Ampelphilosophie: Gemma, gemma, gedankenschwer

Macht, Montaigne und eine Ampel an der Schüttelstraße.


Die tiefsten Gedanken ereilen uns bekanntlich an eher banalen Orten. Schon Montaigne soll in seinen „Essais“ einen „effet des cabinets“ beschrieben haben, was sich – ach, wie ist das Deutsche doch uncharmant! – als Klosetteffekt übersetzen ließe. In der Tat: kein zweiter Platz, an dem uns so regelmäßig die funkelndsten Visionen beikommen.

Dieser Tage widerfuhr mir solches allerdings auf offener Straße, an einer Wiener Kreuzung von mittelprächtiger Statur, da, wo die stille Friedensgasse in die tobende Schüttelstraße mündet. Die Ampel zeigte mir, der ich die Schüttelstraße queren wollte, kühl wie stets ihr flammendstes Rot, ich drückte kühl wie stets den bewussten Knopf, um mein Querensbegehren kundzutun, das „Bitte warten“ leuchtete auf, wie stets, und damit war mein kleiner elektronischer Diskurs mit der Signalanlage schon zu Ende.

Dem Herrn neben mir, dicker Pullover, Anfang 50, Wollmütze, schien diese Form von Kommunikation offenbar zu distanziert. Immer wieder sah ich ihn nach rechts oben blicken, zur Ampel, die weiterhin ziemlich unbeteiligt über der Kreuzung hing, und ich hörte, wie sich aus seinem erst unklaren Gemurmel immer drängender ein „Gemma, gemma!“, dann ein empörtes „Des gibt’s ja net!“ schälte, das in einem verärgerten „Ja, siechst du mi denn net?“ kulminierte.

Zugegeben: Mit toter Materie zu reden ist für sich noch nichts Besonderes. Jeder von uns hat schon einmal mit seinem Computer oder dem Schlagbohrer Zwiesprache gehalten, als ob sie uns verstehen könnten. Hier allerdings lagen die Dinge anders, hier gab es kein Als-ob, hier erhob sich die Kreatur, zerquält vom langen Warten in kalten Winterwinden, und schalt ein simples Composé aus Blech, Glühbirnen und Schaltkreisen wirklich und wahrhaftig ob seiner vermeintlichen Ignoranz. Und als schließlich kam, was so und so kommen musste, und ein grünes Licht uns Übergang gewährte, war da bei meinem zufälligen Begleiter nur der stille Vorwurf, dass seinem Drängen nicht eher stattgegeben worden war. Dass nicht mein Knopfdruck, sondern sein Protest solchen – wenngleich späten – Erfolg gezeitigt hatte, stand sowieso außer Debatte.

Seither plagt mich der Gedanke, wie oft ich selber schon – bildlich gesprochen – mit roten Ampeln konferiert und ihr unvermeidlich irgendwann folgendes Umschalten auf Grün irrigerweise meiner Überzeugungsmacht gutgeschrieben haben mag. Ob Montaigne mir Erleichterung schaffen kann? Oder der „effet des cabinets“?


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 21. Februar 2009

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