Mahlers Kafka: Wenn der einzig feste Grund der Abgrund ist

Robert Crumb hat es schon Anfang der 1990er getan, Peter Kuper wenig später: Franz Kafkas Leben und/oder Werk ins Bild gesetzt. Jetzt ist Nicolas Mahler dran: Wie komplett Kafka ist „Komplett Kafka“? Zu meinem „Comic des Monats“ im Dezember 2023.

Es kann ja nie zu viel Kafka sein. Und auch im demnächst anstehenden Kafka-Jahr 2024 (100. Todestag am 3. Juni) wird die Literatur über und rund um den einseitig begabten Versicherungsbeamten aus Prag um etliche Laufmeter anwachsen. Tatsächlich steht wohl bei keinem anderen Dichter von Weltrang das Sekundäre so disproportional dem Primären gegenüber: Neben einem überaus schmalen Werk (das noch sehr viel schmäler wäre, hätte sich Max Brod an seines Autors Weisung gehalten, das allermeiste zu verbrennen) stehen ganze Bibliotheken voll Erklärungen, Deutungen, Über- und Unterschreibungen eines Schaffens und seines Schöpfers; und dennoch, beide verweigern sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit diesen mehr oder minder impertinenten Annäherungsavancen.

Das Ergebnis erinnert nur allzu oft an das Grimmsche Hase-und-Igel-Spiel: Da rennen die Literaturwissenschafts- und Biografenhasen, was die Läufe hergeben, aber der Kafka-Igel scheint immer schneller gewesen zu sein. Und er ist es auch: Dieser Igel ist von keinem noch so apologetischen Apologeten-Hasen, von keinem noch so adeptischen Adepten einzuholen.

Wenig überraschend, dass es auch an bildnerischen Fühlungnahmen nicht mangelt: So widersprüchlich, ja nachgerade nebulös rätselhaft sich Kafkas Œuvre den Inhalten nach präsentiert, so suggestiv konkret sind die Bilder, in die derlei gehüllt ist. Das „ungeheure Ungeziefer“, als das Gregor Samsa eines Morgens erwacht („Die Verwandlung“), der ältlich-unzugängliche Schauderbau, der dem Landvermesser K. stets unerreichbar bleibt („Das Schloss“), der Exekutionsapparat, der den eigenen Erfinder aufs Grausamste massakriert („In der Strafkolonie“), all das meint man bei Lektüre unvermittelt vor sich zu sehen – was seit je einschlägig Talentierte dazu drängt, die im Kopf gezeugten Nachtmahre zu Papier oder auf Kinoleinwände zu bringen.

Auch der Comic und seine Künstler arbeiten sich seit Jahrzehnten an Prags berühmtestem Nichttschechen ab. 30 Jahre ist es her, dass kein Geringerer als Robert Crumb, textlich assistiert von David Zane Mairowitz, unter dem Titel „Kafka for Beginners“ seine Sicht der Kafka-Dinge präsentierte (eine Neuauflage der deutschen Ausgabe erscheint unter dem Titel „Kafka“ kommenden Jänner bei Reprodukt). Und es wird kein Zufall sein, dass sich dabei wie in vielen vergleichbaren Fällen Werk und Person aufs Engste ineinander verstrickt finden: als wäre die Biografie der einzig taugliche Schlüssel, die Rätsel, das Skandalöse, das bis heute auf weiten Strecken monströs Anstößige des Kafkaschen Werks für Biedergeister wie Sie und mich zu dechiffrieren. Genauer: als dürfte nicht sein, was gängiger Vorstellung nach gar nicht sein kann – dass sich da einer einfach hinsetzt und einzig kraft seiner Imagination Ideen in die Welt setzt, die uns in ihrer Ungeheuerlichkeit selbst 100 Jahre später noch schaudern machen.

