Das gemeinschaftliche Leben von Studenten und Obdachlosen soll ab kommenden Mai an der Währinger Straße, Wien-Alsergrund, geprobt werden: „Vinzirast-Mittendrin“ – vom Zusammenbringen und Dazugehören.
Es zischt, es pocht, es wummert, es kracht. Schlagbohrmaschinen nagen sich in jahrhundertealtes Gemäuer, im Hof wird frischer Mörtel angerührt, unter dem Dach sind die Anstreicher zugange, vor dem Haus wachen die Bauzäune. Vorbei ist es mit der Stille, die das weit in die Währinger Straße vorspringende Haus Nummer 19 jahrelang umflort hat. Bis vor Kurzem ließ sich wenigstens noch an der Fassade ablesen, was da in den Erdgeschoßauslagen einst zu sehen war: Doch auch der Schriftzug „Kinderwagen“ ist mittlerweile unter heller Tünche verschwunden.
„Das Gebäude“, erzählt Alexander Hagner, „ist jahrelang leer gestanden. Die Investoren, die sich das angeschaut haben, sind immer abgesprungen, weil hier nur Bauklasse zwei ist, und das fand jeder uninteressant.“ Bauklasse zwei bedeutet: eine maximale Gebäudehöhe von zwölf Metern. „Das war unser großes Glück“, weiß Hagner, „denn wo findet man sonst in einer Innenstadtlage einen Bauplatz, für den sich niemand interessiert.“ Wiewohl die Bezeichnung „Innenstadtlage“ nicht so ganz genau die örtliche Situierung der Liegenschaft charakterisiert: Zentrumsnah ist sie allemal und, umzingelt von etlichen Universitätsinstituten, den Campus des alten AKH im Rücken, quasi im Mittelpunkt hiesigen Wissenschafts- und Studienbetriebs.
„Man hätte das Haus auch abreißen können“, erläutert Hagner, „aber es war schnell klar, dass wir mit der Grundstruktur des Vorhandenen arbeiten können.“ Hagner ist Hälftepartner des schon mehrfach erfreulich auffällig gewordenen Architekturbüros Gaupenraub. Doch wenn er hier von „wir“ spricht, dann sind nicht er und seine Gaupenraub-Partnerin Ulrike Schartner gemeint, sondern die von Cecily Corti initiierte Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan, die er seit Gründungstagen mit planerischer Tat und fachlichem Rat unterstützt. Das Haus in der Währinger Straße 19 nämlich wird ein Projekt beherbergen, das unter der Ägide von Corti und ihren Vinzi-Mitstreitern entsteht: In der „Vinzirast-Mittendrin“ soll das gemeinsame Leben und gemeinsame Arbeiten von Studenten und Obdachlosen geprobt werden.
Und das kommt so. 2002 lernt Cecily Corti anlässlich eines Vortrags in Wien den Grazer Armenpfarrer Wolfgang Pucher kennen. Der, Mitglied der Vinzenzgemeinschaft, hat 1993 mit einem Dorf aus Baucontainern einen hierzulande neuen Zugang zum Thema Obdachlosenasyl geöffnet: Im „Vinzidorf“ geht es nicht darum, jene Menschen, die Zuflucht suchen, zu „resozialisieren“, was sich etwas weniger wolkig als „gesellschaftsfähig machen“ übersetzen ließe, hier will man vor allem deren elementare Bedürfnisse – Essen, Schlafen, Waschen, im Bedarfsfall medizinische Versorgung – befriedigen, ohne diesen Dienst am Nächsten gleich mit einer Art Zurichtungsabsicht zu verbinden.
Puchers Ideen folgend, begibt sich Corti, bis dahin in keiner Weise mit dem Thema Obdachlosigkeit befasst, auf die Suche. Ein erster Versuch, die Dorfidee auch in Wien umzusetzen, scheitert am Widerstand von Anrainern, doch die namhafte Spende eines Unternehmers, der das Glück, das er in seinem Erwerbsleben gehabt hat, jetzt, in seiner Pension, teilen will, schafft die finanzielle Basis für den Ankauf eines Gründerzeithauses in der Meidlinger Wilhelmstraße, in dessen Erdgeschoß zügig die Produktion von Pizzateig einer Notschlafstelle weicht. Die „Vinzirast“ ist geboren.
