Monatelang haben sie unsere pu blizierte Landschaft zerklüftet: die Risse, die Spalten, die Gräben, die ein schier immerwährender Wahl kampf angeblich kreuz und quer durch die Gesellschaft geöffnet hat. Und jetzt? Was jetzt? Nachtrag eines präsumtiv Zerrissenen.
Ein Riss geht einsam durch die Welt. Es ist ein Riss, sonst nichts. In den USA trennt er Clinton-Afi cionados von Trump-Fans, Italien hat sich dieser Tage zwischen pro und kontra Renzi aufgeteilt, gar nicht zu reden von Britannien, den Älteren unter uns noch mit dem Vorsatz Groß- oder auch als Vereinigtes Königreich geläufig: Das findet sich bekanntlich seit vergangenem Frühling in Brexit-Befürworter und Brexit-Gegner entvereinigt. Der ganze Erdkreis ist außerdem längst zwischen jenen, die an den ewiglichen Apple-Fortschritt glauben, und jenen anderen zerstoben, denen ihr geliebtes Samsung-Handy in der Jackentasche explodiert. Und wenn man bedenkt, dass es uns, abgesehen von fundamentaleren Klüften wie jener zwischen Arm und Reich, ja auch noch – und nur so beispielsweise – zwischen Warm- und Kaltduschern, Salat- und Schnitzel essern, Aufzugfahrern und Stiegensteigern zersplittert, kann man sich nur wundern, dass es gesellschaftlich gesehen überhaupt noch etwas zu zerreißen gibt.
Ja, er ist da, der Riss, medial fort und fort aufgerissen. Da zerreißt es Kommunen, Länder, Völker, Gesellschaftsschichten und mutmaßlich sogar den Kosmos insgesamt, was die Zeitungsspalten und die Sendezeiten und die Einschaltquoten und die Klicks und Retweets nur so hergeben. Der Riss, die Kluft, der Spalt, der Bruch, die nur so unendlich schwer zu kitten, zu heilen, zusammenzufügen sind, so schwer wie überhaupt noch nie, so schwer, wie es auch nie wieder sein wird, sie alle sind Dauergast im global-medialen Erregungsvokabular. Was Wunder: So zerrissen, so tief zerklüftet und gespalten, so irreparabel zerbrochen waren wir ja auch überhaupt zu keiner Zeit und werden es in Ewigkeiten nicht mehr sein.
Sogar im immerdar konkordant gestimmten Österreich. Was für ein einig Volk waren wir doch, eh Müh und Plag eines – so schien es – immerwährenden Präsidentschaftswahlkampfs über unser 2016 hereinbrachen! Jetzt stehen wir da, das heißt, von einem Wir kann die Rede nicht mehr länger sein, kein Wir mehr weit und breit, nur mehr hie frustrierte Hoferianer, da triumphtrunkene Vanderbellisten. Und vor lauter Hin- und Hergereiße zwischen beiden Lagern hat es mittlerweile – so erfuhren wir kürzlich und mit Schaudern – sogar die ÖVP zerrissen, bis dato und seit Gründungstagen doch Urbild graniten-monolithischer Geschlossenheit.
Selbstredend finden sich selbst in solchen disparaten Tagen noch welche, die nicht wahrhaben wollen, was doch an aktueller Zerrissenheit nicht zu übersehen ist. Kürzlich im Radio beispielsweise, in der auffallend unauffälligen, ja fast schon aufreizend distanzierten Nachwahlbetrachtung eines Passanten. Was er denn zur Wahl sage, fragte eine Redakteurin auf der Suche nach Pointiertem frei von der Wählerleber weg. Die Antwort, kühl: Es sei halt so gekommen, wie es gekommen sei. „Und sind Sie zufrieden damit?“ – „Nein. Aber die Leute haben entschieden.“ So viel beunruhigende Passantenruhe kann nicht ohne beherzte Nachfrage bleiben: „Wie geht’s jetzt weiter?“ – „Wie’s weitergeht?“ Ein irritiertes Zögern, dann: „Ja, ganz normal.“ Wie kann man nur so ignorant gegenüber all den Gräben sein, die’s mittlerweile zuzuschütten gilt!
