Retzbach: Die letzte Reise des Aladár Weisz

Der vergessene Tote von Mitterretzbach – und wie er 60 Jahre nach seinem Tod auf dem Wiener Zentralfriedhof die letzte Ruhe fand. Über ein Grab ohne Grabstein – und Grabsteine ohne Grab.


Ein leises Knirschen. Der Baggerlöffel stößt gut einen Meter unter der Erdoberfläche im weichen Lehmboden auf Widerstand. Ein Ruck noch, dann ahnt man, worin sich die Baumaschine verbissen hat: Eine Schädeldecke kommt ans Licht, ein Grabzahn hat sich durch die Knochen des Gesichts gebohrt. Lautes Rufen. Der Arbeiter hinter der Steuerung hält inne. Der vergessene Tote von Mitterretzbach ist gefunden.

Begonnen hat alles im vergangenen Frühling. Nachforschungen zu einem Fall von willkürlicher Wehrmachtsjustiz fördern nicht nur Informationen zu jenen vermeintlichen oder tatsächlichen Deserteuren zutage, die in den niederösterreichischen Grenzdörfern Mitter- und Oberretzbach von der Feldgendarmerie verhaftet und buchstäblich bis in die letzten Stunden vor der Kapitulation hingerichtet wurden, sondern auch über ein bis dahin so gut wie unbekanntes Lager jüdischer Zwangsarbeiter aus Ungarn, die am selben Ort ab Sommer 1944 Frondienste leisten mussten („Spectrum“ vom 30. April 2005) – und die Erkenntnis, dass außerhalb des mittlerweile nicht mehr belegten alten Friedhofs von Mitterretzbach noch immer einer dieser Zwangsarbeiter verscharrt liegt: Dr. Aladar Weisz, hier 74-jährig an Mangelernährung, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit oder eben, wie das Sterbebuch vermerkt, an „Arterienverkalkung“ und „Herzmuskelentartung“ zugrunde gegangen.

Ein Lokalaugenschein weist die vermutete Grabstelle als Gstätten aus, überwuchert von Holunder, Abladeplatz für Kerzenhüllen und sonstige Friedhofsreste, die den kürzesten Weg der Entsorgung, den über die Friedhofsmauer, gegangen sind. Der Holzpflock, der einst das Grab markierte, ist längst verschwunden, das Grab selbst nur mehr im Gedächtnis von einer Handvoll Zeitzeugen existent. Ein Zustand, der mit „unwürdig“ nur unzureichend beschrieben ist, was auch der Retzbacher Bürgermeister nicht bestreitet: Manfred Nigl, Jahrgang 1962 und glaubhaft bis dahin ahnungslos, sichert seine Unterstützung zu.


Herbert W. liest: „Vor der Reise ins Ungewisse, ins Furchtbare, und weil ich auf kein Wiedersehen mit all meinen Lieben hoffe, nehme ich heute von euch Abschied.“ Es ist der letzte Brief, den W.s Tante an ihren Bruder, seinen Vater, richtet – im September 1942, unmittelbar vor ihrer Deportation nach Theresienstadt. W.s Tante wird nicht überleben. Herbert W. selbst, Wiener des Jahrgangs 1925 und aufgewachsen in Baden, weiß bis 1938 nicht, dass sein Vater Jude ist. Eines März-Tages nach dem „Anschluss“ wird W. in die letzte Schulbank verwiesen, schließlich aus der Schule entfernt: für Zigtausende andere in jenen Tagen der Beginn einer Reise in den Untergang. Nicht für Herbert W.: Er übersteht mit Geschick, Selbstbewusstsein und immer wieder Glück, als „Halbjude“ gebrandmarkt, alles, woran so viele andere zerbrechen; und auch sein Vater überlebt, geschützt durch die Ehe mit einer „Arierin“, die sämtliche Bemühungen ihrer sogenannt christlichen Verwandtschaft, ihr eine Scheidung aufzuschwatzen, an sich abprallen lässt.

Als W. im „Spectrum“ vom Fall des toten Zwangsarbeiters an der Mitterretzbacher Friedhofsmauer liest, greift er zum Telefon: „Wenn einer so herausgekommen ist aus der ganzen Geschichte wie ich, ist es doch logisch, dass ich reagieren muss“, sagt er und bietet finanzielle Unterstützung zur Errichtung eines Grabmals für Aladar Weisz an. Und kann es, als wir einander Wochen später begegnen, gar nicht glauben, dass er mit diesem Angebot der Einzige geblieben ist.


