Ulli Lust: Zwischen Liebe und Zerstörung

Vom Leben nach dem Punk: 2009 lieferte die Weinviertlerin Ulli Lust mit einem Bericht aus Jugendtagen die Sensation der Comic-Saison. Jetzt liegt der Folgeband vor – ein Ereignis.

 

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzäh len“, dichtete einst, lang ist’s her, Matthias Claudius. Mittlerweile, zur Alltagsredensart vergröbert, hat der Satz einiges an Überzeugungskraft eingebüßt. Schließlich: Nicht jeder ist ein Matthias Claudius, und dass wir viel von einer Reise erzählen könnten, bedeutet längst noch nicht, dass wir tatsächlich dazu in der Lage sind. Jene erschöpflichen Ferienfoto-Exerzitien, denen wir uns in diesen Nach-Urlaubstagen bei Freunden, Verwandten oder womöglich im eigenen Haus unterziehen, legen regelmäßig Zeugnis davon ab.

Auch Ulli Lust, Jahrgang 1967, hat eine Reise getan, doch sie ist eine, die davon auch erzählen kann. Ihre Reise wird der Zahl zurückgelegter Kilometer nach keine Rekorde brechen, und dennoch ist es die weiteste, die unser Leben zu bieten hat: die Reise zu uns selbst. Ein gutes Stück hat sie uns nun auf dieser ihrer Reise mitgenommen, die sie hinaus aus dem dörflichen Weinviertel, hinein in die mittlerweile einigermaßen gesicherte Existenz einer renommierten Comic-Künstlerin im brodelnden Berlin geführt hat.

Von der ersten Etappe berichtete sie schon 2009, unter dem Titel „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“, damals noch beim Berliner Comic-Spezialisten Avant Verlag; mit der zweiten Etappe ist sie in dem auch jenseits des  Comic-Markts arrivierten Programm des Suhrkamp Verlags angekommen: „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“.

„Entwicklungsroman“ hätte man ihre beiden Reiseberichte in jenen Zeiten vielleicht genannt, in denen der dürre Terminus „Coming-of-Age-Story“ unsere Breiten noch nicht erreicht hatte. Denn nicht bloß um ein Alt- oder jedenfalls Älterwerden geht es, sondern eben um die damit verbundene Entwicklung. Konkret: von der 17-jährigen Punkerin, die von zu Hause ausreißt, um auf der Straße eine Freiheit zu suchen, die genau dort bestenfalls für wenige Augenblicke zu finden ist, zu der Endzwanzigerin, die, mit letzter Kraft einer fast tödlichen Amour fou entronnen, sich selbst jene Wegweisung schafft, die ihrem Dasein die bis heute richtige Richtung gibt.

Was sich in diesen rund zehn Jahren hie an Überschwang bis zum Exzess, da an Schmerz bis an den Rand völliger (Selbst-)Zerstörung zusammendrängt, trägt im Übrigen wahrlich viel Romanhaftes an sich. Dass es dennoch schlicht gelebtes Leben ist, erweist sich allein schon darin, dass ein solches  Leben im Roman, jeder gängigen Dramaturgie folgend, fraglos hätte schiefgehen müssen. Jugendliche Obdachlosigkeit, Vagabondage, Drogenmissbrauch, sexuelle Abhängigkeit: Das sind Handlungsingredienzen, die Romanpersonal üblicherweise zumindest in bleibendes Unglück stürzen, wenn nicht gar stracks auf den Friedhof bringen – und bestimmt nicht zu höchsten Ehren der internationalen Comicszene bis hin zum „Book Award“ der „Los Angeles Times“, eine einschlägige Professur an einer deutschen Hochschule inklusive.

Geläufiger Bekenntnisliteratur wiederum haben Ulli Lusts zwei autobiografischen Bände den nüchternen,  klaren Blick auf die Mitmenschen voraus – und vor allem den auf sich selbst. Nicht zu vergessen die Fähigkeit, im Guten wie im Fragwürdigen sich selbst treu zu bleiben, selbst in den schlimmsten Niederlagen nie Verräterin ihrer selbst, nie in der Pose der Klägerin, nie in jener der sich selbst Beklagenden zu sein. Ihr Rückblick ist der einer Liebenden, die mit sich ins Reine gekommen ist – und nun vom Wohl wie auch vom Weh, das sie sich und anderen getan hat, Zeugnis ablegt: aus der nötigen zeitlichen wie mentalen Distanz, ohne je distanziert zu sein, gefühlvoll jenseits jeder Sentimentalität, in einer schonungslosen Offenheit, der doch jede obsessive Selbstentblößung fremd bleibt.

Das Punkermädchen des ersten Bands findet sich im aktuellen zweiten, zur jungen Mutter herangewachsen, im Wien der frühen 1990er zwischen Kindeswohl, eigenen Unsicherheiten, die berufliche Zukunft betreffend, und partnerschaftlichen wie immer wieder sexuellen Sehnsüchten eingezwängt, in die leidenschaftliche Beziehung zu einem jungen Nigerianer verstrickt, deren Scheitern dem Außenstehenden quasi vom ersten Tag an eingeschrieben scheint.

Dem für Stunden, Tage, Wochen alles andere vergessen machenden Gleichklang im Erotischen stehen von Mal zu Mal sich mehrende Dissonanzen in Alltäglichkeiten gegenüber, nicht zuletzt solche, die kulturelle Differenz zwangsläufig mit sich bringt, namentlich, was Geschlechterrollen angeht. Differenz, die selbst unter sehr viel besseren Umständen nur bei allergrößter allseitiger Bemühung auf Dauer zu überwinden ist. Unter weniger guten füllt sie mitunter lange Boulevardzeitungsspalten, Gerichtssäle – und anschließend Gefängnisse.

Explizit bis weit über landläufige Grenzen gesellschaftskonzessionierter Scham hinaus zeichnet Ulli Lust die Gründe und die Abgründe dieser ihrer Passion nach: in dem ihr eigenen, auf wenige Striche und sparsame Farbakzente konzentrierten Stil, der das Wesentliche unmissverständlich sichtbar macht und zugleich jedem voyeuristischen Interesse die Befriedigung versagt. Und wer noch nie zu begreifen vermochte, welche Mechanismen wirken, wenn gepeinigte, gar mit dem Tod bedrohte Frauen immer wieder aufs Neue und wider besseres Wissen in die Arme ihres Peinigers zurückkehren, hier kann er es erfahren.

Acht Jahre ist es her, da war Ulli Lusts „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ international die Sensation der Comicsaison. „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ weist abermals ihren in diesen Tagen singulären Rang als Comic-Dokumentaristin nach. Schlichtweg: ein Ereignis.

„Die Presse am Sonntag“, 1. Oktober 2017

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