Die Erbarmungslosigkeit, mit der Kafka seine Protagonisten ihrem Unglück aussetzt, Josef K. in einen „Process“ schickt, der für ihn mangels bekannter Anklage nicht zu gewinnen ist, einem namenlosen Mann eine Tür zum Gesetz öffnet, ihm zugleich jedoch diesen einzigen Zugang dazu durch einen Türhüter auf alle Zeit verwehren lässt („Vor dem Gesetz“): Da muss doch irgendetwas in Leben und Erleben des Autors dahinterstecken, so, wie es ist, kann und darf es nur Metapher sein für irgendetwas, nicht Idee sui generis, die bis ins Eklatanteste durchgehalten wird.

Kafka macht uns Angst: Angst davor, in die ureigenen Abgründe zu blicken. Da nehmen wir noch lieber die Idee in Kauf, entlang eines mittlerweile kanonisierten Gedankenmodells namens Psychoanalyse von einem diffusen Unbewussten zu noch so abwegigem Allotria getrieben zu sein, als in uns ohne jedwedes äußeres Zutun die finstersten Abwege vermuten zu müssen. Schließlich, die ultimative Schmach einer aufgeklärt sich gebenden Gesellschaft ist es, nicht für alles und jedes eine Erklärung parat zu haben, und sei sie auch, bei tatsächlich wachem Verstand betrachtet, noch viel aberwitziger als jedes noch so aberwitzige Hirngespinst.

Den Mut, Kafka schlicht beim Wort zu nehmen, bringt zwei Jahre nach Mairowitz/Crumb, 1995, der US-Amerikaner Peter Kuper auf: Für den Band „Give It Up!“ versammelt er neben der titelgebenden („Gib’s auf!“) noch acht weitere Kurz- und Kürzestgeschichten Kafkas und gibt ihnen, was ihnen einzig gebührt: eine Bedeutung in sich selbst – und ohne jedweden Versuch, uns und ihren Autor mit einer Erklärung für ihr Dasein zu belästigen. „Visuelle Improvisationen über die kurzen Stücke des großen Meisters“ nennt das Jules Feiffer in seinem Vorwort, und Treffenderes ließe sich dazu nicht sagen: Wie Kuper etwa Kafkas „Hungerkünstler“ in eine holzschnittartige Bildsprache fasst, die beklemmend an die der 1920er erinnert, das hat nach ihm nicht seinesgleichen gefunden.

Bei aller Unterschiedlichkeit verbinden doch zumindest zwei Gemeinsamkeiten Kuper mit Mairowitz/Crumb. Da wäre zuallererst der Verzicht auf Farbe. Nun, keine Frage: Kafka bunt – das sich vorzustellen, fällt aufs Erste fraglos schwer. Andererseits: Womöglich müsste sich einer nur einmal von dem vergangenen einen Jahrhundert vorwiegend düster-dunkler Kafka-Exegese befreien, um sich andere Gestaltungsoptionen als Schwarz-Weiß dienstbar machen zu können.

Die zweite Gemeinsamkeit: Weder Kuper noch Mairowitz/Crumb beschränken sich formal auf den strengen Comic-Kanon, also einen Handlungsverlauf entlang gerahmter Panels, Sprechblasentext inklusive. „Kafka for Beginners“ wie „Give It Up!“ geben sich vielmehr als Bildbände, in denen die grafische Ebene die textliche zwar illustriert, aber in Wahrheit nie selbst das Geschehen bestimmt: Das bleibt allein der Textebene vorbehalten.

Womit wir unversehens bei jener Neuerscheinung angelangt sind, von der an dieser Stelle zuletzt – und nicht zuletzt – die Rede sein soll: Denn auch Nicolas Mahlers „Komplett Kafka“, Ende November bei Suhrkamp, Berlin, herausgekommen, lässt sich entlang obgenannter Kriterien bei bestem Willen nicht als Comic definieren, wiewohl das Annoncement des Verlags („Comic-Biografie“) anderes suggeriert. Nun, wer hätte ausgerechnet von Nicolas Mahler einen formal orthodoxen Comic erwartet? Schon seine Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard („Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie“, gleichfalls bei Suhrkamp) gab sich eher als Textband zu erkennen, in dem das Bildelement vor allem die Funktion eines Kommentars übernahm, keineswegs die eines Handlungselements.