Zunächst einmal“, erläutert Avshalom Hodik, „ist das ein rein menschliches Problem: Ein zufällig auf einem Acker bestehendes Grab, das die Nazi-Schergen selbst geschaufelt haben oder durch die Häftlinge haben schaufeln lassen, ist kein ordentlicher Begräbnisort, wie wir es uns als zivilisierte Menschen vorstellen. Es besteht also die Notwendigkeit, diese Leute aus den zufälligen Gräbern, die ihnen da in der Nazi-Zeit zugedacht wurden, zu exhumieren und einem ordentlichen Begräbnis zuzuführen. Darüber hinaus gibt es natürlich in den jüdisch-rechtlichen Bestimmungen sehr wohl die Vorschrift, dass, wenn möglich, jeder jüdische Verstorbene auf einem jüdischen Friedhof beerdigt werden soll.“ Wie viele solcher Umbettungen Hodik im Lauf der vergangenen 20 Jahre betreut hat, weiß er nicht mehr genau, er weiß nur, dass diese Arbeit seine gesamte Amtszeit als Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien begleitet hat: seien es die Exhumierungen der Massengräber ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter im oberösterreichischen Gunskirchen oder bei der Zuckerfabrik von Siegendorf, in Güssing oder Heiligenbrunn. Und nur einmal, ein einziges Mal, sei er in all den Jahren gefragt worden, ob es denn nicht an der Zeit sei, diese Arbeit einzustellen: „Da habe ich schon mit Nachdruck deponiert, dass die Sache aus unserer Warte nie eingestellt werden kann.“

So etwas wie im Fall des Aladar Weisz ist ihm freilich bis dahin noch nicht untergekommen: dass der Tod eines jüdischen Zwangsarbeiters im amtszuständigen Sterbebuch registriert ist. Nach allen Regeln der Kanzlistenkunst. Mit Geburtsort („Veszprem, Ungarn“), Geburtsdatum („27. 9. 1869“), Beruf („Königl. ung. Kurialrichter“) – und auch Religion: „r. k., früher mosaisch“.


Eigentlich hätte der tote Zwangsarbeiter ja auf dem Friedhof begraben werden sollen, erinnert sich Erich Landsteiner, Weinhauer zu Oberretzbach, an die Märztage des Jahres 1945, denn: „Er war ja katholisch.“ Aber seine Leidensgenossen hätten auf einer Bestattung außerhalb des Friedhofs bestanden. Warum, darüber kann nur spekuliert werden. Gut vorstellbar, dass Aladar Weisz und jenen, die um ihn Frondienst leisten mussten, die, eingepfercht in den Keller eines Rohbaus, schlicht verhungert wären, hätte da nicht immer wieder einer der Ortsansässigen mit Rüben oder einer Handvoll Kartoffeln ausgeholfen, gut möglich, dass diesen Menschen die Meriten des Christentums nach den Erfahrungen, die sie in den vergangenen Monaten gemacht hatten, nicht mehr so überzeugend schienen, dass sie einen der Ihren – sei er nun irgendwann getauft worden oder auch nicht – gern neben Christen zur letzten Ruhe gebettet sehen wollten.

Dennoch: Was sie tatsächlich bewegt hat, werden wir nie erfahren. Ihre Spuren verlieren sich in den Wirren der letzten Kriegstage.


Ein regnerischer Herbstvormittag. Auf dem Acker hinter dem alten Friedhof von Mitterretzbach hat sich eine kleine Gruppe versammelt: Avshalom Hodik ist da und Josef Kohut, Verwalter der jüdischen Abteilung am Wiener Zentralfriedhof, dazu zwei seiner Totengräber, Erich Landsteiner und ein Arbeiter, der den Retzbacher Gemeindebagger bedient. Landsteiners Erinnerung ist präzise: Schon die zweite Stichgrabung führt zum Erfolg. Knochen für Knochen wird aus dem Lehm geholt, in eine mitgebrachte, sorgfältig gezimmerte Kiste gefüllt. Immer wieder greift Josef Kohut ein, ordnet die Überreste neu, bettet den Schädel auf ein Häufchen der umgebenden Erde, behutsam, als sollte ihm wenigstens jetzt kein Leid mehr geschehen.