Die Medien, das lässt sich mit Gewissheit sagen, trifft daran keine Schuld. Was haben wir nicht alles geliefert an Schlagzeilen, an Grafiken gar, die doch so offensichtlich das Auseinanderfallen unseres Staatsgebildes uns vor Augen führen mussten? Hie blau, da grün in harter Konfrontation, als hätten Länder, Bezirke, Gemeinden jeweils komplett den einen oder den anderen gewählt. Ganz Niederösterreich, nur so beispielsweise, ist also neuerdings ganz grün, die Steiermark hinwiederum ist blau, und dass hie 49,7 Prozent Hofer-Wähler, da 47,3 Prozent Wähler Van der Bellens bei solcher Art Betrachtung im Dienst der Übersichtlichkeit unter den Grafikertisch fallen, ist schon egal.
Jeder kann ja an sich selber merken, wie es ihn neuerdings zerreißt. Ich beispielsweise habe als Wiener zu fast zwei Dritteln Van der Bellen gewählt, als Bürger des Bezirks Donaustadt noch zu knapp 58 Prozent, als Mitglied der 30- bis 59-Jährigen ist das nicht mehr ganz so klar, und als Mann schließlich bin ich zu 56 Prozent Hofer-Wähler, wogegen mich mein Optimismus wiederum zum Vanderbellisten stempelt, und das gleich zu 73 Prozent; ganz zu schweigen davon, welche wählerische Haken ich auf Ebene meines Wahlsprengels in den vergangenen Monaten geschlagen habe. Meine Frau dagegen votierte, da unstreitig weiblich, zu 62 Prozent für Van der Bellen, als Akademikerin sogar zu 83 Prozent, wohingegen sie als notorische Pessimistin zu 73 Prozent dem Hofer-Lager zuzurechnen ist. Da soll noch einer mit sich selber einig sein.
Und wenn es uns gerade nicht zerreißt, dann fallen wir aus allen Wolken. So geschehen wenige Tage vor der „Entscheidungswahl“, der „Schicksalswahl“, der „Wahl des Jahrzehnts“ et cetera et cetera, als sich die beiden Präsidentschaftskandidaten ein (vorerst?) letztes Mal zum großen „Showdown“, zum „Duell“ vor den Fernsehkameras tra fen, der oder das doch glatt und zur all gemeinsten Überraschung zum „harten Schlagabtausch“, ja gar zur „Schlammschlacht“ avancierte. Wer hätte das denn ahnen können? Wir nehmen Platz in unserem TV-Kolosseum, und, pardauz, die Gladiatoren auf den Bildschirmen prügeln tatsächlich aufeinander ein!
Da heißt’s natürlich schnell sich absentieren, angewidert sich abwenden von einer Szenerie, mit der wir Zuschauer – und also auch wir Kommentatoren – ja rein gar nichts zu schaffen haben, auch gar nichts zu schaffen haben wollen, und „unwürdig“ und „abscheulich“ sind noch die harmlosesten Invektive, ein Spektakel zu beschreiben, das wir via Einschaltquoten quasi selbst bestellt haben. Sicher, der Skandal hat uns selbstredend an der Sache überhaupt nicht interessiert, im Gegenteil, wir wollten uns streng sachlich nur ein abermalstes Male vergewissern, was wir eh schon seit Jahrzehnten wissen müssten: dass wir über genau das, was wir doch angeblich so dringend erfahren wollen, nämlich Erhellung über die Kompetenzen und Führungsqualitäten unserer politischen Eliten, in einem öffentlichen Schaukampf genauso viel erfahren werden wie in einem Schauprozess über die Wahrheit – nämlich nichts.
Was soll’s. Jetzt haben wir halt in der Hofburg den einen indiskutablen Diskutanten, der andere hat sich post Votum kurzerhand gleich selber als Hofburgkandidat in spe entriert, und dass beide an irgendeinem Abend spät im November anno 2016 schlicht „zum Politikschämen“ waren, das haben wir noch schneller vergessen als die Lottozahlen von vergangener Woche. Die Risse, die Gräben, die Klüfte, die hat es, hören wir mit Staunen, eh niemals nicht gegeben, und wo doch, werden sie eilig überdeckt. Die Erregungs karawane zieht weiter, die nächste Gelegenheit, publizistisch sich zu echauffieren, wartet anderwärts. Der frisch designierte Bundespräsident, gestern noch grantiger Untam, heute Staatsmann durch und durch, erinnert präpräsidial daran, dass man zum Walzertanzen Takt brauche. Und er hat recht: Drei Viertel machen hierzulande alles wieder gut.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 10. Dezember 2016