So wenig Mahlers angebliche „Comic-Biografie“ also ein Comic ist, so wenig ist sie eine konventionelle Biografie: Der Band präsentiert sich eher als atmosphärisch dichte Ideen- und Zitatesammlung zu einem gelebten Leben. Und wenig überraschend, dass der Titel „Komplett Kafka“ auch nicht auf irgendeine Art von Vollständigkeit referieren will, vielmehr dass da einer beim Zeichnen und Verfassen – eben – komplett Kafka war: völlig Kafka, restlos Kafka, Kafka ganz und gar.

Kafka nach Kafka.
Kafka nach Mahler.

Das beginnt schon beim Artwork: Wer Kafkas Zeichnungen kennt, und ja, Kafka hat gezeichnet und, was in seinem Fall noch erstaunlicher ist, etliches davon hat sich sogar erhalten, wer also Kafkas Zeichnungen kennt, diese minimalistischen Kritzeleien, Realität, auf ein äußerstes Mindestmaß an Strichen reduziert, dem kann nicht entgehen, wie viel ihr äußeres Erscheinungsbild mit dem Mahlerschen Minimalismus verbindet. Und wie nahe an Nicolas Mahlers Schaffen ist ein Satz, den er aus einem Brief Franz Kafkas an die geliebte Milena Jesenská zitiert: „Auch verstehe ich Spaß, aber alles kann mir auch Drohung sein.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der Mahler in diesen Kosmos vordringt, ist die Selbstverständlichkeit eines, dem dieser Kosmos wohlvertraut scheint. Wirklichkeit in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit: Alles beweist alles – und das gerade Gegenteil. Eine Welt, in der nichts sicher ist, es sei denn der Tod. „Ich verkrieche mich vor Menschen nicht deshalb, weil ich ruhig leben, sondern weil ich ruhig zugrunde gehen will“, notiert Kafka 1914 in sein Tagebuch. Und das ist derselbe Franz Kafka, über den sein Freund Max Brod berichtet: „Seine geistige Richtung ging durchaus nicht auf das Interessant-Angekränkelte, Bizarre, Groteske, sondern auf das Große der Natur, auf das Heilende, Heilkräftige, Gesunde, Festgefügte, Einfache.“ Und: „Es ist nämlich auch die Meinung, die in Kafka so etwas wie einen Wüstenmönch und Anachoreten sieht, völlig falsch.“ Hier der Zugrundegeher, da der Naturbursch: Nein, bei Franz Kafka ist kein fester Grund zu finden; und wenn es denn einen gäbe, auf den sich alles gründet, könnte es nur der Abgrund sein.

Nicolas Mahler bewegt sich und uns durch dieses Leben und durch dieses Werk mit einer Ungezwungenheit, als könnt’s gar nicht anders sein: als wär dieses Hin und Her der Gegensätzlichkeiten, das jede Fassbarkeit von vornherein unterbindet, die natürlichste Sache der Welt. Dass er uns dabei jeden Versuch der Deutung, der Interpretation erspart, nur da und dort schon Dargestelltes durch lakonische Randbemerkungen oder gezeichnete Zuspitzungen verstärkt, hebt seine Kafka-Auseinandersetzung weit über das in dieser Sache notorisch Landläufige hinaus.

An das Ende setzt Mahler Auszüge aus einem Gespräch, das der Journalist Georg Stadtler 1968 mit dem hochbetagten Max Brod führte. „In jeder Stadt sitzt ein Narr, der zu mir kommt und irgendeine abstruse, gänzlich unbegründete Meinung zu Kafka eröffnet“, liest man da Max Brod klagen. Und auf die Frage, ob es denn für seine Sicht auf Kafka nicht eine Belastung sei, so eng mit Kafka befreundet gewesen zu sein, repliziert Brod kühl: „Ich glaube nicht, dass es ein Vorteil ist, Kafka nicht gekannt zu haben.“ Mit Nicolas Mahler lernen wir Franz Kafka zumindest ein Stück weit besser kennen. Sofern man einen wie Kafka überhaupt kennenlernen kann.

Der „Comic des Monats“ im Dezember 2023:
Nicolas Mahler
Komplett Kafka
128 S., € 18,50 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

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