Es ist nicht viel, was von einem Menschen nach 60 Jahren übrig bleibt, da soll wenigstens die Würde nicht genommen sein. Keine zwei Stunden, nachdem der Baggerlöffel das erste Stück Erde aufgerissen hat, ist der getaufte Jude Aladar Weisz geborgen und verpackt, bereit für seine letzte Reise: die auf den Wiener Zentralfriedhof.


Was ist Judentum? Eine Religion? Eine Volksgemeinschaft? Was bedeutet Judentum im Fall Weisz, des Katholiken, den die Nürnberger Rassengesetze zum Juden machten und die Realitäten der Nachkriegswelt wieder zum Konvertiten? Avshalom Hodik antwortet: „Jude zu sein ist durch eine dreifache Zugehörigkeit gekennzeichnet: die Zugehörigkeit zum Volke Israel, die Bindung an das Land Israel und dann auch durch die Bindung an die jüdische Lehre.“

Konkret: „Alad´ar Weisz ist aus dem jüdischen Volke erwachsen, hat aber den Dokumenten nach von sich aus das Bekenntnis gewechselt – und keine Religion ist sehr froh, wenn Angehörige das Lager wechseln; aber das sind historische Erscheinungen, die mit den Assimilationsbestrebungen nach der Aufklärung in Verbindung standen, das ist zur Kenntnis zu nehmen.“

Im Übrigen gebe es da in der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs seit Nazi-Tagen eine ganz besondere Parzelle: „In diesem Bereich mussten damals sogenannte nichtarische Christen auf Befehl der Behörden begraben werden, weil sie keinen Platz gefunden haben auf irgendeinem anderen Friedhof.“ Heute habe man, nebenbei bemerkt, bezüglich der Erhaltung dieser Gruppe das beste Einvernehmen mit der katholischen Kirche.

Hier wird Aladar Weisz zwei Tage nach seiner Exhumierung zur letzten Ruhe gebettet: Gruppe 19K, Reihe 38, zwischen „Josef Löffler 1859–1943“ und „Marie Riedel, gest. am 20. 2. 1943“. Ein Kantor singt Psalmen, auch die zehn Trauernden sind zugegen, die zu jedem ordnungsgemäß jüdischen Begräbnis gehören. Nur am Ende das Totengebet bleibt ungesprochen. Ein Kompromiss – wie viele der Grabsteine rundum mit ihren zugleich jüdischen wie christlichen Symbolen. Ein Gott, wenn es denn einen gibt, wird’s nachsehen.


Kein Grab und keinen Grabstein hat die Mehrzahl jener Holocaust-Opfer, denen Elisabeth Ben David-Hindler mit ihrer „Straße der Erinnerung“ ein Andenken verschaffen will. Die Neugestaltung des Leopoldstädter Volkertplatzes hat sie zum Anlass genommen, die Einrichtung einer Gedenkstätte für ehemalige jüdische Einwohner des umgebenden Viertels zu initiieren – ins Pflaster eingelassene Steine, in deren Messingoberseite Namen und Lebensdaten, soweit bekannt, graviert sind. 84 solcher Steine sind in den vergangenen Wochen montiert worden, 84 Nachrichten vom Tod, stellvertretend für die 1504 jüdischen Männer und Frauen und die 81 Kinder, die allein von diesem kleinen Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks aus den Gang in die Vernichtungslager antraten. Herstellungskosten pro Stück: 95 Euro, vom ersten bis zum letzten Stein durch Patenschaften privat finanziert.

Am 6. November um 11 Uhr wird die kleine Anlage eingeweiht: mit einer Lesung von Otto Tausig, mit Liedern von Scholem Alejchem und mit der Rede einer ehemaligen Einwohnerin des Viertels, Judith Pollak, die aus Israel anreist, um sich und andere zu erinnern: an ihre Kindheit in der Fugbachgasse 7, an den „Anschluss“, an den 10. November 1938, die „Reichspogromnacht“, und an ihre christlichen Nachbarn, die sie vor Schlimmerem bewahrten. Auch das eine Wahrheit aus jener Zeit. Eine von vielen.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 5. November 2005

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