panische Flucht vor dem inhaltlichen Nichts ist.

Zurück zum Erstling, schauen wir uns eine Sequenz aus „Asterix der Gallier“ genauer an. Wir wissen, ganz Gallien ist von den Römern besetzt, nur ein kleines Dorf leistet Widerstand – dank eines Zaubertranks, der übermenschliche Kräfte verleiht, einzig und allein gebraut vom ortsansässigen Druiden. So weit der Plot. Im ersten Abenteuer gelingt es den Römern, den Druiden gefangen zu nehmen, Asterix dringt auf seiner Suche nach dem Freund ins Römerlager vor, die Römer versuchen, den beiden das Zaubertrankrezept durch Folter abzupressen, was ihnen auffallend schnell gelingt (der um seinen Sadistenlohn geprellte Folterknecht gehört zu den frühen Großtaten Uderzos). Unter römischer Bewachung sammelt der Druide die nötigen Zutaten, stellt einen Topf aufs Feuer . . . aber noch, so sagt er, fehlt etwas, „etwas sehr Wichtiges“. Nämlich, und wir ahnen, dass es gelogen ist: „Erdbeeren!“ Die scheinen jahreszeitgemäß nicht gerade Saison zu haben, das Römische Reich ist zwar erstaunlich fortschrittlich, aber der Supermarkt ums Eck, der ganzjährig Erdbeeren führt, und seien sie auch aus Neuseeland importiert, ist noch nicht erfunden. In alle Richtungen werden Boten ausgeschickt, eine Albumseite später sind alle zurückgekehrt, mit leeren Händen, nur einem, dem letzten, ist es gelungen, ein Körbchen Erdbeeren zu erstehen, wahrscheinlich das einzige im ganzen Imperium Romanum. Der Lagerkommandant ist glücklich, sieht sich mit dem Sensationsfund am Ziel. Und jetzt kommt’s: Asterix und der Druide nehmen die Erdbeeren in Augenschein, prüfen erst Aussehen, dann Geschmack – bis keine Frucht mehr übrig ist: Ja, genau die Sorte brauchen sie, die Römer sollen mehr davon bringen.

Mit welcher Präzision in Dialog wie Zeichnung auf diesen einen entscheidenden Punkt hingearbeitet wird, wie hier Spannung über mehrere Stufen aufgebaut und in einer befreienden Lachkatharsis gelöst wird, das hat nur in allerbesten Filmkomödien seinesgleichen. Neben so subtilen Inszenierungen ist freilich auch Platz für derben Spaß, Klamauk, historische Travestie steht unvermittelt neben aktueller Gesellschaftskritik, die Motorik des Slapsticks neben Satire. All das, das ganze ästhetische wie dramaturgische Programm der späteren Jahre, findet sich im Kern schon im allerersten Band angelegt, auch wenn viele Figuren noch weit weniger geschliffen, andere noch überhaupt nicht oder – wie der spätere Mitheld Obelix – nur am Rande zugegen sind. Und vom allerersten Band an ist und bleibt es Goscinny, der die Vorgaben trifft: Sein Buch liegt regelmäßig fix fertig vor, ehe Uderzo zum Zeichenstift greift.

Was folgt, ist eine singuläre Erfolgsgeschichte: Als „Asterix der Gallier“ in einer kartonierten Ausgabe angeboten wird, finden sich gerade einmal 6000 Käufer. Schon der nächste Band, „Die goldene Sichel“, erscheint in einer Startauflage von 15.000, beim achten, „Asterix bei den Briten“, 1966, beginnt man mit 900.000, Asterix selbst avanciert auf das Cover des Nachrichtenmagazins „L’Express“, schon ein Jahr davor hat man den ersten französischen Weltraumsatelliten „Astérix“ getauft.

Heute ist das Dorf der Unbeugsamen längst nicht mehr von Römerlagern umzingelt, sondern von Merchandising-Offerten sonder Zahl, von Nippes aller Art bis hin zum „Asterix“-Themenland nördlich von Paris. Und demnächst werden zu den 310 Millionen Gesamtauflage, die der deutsche „Asterix“-Verlag, Egmont Ehapa, stolz vermeldet, noch ein paar Millionen dazukommen, nach dem 22. Oktober, dann, wenn der neue Band vorliegt, allein verantwortet von Albert Uderzo, so wie alle Bände nach „Asterix bei den Belgiern“, 1979 erschienen. Eine Sammlung von zwölf Kurzgeschichten ist für diesen Band 34 annonciert, ganz im Zeichen des zu feiernden Geburtstags, und: Uderzo wolle „das Album mit klassischen ,Asterix‘-Themen bestücken, die beim Leser die meiste Sympathie erweckten“, meldet das „Deutsche Asterix-Archiv“ unter www.comedix.de. Wir sehen schon: Dort, wo vor einem halben Jahrhundert subversive Schöpferkraft unsere Vorstellungswelt auf den Kopf stellte, finden wir heute – Bitte nur keine Überraschungen! – biederstes Kalkül.

Sei’s drum. Dem Mythos „Asterix“ wird’s genauso wenig anhaben können wie all die platten Filmchen mit oder auch ohne humanes Inventar. Oder jene fragwürdige Überarbeitung alter Alben, die wir der ab 2006 erschienenen „Ultimativen Edition“ verdanken: mit einer Kolorierung, die ihr ästhetisches Heil in vermeintlicher „Natürlichkeit“ sucht – als wär’s ein Bühnenbild von anno Schnee.

Goscinnys kleiner, großer Mann jedenfalls hat es längst in den Bildungskanon geschafft, ist, heraus aus dem verschämten Verlies unter der Schulbank, direkt zum Unterrichtshilfsmittel, ja -gegenstand avanciert. Literatur? Ach was. So wirklich wie sonst nur die Wirklichkeit.

„Die Presse“, „Spectrum“, 10. Oktober 2009

Weitere Artikel