Pisa und die Folgen: Was wir noch lernen müssen

Eigentlich haben wir gute Lehrer, aber ihre Ausbildung . . . Eigentlich haben wir guten Unterricht, aber die Lehrpläne . . . Eigentlich geben wir viel Geld für Bildung aus, aber die Klassenschülerzahlen . . . Eigentlich ist alles bestens, aber besser wär, wenn’s anders wär. Zum Schulschluss: eine Exkursion an der Bildungsbasis.


Dieser Geruch von alten Schlapfen und Kreidestaub, verschwitzter Halbwüchsigensehnsucht und Wimmerl-Rebellion. Und immer wieder diese Angst. Die Angst, erwischt zu werden, wenn man wieder einmal in der Pause hastig die Mathematikhausübung abschrieb. Die Angst, die Lateinlehrerin könnte dahinterkommen, dass man weder das in der Schule durchgenommene noch das zur selbstständigen Übersetzung aufgetragene Stück Cäsar, Sallust, Cicero, Tacitus auch nur eines Blicks gewürdigt hatte. Die Angst, der nächste Vokabeltest müsse unvermeidlich den Nachweis eigener mangelhafter Englischkenntnisse erbringen. Und die inständige Hoffnung, die kommende Französischschularbeit werde – wie alle bisherigen – bequem aus dem Lehrbuch abschreibend zu bewältigen sein.

Nein, ich war kein guter Schüler. Ich habe gelogen und betrogen, dass sich die Schulbänke bogen. Wenigstens die Hälfte meiner Schulstunden sahen mich möglichst unauffällig im Klassenraum sitzen und die Zeit verrinnen lassen, bis dass der Pausengong mich erlösen würde.

Dennoch: Nein, ich war auch kein schlechter Schüler. Das Durchwursteln von Klasse zu Klasse, hinauf bis zur Matura und hinein zur Studienberechtigung ging sich allemal auch auf meinem Weg, dem des geringsten Widerstands und des geringsten Aufwands, reichlich kommod aus.

Die rechte Vorbereitung auf den vielbemühten „Ernst des Lebens“? Vielleicht; mit Freude, Lust, Vergnügen hatte das Ganze jedenfalls in den seltensten Fällen zu tun.


„Sind deutsche Schüler doof?“, fragte der „Spiegel“ vergangenen Dezember bang. In der Tat: Die Ergebnisse der OECD-weit durchgeführten „Pisa“-Studie (Programme for International Student Assessment) waren durchaus dazu angetan, ein Volk, das sich gern für eines der Dichter und Denker hält, an solchem Selbstbild zweifeln zu lassen. Da werden in 31 Staaten der Welt 265.000 Schüler im Alter von 15, 16 Jahren getestet, und der deutsche Nachwuchs kommt weder im Lesen noch in Mathematik oder in den Naturwissenschaften über Rang 20 hinaus – das musste für, nun, sagen wir, Irritationen sorgen, zumal man sich in diesem Ranking plötzlich traut vereint mit Ländern fand, deren Bildungssystem man bis dato allenfalls mild belächelt hatte – jenen aus dem ach so schlampigen Süden und aus dem angeblich nicht minder rückständigen Osten Europas.

Während mittlerweile bei unserem Nachbarn im Nordwesten nahezu kein Tag vergeht, an dem nicht neue schaurige Details der „Bildungskatastrophe“ an die Öffentlichkeit dringen, als sei mit einem „Pisa“-Schlag ganz Deutschland in kollektiver Umnachtung versunken, sonnt man sich hierzulande noch immer wohlig im Glanz eines „Pisa“-Rangs im oberen Drittel. Wen stört es schon, dass es einer am untersten Ende desselben ist, so um Platz zehn herum. Hurtig wusste auch Bildungsministerin Elisabeth Gehrer die „lieben Schülerinnen und Schüler“ und ihre „lieben Lehrerinnen und Lehrer“ der frohen Botschaft teilhaftig werden zu lassen, dass „Österreichs Schulen zu den besten Europas gehören“.

