Er zählt zu den Pionieren des Comic-Journalismus: In seinem neuen Band berichtet Joe Sacco von den Indigenen in Kanadas Nordwesten – und wie ihre Gesellschaft vernichtet wird.
Comic-Journalismus: ein Begriffsdoppel, das auf den ersten Blick in sich widersprüch lich scheint. Zu sehr wird Comic noch immer als primär unterhaltende, jedenfalls fiktionale Form wahrgenommen, jedenfalls nicht als eine, die seriös Dokumentarisches aller Art transportieren will – und kann. Dabei darf Gezeichnetes auf eine reiche Tradition als Dokument verweisen – insbesondere aus vorfotografischen Tagen. Kein Verbrechen ohne Tatortskizze, kein Großprozess ohne Gerichtszeichner (und bis heute ist es in Österreich Vorrecht des Zeichners, Geschehnisse während eines Gerichtsverfahrens bildlich festzuhalten).
Nicht zuletzt das Zeitungswesen blieb anfangs auf Zeichnungen als einziges Mittel der bildlichen Darstellung realer Vorkommnisse angewiesen. Und so ist es im Grunde erstaunlich, wie lang es dauerte, bis regelrechte Bildgeschichten journalistisch Einsatz fanden: bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zu den frühesten einschlägigen Werken zählen Robert Crumbs „Sketchbook Reports“, aus dem Jahr 1965 datierend. Nun, Crumb verabschiedete sich alsbald vom Realistischen Richtung Underground, und es vergingen abermals Jahrzehnte, bis jemand auf der Bildfläche erschien, der sich selbst unmissverständlich als „zeichnender Journalist“ definierte: der aus Malta gebürtige, seit den 1970ern in den USA lebende Joe Sacco, Jahrgang 1960.
Wobei dieses „auf der Bildfläche erscheinen“ in seinem Fall durchaus wörtlich gemeint ist: Charakteristisch für Saccos Arbeiten ist von Anfang an, dass er auch sich selbst in den Blick rückt. „Meine Zeichnungen sind dadurch offen subjektiv“, meint Sacco dazu. „Im Studium hatte ich gelernt, dass Journalismus immer objektiv sein müsse. Das halte ich heute für totalen Schwachsinn. Journalismus ist nie objektiv, er tut nur manchmal so.“ Ein Diktum, dem man nicht leicht widersprechen kann: Schließlich beginnt die Einflussnahme keineswegs erst beim Wie einer Berichterstattung, vielmehr schon bei der Entscheidung, was überhaupt berichtenswert ist – und was nicht.
Vorzeigewerk „Palästina“. Saccos Erkundungen im Nahen Osten mündeten Anfang der 1990er in eine Serie von Comicreportagen, die später unter dem Titel „Palästina“ zusammengefasst wurden – heute ein Maßstäbe setzendes Vorzeigewerk, zur Zeit der Erstpublikation alles andere denn ein Erfolg. „,Palästina‘ besteht aus neun Kapiteln, und jedes einzelne Kapitel verkaufte sich schlechter als das vorangehende“, bekannte Sacco später. Magere erste Verkaufsbilanz: 2000 Exemplare – in den gesamten USA.
Freilich, dabei sollte es nicht bleiben. Eine freundliche Rezension in der „New York Times“, der alsbald ein American Book Award folgte – und alles war anders, der Comic im Journalismus angekommen und Sacco auf dem Weg zum international gefeierten Star. Aufenthalte im zerfallenden Jugoslawien mündeten in weitere Reportagen und brachten Sacco 2001 den Eisner Award ein. Und wenn heute einer seiner akribisch oft über Jahre erarbeiteten, monumentalen Tatsachenberichte erscheint, dann zeitgleich in mehreren Weltsprachen.
Jüngstes Beispiel: der Band „Wir gehören dem Land“, für den Sacco erstmals nicht den Kontinent wechselte, um eine der Konfliktzonen dieser Welt zu durchmessen. Diesmal begnügte er sich damit, aus seiner Heimstatt in Oregon geradewegs in den nördlichsten Norden Kanadas zu fahren, zu den Indigenen in den Northwest Territories. Der Krieg, der dort seit Jahrzehnten tobt, ist allerdings keiner, der mit Gewehren, Panzern und Raketen ausgetragen wird – die Waffen dieses Krieges entstammen dem Arsenal wirtschaftlicher und kultureller Aggression. Das Ergebnis auch hier: Gewalt, Elend, Traumata.
„Ursprünglich wollte ich ein Buch über den Klimawandel schreiben und zeichnen“, erläutert Sacco. „Ich wollte Angehörige der First Nations kennenlernen und erfahren, was mit ihnen geschehen ist. Nachdem ich ein paar Wochen dort gewesen bin, war klar, die Geschichte wird größer, wird sich mehr dem Kolonialismus widmen. Es war nicht die einfache Art von Geschichte, die ich zu finden hoffte: Angehörige der indigenen Völker versuchen, ihr Land vor denen zu schützen, die es ausbeuten wollen. Es war weitaus mehr.“
Dieses „weitaus mehr“ wird auch rasch spürbar: Sacco formt ein dicht gefügtes Mosaik aus unzähligen Gesprächen mit Mitgliedern der Dene-Völker rund um Fort Good Hope, eine von allen guten Ökologiegeistern verlassene kanadische Arktisregion, zu einer vielstimmigen Anklage gegen eine bis heute fortwirkende staatliche Machtmaschinerie, die Land und ansässige Leute in die Unterwerfung drängt.
So wie das mittlerweile vielerorts geächtete Fracking den Boden und damit die eigentliche Lebensbasis der Dene zerstört, zerstört das – ohnehin nur geringe – Einkommen, das die Erdölindustrie in ihre Taschen spült, ihr soziales Gefüge. Und eine rücksichtslose Assimilierungspolitik, die Dene-Kinder lange Jahre in weit entfernte Internate zur brutalen Umerziehung zwang, tat ein Übriges, Wurzeln zu kappen, Identität zu vernichten. Die Folgen: Alkoholmissbrauch, Deprivation, Selbsttötungen sonder Zahl.
Joe Sacco gibt jenen, die längst verstummt sind, ihre Stimme zurück: in scharfen Charakterstudien, die Gestern und Heute souverän miteinander verschränken. Keine leichte Lektüre, aber eine, die jede Mühe lohnt.
„Presse am Sonntag“, 19. Juli 2020