2008 schließlich kann Cortis Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan die Substandardquartiere in den Stockwerken darüber zu Übergangswohnungen ausbauen, in denen ab da Wohnungslose erste Schritte zurück in ein geregeltes Leben tun. Und diesmal ist es der Bauindustrielle Hans Peter Haselsteiner, der dem Vorhaben nicht nur ideell, sondern vor allem mit den erforderlichen finanziellen Mitteln zur Seite steht. Es spricht für sich und für die gute Gesprächsbasis zwischen Haselsteiner und den Wiener Vinzi-Aktivisten, dass Haselsteiner Monate später bei Corti Rat sucht, als sich eine Studentengruppe mit einer einigermaßen ungewöhnlichen Idee an ihn wendet. Die ist im Zuge der Proteste gegen Studienbeschränkungen, landesweit bekannt unter dem Signet „Uni brennt“, im Spätherbst 2009 mit Obdachlosen in Kontakt gekommen, die in besetzten Hörsälen temporär Quartier nahmen und sich nebstbei nützlich machten. „Da ging es darum, schmutziges Geschirr wegzubringen, abzuwaschen, Kaffee auszuteilen, Matratzen herzuräumen, Matratzen wegzuräumen, Gelegenheitsarbeiten eben“, weiß Cecily Corti. „Daraus wollte diese Gruppe ein Projekt entwickeln: Wir bieten Obdachlosen gratis Beratung, und dafür leisten die uns gratis Arbeit, beispielsweise in Form von Putzen. Zufällig kamen sie an dem Haus in der Währinger Straße vorbei, haben gesehen, dass das leer steht. Und da haben sie, wunderbar wahnsinnig, wie Studierende halt manchmal sind, gedacht: Fragen wir den Haselsteiner, vielleicht kauft er uns das.“
Haselsteiner seinerseits, keineswegs einschlägigen Engagements, jedoch einschlägiger Expertise bar, erkundigt sich dort, wo er Expertise vermuten darf: bei Cecily Corti. „Ich hab gesagt: Ja, eine interessante Idee, aber ein bisschen naiv; aus unserer Erfahrung wissen wir beispielsweise, dass man Obdachlose zu Kontinuität und Verantwortung erst langsam hinführen muss.“ Corti und ihre Mitstreiter setzen sich mit den Studenten in Verbindung, gemeinschaftlich feilt man an einem Konzept, das allzu hochfliegenden Idealismus im Boden mehrjähriger Sozialarbeitspraxis verankert. Einer der wichtigeren Punkt, die man in das Studentenkonzept einbringt: dass das Haus nicht einzig von Förderungen leben kann. „Nach Vorstellung der Studenten sollte in dem Haus nur beraten und gearbeitet werden“, erinnert sich Cortis Geschäftsleiter, Christian Spiegelfeld. „Wir aber wussten, es muss da auch eine Wohnsituation sein, aus der wir Mieten generieren, damit das Haus ein Grundeinkommen hat.“
Mittlerweile hat das Vorhaben längst nicht nur auf dem Papier, sondern auch räumlich Kontur gewonnen. Im Haus Währinger Straße 19, mit Haselsteiners Unterstützung angekauft, sind die gröbsten Baumaßnahmen so gut wie abgeschlossen, jetzt steht die innere Feinarbeit auf dem Programm. „Das ist frisch gelegt, bitte nicht draufsteigen!“ Die Intervention des Fliesenlegers kommt fast zu spät, als wir einen gekachelten Treppenabsatz queren. „Hab ich etwas kaputt gemacht?“ Cecily Corti blickt geknickt, doch der Fliesenleger winkt ab: Gerade noch einmal gut gegangen.
