Graphic Novels, so weiblich wie noch nie

Männersache Comic? Das war einmal. Frauen und Frauenthemen dominieren die Verlagskataloge. Neue Graphic Novels über den Kampf um Gleichberechtigung und die Heldinnen des Alltags.

Haben Sie je von einer gewis sen Olive Oyl gehört? Nein? Macht nichts. Aber Popeye the Sailor, den kennen Sie, oder? Was Wunder, das Muskelmännchen mit dem penetranten Faible für Dosenspinat hat ja nicht zuletzt Comicstrips und Trickfilmen den Titel gegeben, eine Ehre, die seiner Partnerin, eben jener Olive Oyl, nie zuteil wurde. Und das, obwohl sie die älteren Rechte darauf gehabt hätte: Schon zehn Jahre lang war sie im Mittelpunkt von Elzie Segars Comicserie „Thimble Theatre“ gestanden, ehe 1929, ursprünglich als Randfigur, ein Seemann mit Ankertätowierung auf dem Unterarm Segars Panels betrat. Der Rest (siehe oben) ist bekannt – und passt quasi als Comic-Randkapitel bestens zu jener „Verlorenen Geschichte der Frau“, der die Emanzipationsvorkämpferin Hilde Schmölzer, 30 Jahre ist es her, die gebührende publizistische Wiederentdeckung zu verschaffen suchte.

Ja, kein Zweifel: Auch der Comic ist von allem Anfang an Männersache, einerseits, was die Gestaltung betrifft, und gleichermaßen in Hinsicht darauf, wer da in den Mittelpunkt gerückt wird. Titelgebend oder Protagonist zu sein ist männlichem Personal vorbehalten, und wenn da einmal eine Frau ins Zentrum der Handlung gerät, dann als stereotypes Dummerchen (Blondie) oder als zur Superheldin hochgepushtes Pin-up-Girl (Wonder Woman und Co.), abseits aller Wunderkräfte vor allem dazu da, verschwitzte Männerträume zu befriedigen.

In den Underground gedrängt. Bis weit ins 20. Jahrhundert finden sich Zeichnerinnen wie Frauenthemen in Nischen und Underground-Reservate zurückgedrängt; ja selbst als Ende der 1960er-Jahre mit der im Vorjahr verstorbenen Claire Bretécher weibliche Positionen im Comic-Mainstream ankommen, bleibt das vorerst ohne erkennbare Folgen. Kaum zu glauben angesichts der Szenerie, wie sie sich heute präsentiert: Wer dieser Tage durch das aktuelle Angebot einschlägiger Verlage blättert, könnte leicht den Eindruck gewinnen, insbesondere das ästhetisch besonders herausfordernde Metier der Graphic Novel sei seit je eine zutiefst weibliche Domäne – und dass ein Mann, der US-Amerikaner Will Eisner (1917-2005), als sein Begründer gilt, nur ein Irrtum der Comicgeschichte.

Im einfachsten Fall zeigt sich das am gewählten Gegenstand: So sind jüngst in dichter Folge biografische Skizzen zu längst in einschlägiger Sache gern zitierten Größen wie Virginia Woolf (bei Knesebeck) oder Marlene Dietrich (gleichfalls bei Knesebeck) erschienen. Nebstbei freilich auch zur weniger bekannten französischen Architektin Charlotte Perriand – und wie sie sich von ihrem ästhetischen Ziehvater Le Corbusier freikämpfte (bei Reprodukt). Oder zur Barockdichterin Sybilla Schwarz (detto bei Reprodukt), die in den kaum 17 Jahren ihres Lebens mehr als 100 Gedichte verfasste, nicht zuletzt jenen „Gesang wider den Neid“, der seitens der Literaturwissenschaft im Ruf steht, möglicherweise das „erste kompromisslos feministische Gedicht der Weltliteratur“ zu sein.

In dieses, das biografische Segment fällt auch, was Valentina Grande und Eva Rossetti über „Frauen, die die Kunst revolutioniert haben“, berichten. Etwa über Judy Chicago und ihre Installation „The Dinner Party“, die in den 1970ern die Kunstwelt in Aufregung versetzte: 39 Tischgedecke, gestaltet in Anspielung auf 39 Frauenfiguren aus Mythologie und Geschichte – und allesamt als ästhetische Paraphrasen jenes weiblichen Körperteils konzipiert, den man im Deutschen schamhaft Scham nennt, als gäb’s daran irgendetwas zu schämen. Bezeichnend genug, dass nämliches Sujet, von der Schwedin Liv Strömquist zum Gegenstand einer Comic-Kulturgeschichte gemacht, noch in den 2010ern – und also 40 Jahre nach Judy Chicago – vielfach Irritationen auszulösen vermochte.