Günter Haider, Leiter des heimischen „Pisa“-Projektzentrums, sieht die Dinge ein wenig differenzierter: „Wir geben im weltweiten Vergleich viel Geld für Bildung aus, wir sind Weltmeister im Schulsitzen, wir haben den großen Vorteil, ein sehr homogenes Staatsgebilde zu sein, wir haben keine Gebiete in Städten, wo keiner mehr hingeht, wie in Amerika, 75 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur Mittelschicht, kurz: Wir müssten eigentlich viel besser abschneiden, um mindestens fünf Plätze weiter oben sein.“

Was niemanden hierzulande sonderlich zu grämen scheint. Günter Haider: „In Deutschland drüben haben sie im Augenblick die Not. Dort ist Bildung das Thema Nummer eins, da gehen 40.000 Leute auf die Straße für Bildung. Und es sind plötzlich Reformen möglich, die bis vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wären. Bei uns gibt’s in Wahrheit einen ähnlich hohen Reformbedarf, aber es gibt keinen Druck – wir sind eh Zehnter, was wollen Sie?“


„Alle sind still. Wir lesen still. Wir rechnen still. Wir malen still.“ Die ganze 1B einer Volksschule in Wien-Kagran: ein einziges Meer der Stille. Wenn man einem Schulheft aus den frühen Sechzigerjahren Glauben schenken darf.

Man darf. Helmut Jantschitsch, heute Lehrervertreter in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD), erinnert sich an ähnliche Gegebenheiten: „Man muss sich nur überlegen, wie die Rahmenbedingungen früher waren: kinderreiche Familien, sehr autoritäre Erziehung, die g’sunde Watschen, eine repressive Situation. Da ist es kein Problem, meinetwegen 40 Schüler mit einem Frontalvortrag zu bedienen. Mehr war ja pädagogisch nicht verlangt.“

Und heute? Zum einen erwarte man von Schule erheblich mehr – und zwar „mit Recht“. Und außerdem: „Wir haben es immer öfter mit Einzelkindern zu tun. Die sind es gewöhnt, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit von ihrer Umgebung zu bekommen.“ Denn: „Sie sind egoistischer. Früher hätte sich einer seine Verhaltensauffälligkeit vielleicht verkniffen, weil es sich die Gruppe nicht hätte gefallen lassen. Heute sitzen 30 Individualisten auf einem Fleck beisammen, da schaut’s dann schon ein bisserl anders aus.“

So anders, dass die Klassenschülerzahl unter Lehrern längst Causa prima ist, wenn sie nach Reformmaßnahmen gefragt werden. Und sogar Niki Kowall, Vorsitzender der SP-nahen „Aktion kritischer Schüler“, wirft sich, wenn’s um diesen Problemkreis geht, für die Lehrer in die Bresche: „Nehmen wir Folgendes an: Ich bin 26, ich stehe das erste Mal in einer Klasse, das mag eine Fünfte Gymnasium sein, ein sehr lebhaftes Alter, möglicherweise 30 Kinder, vielleicht 36; ich komme hinein, und mich interessiert Geschichte und Geografie, davon will ich die Leute begeistern – und ich stoße auf eine himmelschreiende Ignoranz, auf Desinteresse, auf Schüler, die gar nicht mehr zu begeistern sind, weil sie schon so gelangweilt wurden. Da ist es bis zur Frustration nicht mehr weit.“


Matura im Gymnasium Franklinstraße, Wien-Floridsdorf. Sechs Stunden, sieben Kandidaten, 42 Fragen, Aufregung, Anspannung, Konzentration, Alexander der Große, Greenpeace, Heiliger Krieg, Hermann Nitsch, Alkoholerzeugung – und immer wieder die Freude, der Herausforderung gewachsen gewesen zu sein. Franklinstraße: Das ist die Schule, in der ich vor 26 Jahren maturiert habe, dieselben Mauern, dieselben Fensteröffnungen, dasselbe Stiegenhaus, und doch, alles wirkt an diesem Tag anders, fröhlicher, freundlicher, lockerer. Die Frau Vorsitzende signalisiert jedem Kandidaten grundsätzliche Empathie, der Herr Direktor gibt sich gütig-väterlich, Lehrer und Schüler scheint mehr zu verbinden, als Prüfer von Geprüftem trennt.

Ein glücklicher Zufall? Die Gunst von sechs Matura-Stunden? Hat man sich Lehrer sonst doch eher vorzustellen, wie sie uns „profil“ kürzlich vorführte: als böse „Leerer“, die ihre Schüler „mit ihrer unverhohlenen Abscheu vor der Arbeit in den Schulen“ aus den Klassenzimmern treiben?

