Wenn Penelope in den Krieg zieht

Fiktion, lebendig wie das Leben: Die Comicerzählung »Penelopes zwei Leben« erzählt von einer Ärztin zwischen Brüssel und Aleppo und vom Selbstverständnis der Geschlechter.

Das Private ist politisch. Was denn sonst, möchte man sagen, ein halbes Jahrhundert nachdem die Frauenbewegung mit diesem Satz ihren Kampf um Gleichberechtigung befeuert hat. Und wer wollte heute noch glauben, dass die Idee der Emanzipation einzig oder auch nur primär jenseits der Wohnungstür mit Leben zu erfüllen ist?

Doch was, wenn das Politische seinerseits ganz und gar ungebeten ins Private drängt? Wenn es die Wirklichkeit im ureigensten Persönlichen vor sich hertreibt? Diese Wirklichkeit nämlich, sie ist schmerzhafterweise von Natur aus sehr viel weniger klar und übersichtlich, als unsere Prinzipien sie gern hätten, nimmt selten Rücksicht auf rhetorische Kniffe und intellektuellen Schliff: Wirklichkeit ist nur allzu oft, was und wie es ist – und wo unser Wollen anderes verlangt, findet sich nicht immer ein Weg, es zu erreichen.

Nichts weniger als diese rücksichtslose Wirklichkeit steht im Mittelpunkt von Judith Vanistendaels Comicerzählung „Penelopes zwei Leben“: Es ist die Wirklichkeit einer Frau, die zwischen ihrem Dienst mitten im syrischen Krieg und ihrem europäischen Wohlstandsleben, zwischen Beruf und Familie, bedrängendem Elend und beschämendem Überfluss aufgerieben wird.

Verkehrte Odyssee. Dass Vanistendael ihre Protagonistin nach der Gemahlin des Odysseus benennt, betont noch die Grundsätzlichkeit des Geschehens und der gesellschaftlichen Veränderung, die es beschreibt: Hier und heute ist es längst auch Penelope gegeben, mitten hinein in einen Krieg zu ziehen, während der Ehemann bei Herd und Kind geduldig wartet. Und doch, so selbstständig und selbstbewusst scheint diese Penelope des dritten Jahrtausends gar nicht sein zu können, dass sie nicht doch fallweise von Schuldgefühlen geplagt würde, ihrer Rolle als Frau und Mutter nicht gerecht zu werden. Wäre einst ein Odysseus vorstellbar gewesen, den auf seinen Irrfahrten vergleichbare Gefühle geplagt hätten? Und wie regelmäßig wäre einem solchen Odysseus heute, im Zeitalter von halbe-halbe und Karenzzeit-Splitting, zu begegnen?

Penelope, Chirurgin von Beruf, versucht, im bombenzerfurchten Aleppo der 2010er zu retten, was an Menschenleben noch zu retten ist. Und dann und wann kehrt sie aus Leid und Tod zum Heimaturlaub in eine Welt zurück, der sie sich mehr und mehr entfremdet sieht: In ihre Brüsseler Normalität, die doch längst nicht mehr die ihre ist, in ein Heim, das mittlerweile ihr Mann Seite an Seite mit der gemeinsamen Tochter gehütet hat.

Gleich zu Beginn rückt Vanistendael diese beiden Welten, und was sie trennt, nebeneinander ins Bild: Hier Penelopes pubertierende Tochter, die nächtens von der ersten Regelblutung aus dem Schlaf gescheucht wird, da Penelope selbst, die in ihrem Notspital ums Leben eines Bombenopfers kämpft – und diesen Kampf verliert.

Blut und Schmerz hier wie da, doch welch ein Unterschied. Die Banalität der Einsicht, dass die Probleme, die jeder von uns gerade hat, immer die jeweils größten sind, hier steht sie, ins Äußerste getrieben, vor uns: Denn nein, das kleinere Leid wird für den, dem es widerfährt, durch ein objektiv größeres nicht ungeschehen gemacht, ja nicht einmal weniger leidvoll. Nur dem Miterlebenden und Mitleidenden stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Genau in dieser Position sieht sich Penelope zunehmend überfordert: Was soll sie auch damit anfangen, wenn ihre Tochter die Angst vor der anstehenden Lateinschularbeit oder die Sorge um den Einkauf einer neuen Winterjacke plagt, wenn sie doch in Syrien ganz andere Ängste und Sorgen kennengelernt hat? Und welch eine Mutter wäre sie andererseits, die die Nöte ihrer Tochter, und seien sie aus ihrer Sicht noch so gering und vernachlässigbar, nicht einmal mehr im Ansatz teilen könnte?

Dass Vanistendael Penelopes Brüsseler Leben in ein Ambiente voller Liebe und Verständnis bettet, macht den Konflikt, um den es ihr geht, nur umso sichtbarer – und in Wahrheit umso auswegloser: Ein treu sorgender Partner, der die Rolle des Hausmanns mit nimmermüdem Engagement erfüllt, ein gepflegtes, behagliches Heim, nicht zuletzt eine Tochter, die bei allen altersadäquaten Problemen des Heranwachsens ein weit mehr als alters adäquates Maß an Empathie ihrer Mutter gegenüber beweist. Und dennoch scheint Penelope in diesem Leben unbehaust, als sei sie längst anderweitig zugehörig.

Wie in der antiken Tragödie. Sie habe, als sie zu arbeiten begann, noch nicht gewusst, wie Penelopes Geschichte enden würde, hat Vanistendael in Interviews bekannt gegeben. Dennoch treibt die Handlung mit nachgerade schicksalhafter Konsequenz ihrem Finale zu: Jener Konsequenz, die – wie in den Tragödien der Antike – eben daraus ihre quälende Überzeugungskraft bezieht, dass das Unvermeidliche nur umso verlässlicher eintritt, je mehr seinem Eintreten entgegenzuwirken scheint. Bei all dem bleibt Vanistendael stets genaue Beobachterin ihres Personals, realistisch in detailliert ausgefeilten Szenen und Dialogen, denen auch die Komik des Alltags keineswegs fremd ist. All das in ein aquarelliertes Ungefähres getaucht, das ihre Bilderfolgen gleichermaßen so weit wie nötig konkretisiert – und sich so weit wie möglich dem Weiterspinnen des Betrachters öffnet, eindringlich, als wär’s gelebtes Leben.

Nein, Vanistendaels Penelope ist Fiktion, es hat sie so, wie sie im Buche steht, nie gegeben – und doch finden wir sie heute überall: Nicht nur in fernen Landen und im Kriegsgeschehen, vielmehr gewiss gleich nebenan, in  unserer Nachbarschaft, auf Irrfahrten zwischen althergebrachten Rollen und neuen Geschlechterselbstverständnissen. Und nicht zuletzt überall dort, wo dieser Pandemietage einschlägig längst überwunden Geglaubtes im Angesicht der Krise wieder ins Handeln drängt, als sei’s nie weg gewesen – zwischen Menschen wie auch in ihrem Inneren.

Vor allem Frauen hätten sich nach dem Ersterscheinen des Buchs im niederländischen Original, 2019, bei ihr zu Wort gemeldet, wusste Vanistendael kürzlich zu berichten. Viele davon hätten sich über Penelope, und wie sie ihr Leben gestaltet, irritiert gezeigt. Und auch sie selbst kenne keine letztgültige Antwort auf die Fragen, die uns ihre Penelope stellt. Die muss ohnehin jede und jeder für sich finden: für sich und die je eigene Wirklichkeit.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 11. April 2021

 

 

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