Nun ist es eins, am Beispiel fremder Leben dem Weiblichen jene Geschlechtergerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihr so lang vorenthalten wurde, etwas ganz anderes, dasselbe am Beispiel eigener Familiengeschichte zu versuchen. Die deutsche Illustratorin Bianca Schaalburg etwa, Jahrgang 1968, hat sich in ihrem Band „Der Duft der Kiefern“ ganz und gar auf die Geschichte ihrer Mutter konzentriert, und dass dazu unvermeidlich die später hin familienintern über Jahrzehnte weggeschwiegene Nazi-Vergangenheit des Großvaters gehört, versteht sich von selbst.

Schaalburg belässt es allerdings nicht dabei, die Ergebnisse ihrer Spurensuche vorzustellen, immer wieder ist es die Suche selbst, die sie ins Bild rückt. So gelingt ihr in gedeckten Farben und stilisierten Strichen das sensible wie gleichermaßen ungeschönte Porträt einer Berliner Vorstadtfamilie im Wandel der Zeiten, ein Porträt, das nicht zuletzt sichtbar macht, was in hochmoralischen Zeiten wie den gegenwärtigen des Öfteren übersehen wird: wie schmal der Grat ist, der ein schicksalhaftes Sich-dreinfügen-Müssen davon trennt, nur allzu willig zum Nutznießer fragwürdiger Verhältnisse zu werden.

Von der Wechselwirkung zwischen Politischem und Privatem erzählt auch der Band „Bei mir, bei dir“, wenngleich ganz und gar aufs Jetzt fokussiert. Sein Gegenstand: die reale Begegnung zweier durchaus unterschiedlicher Frauen, die eine, Maeva Rubli, Comicautorin aus dem Westschweizer Städtchen Delémont, die andere, Anisa Alrefaei Roomieh, aus Syrien gebürtig und mittlerweile durch den Krieg in ihrem Heimatland in ebendiesem Delémont gestrandet.

Leben in der Fremde. Rubli fängt den Bericht ihres Visavis über Vertreibung, Not und eine nunmehr prekäre Randgruppenexistenz in prägnanten Sätzen und nicht weniger prägnanten, farbstarken Zeichnungen ein, die ihrerseits jede für sich je eine komplette Doppelseite füllen und doch die Welt stets nur ausschnittsweise zeigen: als sähen wir, was sie und wie sie es sieht, nun unsererseits mit ihren Augen. So werden wir quasi selbst zum unmittelbaren Adressaten dessen, was Roomieh erzählt, stehen quasi selbst vor ihr und bleiben doch stets eingedenk, dass ihre Geschichte nur eine von vielen ist. Ein ins Bild gesetzter Verweis auf die Subjektivität des Gezeigten, wie man sich ihn auch anderweitig auf dem heiklen Terrain rund um Migration und Integration wünschen würde, wo anderweitig so oft – und auf allen politischen Seiten – das Besondere fürs Allgemeine herhalten muss.

Gleichfalls eine Begegnung, wenngleich eine ganz anderer Art hat die Belgierin Alix Garin, Jahrgang 1997, in den Mittelpunkt ihres Bandes „Vergiss mich nicht“ gerückt: die Begegnung zweier Generationen nämlich. Garin erzählt, aus eigenen Erfahrungen schöpfend, von der jungen Clémence und wie sie, halb gewollt, halb ungewollt, mit ihrer demenzkranken Großmutter zu einer letzten gemeinsamen Reise ans Meer aufbricht.

Was leicht ins verlogen Sentimentale abgleiten könnte, hält Garin beständig in der Schwebe zwischen Lachen, Lächeln und unverhohlener Verzweiflung, gespeist zu guten Teilen aus der präzisen Fassung dessen, was sich hinter dem Schlagwort Alzheimer im Alltag der Betroffenen und ihrer Angehörigen tatsächlich verbirgt; andererseits dokumentiert sich in den Ein- wie Missverständnissen, die Garin immer wieder zwischen ihren Protagonistinnen aufblitzen lässt, nur allzu deutlich, worin sich Frausein in den 50, 60 Jahren, die beide trennen mag, geändert hat – und worin eben nicht. Ein anrührender Roadtrip, fein ziseliert in Handlung wie in Illustration.

Ganz so zwischentönig geht’s bei Mia Oberländer nicht zu: „Anna“ hat die Studentin ihre Bachelorarbeit im Fach „Grafisches Erzählen“ betitelt, und dass sie mit ihren ins Surreale getriebenen, knallbunten Panels nicht nur an ihrer Ausbildungsstätte, der Hochschule für angewandte Wissenschaften zu Hamburg, überzeugte, sondern zugleich einen einschlägig renommierten Verlag, die Edition Moderne, fand, spricht für sich und die Kraft ihrer Imagination. Der Kampf dreier Frauengenerationen gegen das gesellschaftlich Normierte, zur Groteske sublimiert: So fröhlich kann weibliche Widerständigkeit sein.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 14. November 2021

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