Wir wechseln in den zweiten Stiegenaufgang, der uns bis unters Dach führt, vorbei an den zehn WGs mit insgesamt 27 Wohnplätzen, die gleichsam das Herzstück der „Vinzirast-Mittendrin“ bilden. „Für die studentischen Bewohner wird es ein Auswahlverfahren geben“, erläutert Cecily Corti, „da sind wir gerade dabei, das zu definieren. Und bei den Obdachlosen haben wir schon angefangen zu überlegen, wer dafür infrage kommt aus dem Umfeld, das wir kennen. Das sind Menschen, die eine gewisse Hilfe brauchen, weil sie längere Zeit wohnungslos waren oder weil sie ein großes Alkoholproblem hatten.“ Ziel sei freilich auch hier „nicht Integration im üblichen Sinn oder Resozialisierung“: „Das wollen wir offenlassen. Jeder Mensch entwickelt das, was er zu entwickeln imstande ist. Aber die Unterstützung wollen wir geben, dass er an sein Potenzial so weit wie möglich herankommt und nicht ewig den Stempel hat, eine Belastung für die Gesellschaft zu sein.“ Rund 300 Euro Miete pro WG-Zimmer sind zu bezahlen. „Das ist“, meint Christian Spiegelfeld, „für Studenten nach unseren Recherchen ein sehr günstiger Preis, für die Obdachlosen dagegen nicht, aber es ist uns wichtig, dass die Miete für beide Gruppen gleich hoch ist, damit wir nicht schon da eine Abstufung haben.“
Den erwünschten Begegnungsfluss sollen die Gemeinschaftsküchen in jeder Etage befördern. Oder das Lokal im Erdgeschoß, das, öffentlich zugänglich, auch der Klientel des Umfelds „gutes, günstiges Essen“ – so Cecily Corti – bieten soll. Im großen Veranstaltungsraum des Souterrains sind zudem Diskussionen, Vorträge, Lesungen, Filmvorführungen, kurz Austauschaktivitäten aller Art geplant. Mit den hauseigenen Werkstätten wiederum will man den Obdachlosen ein Hineinwachsen in die Gemeinschaft erleichtern. „Das ist der schwierige Punkt“, weiß Cecily Corti, „dieses Miteinander so zu gestalten, dass die Obdachlosen Anerkennung finden, Freude finden, dass sie Arbeit haben, dass sie Verantwortung übernehmen – begleitet von unseren Ehrenamtlichen. Da geht es nicht darum zu kontrollieren, ob sie ihre Arbeit genau und in der Zeit erledigen, sondern um die Klarheit einer Struktur, die Halt gibt.“
Von all dem wird man sich allerdings ein noch viel besseres Bild machen können, wenn erst der letzte Estrich getrocknet, die letzte alte Tür neu lackiert, der letzte Boden geschliffen ist. Und wenn es gelungen ist, Unterstützer für all die schönen Einrichtungsdinge zu finden, an denen es noch fehlt. Als da derzeit wären: 30 Kleiderschränke und 30 Tische für die Zimmer, 70 Stapelsessel für den Veranstaltungsraum, Innenhandläufe, Feuerlöscher und so weiter und so fort kreuz und quer durch den Interieurbedarf. „Können Sie vielleicht unauffällig unterbringen, dass noch Sponsorengelder notwendig sind?“, fragt Cecily Corti vorsichtig an. Aber gern, schon geschehen.
„Das Projekt ist von Anfang an ein einziger Glücksfall gewesen.“ Alexander Hagner steht zufrieden im Erdgeschoß, dort wo sich dereinst zwischen Tischen und Sesseln, Gläsern und Tellern Begegnung ereignen soll. Und: „Für uns gehören obdachlose Menschen nicht irgendwie raus aus der Gesellschaft, sie gehören dazu. Und dieses Dazugehören, das ist das, was hier städtebaulich, architektonisch transportiert werden soll.“ Dass eine schief geratene Dachrinne an der Fassade seine Architektenseele kränkt, wird er sicher bald vergessen haben. Und übrigens: Im Leben geht – wir wissen es – ja auch nicht alles grad.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 9. März 2013