Christine Krawarik, Vorsitzende des Verbands der Elternvereine an den Höheren und Mittleren Schulen Wiens, rückt die Verhältnisse zurecht: „Natürlich sind die meisten Lehrer in Ordnung. Das Problem ist, dass die paar, die nicht in Ordnung sind, das Bild der Lehrer in der Öffentlichkeit prägen. Und ich verstehe auch nicht, dass die anderen dagegen nichts tun. Im eigenen Lehrerzimmer. Die müssten sich doch zur Wehr setzen.“

Günter Haider, selbst 15 Jahre lang Lehrer gewesen, ehe er im zweiten Anlauf die akademische Laufbahn einschlug, kennt die Situation von drinnen wie von draußen: „Unsere Lehrerausbildung lässt sich verbessern, speziell die universitäre, im pädagogischen Bereich. Und: Man muss die Leute früher in die Schulen bringen. Ich kann sie nicht vier Jahre an der Universität ausbilden und dann in ein Probejahr stecken, sondern ich muss ihnen einmal eine grundsätzliche pädagogische Ausbildung geben, möglichst viel Unterrichtspraxis, und dann muss ich Experten beurteilen lassen, ob diese Leute für ein Lehrerdasein geeignet sind.“

Doch nicht nur im Pädagogischen, auch im Fachlichen tut sich hierzulande schon manche Lücke auf. „Ein großes Problem, das auf uns zukommt: Leute zu finden, die Chemie als Lehramt studieren oder Physik oder Informatik, ohne den Verlockungen einer privatwirtschaftlichen Karriere zu erliegen, die von den Finanzen her unendlich attraktiver ist“, weiß Helmut Jantschitsch. „Da gerät man leicht in eine Spirale, dass man nicht die besten Lehrer bekommt, daher der Unterricht nicht attraktiv ist, sich die Schüler daher nicht dafür interessieren und so weiter.“

Und wenn’s ums liebe Geld geht, dann findet sich auch Barbara Nowikow von der alternativen „Bildungsgewerkschaft“ Seite an Seite mit Jantschitsch und der sonst eher scheel beäugten alten Tante GÖD; schließlich: „Geld motiviert, und ich denke, eine gute Arbeit muss auch gut bezahlt werden. Das hängt eng mit unserem Image zusammen. Es steht uns einfach zu.“


Walter besucht die zweite Klasse eines Gymnasiums. Walter ist lästig. Walter schwätzt, Walter ist nicht vorbereitet, Walter hört nicht zu, Walter stört seine Mitschüler. Walter ist, was man heutzutage „verhaltensoriginell“ nennt. So verhaltensoriginell, dass der Schulpsychologe zu Rate gezogen wird. Dessen Diagnose lässt nichts an Klarheit zu wünschen übrig: Walter verfügt nur über einen Bruchteil der Sprachkompetenz, die für sein Alter zu erwarten wäre; Walter ist schlichtweg nicht in der Lage, dem Unterricht in einem Gymnasium zu folgen.

Benjamin Wunsch-Grafton hat reichlich Erfahrung mit Schülern wie Walter. Die „SchülerInnenschule“ im Wiener Werkstätten- und Kulturhaus, der der gebürtige Engländer als Direktor vorsteht, nimmt sich seit Jahren immer wieder solcher Krisenkinder an: „Wir haben das entsprechende Personal, können Schüler in dem persönlich schwächeren, dem lernschwächeren Bereich fördern, in Einzel- oder Kleingruppenförderung, damit sie eine Brücke bauen können in eine größere, normale Lerngruppe.“

Woraus sich unschwer erkennen lässt, dass Wunsch-Graftons „SchülerInnenschule“ ein bisschen anders ausschaut, als wir es von herkömmlichen Unterrichtungsstätten gewohnt sind: keine Klassen, sondern flexible Lerngruppen, die die Lehrinhalte der fünften bis achten Schulstufe abdecken, keine Noten, sondern am Ende des Schuljahres eine Art Rechenschaftsbericht der Schüler über ihre Lernfortschritte – und keine Selektion. Wunsch-Grafton: „Wir haben Schüler, die nach der achten Schulstufe ins Gymnasium gehen und dort lauter Einser haben, manche gehen in eine Lehre, andere wären ohne uns in eine Sonderschule gekommen, das ist eine große Bandbreite.“

Konzepte wie dieses müssen nicht auf den alternativen Schulbereich beschränkt sein. Ähnliches weiß Christine Krawarik etwa über das finnische Schulsystem zu berichten: „Ich habe mir das nicht vorstellen können, aber wenn da ein Kind Arzt und das andere Friseur werden will, dann gehen die dennoch zehn Jahre gemeinsam in die Schule. Da darf sich der zukünftige Arzt nicht langweilen, und der zukünftige Friseur darf nicht überfordert werden, das ist eben Aufgabe des Lehrers. Und offensichtlich schaffen die das.“ Offensichtlich: Schließlich sind die Finnen Europas „Pisa“-Musterschüler.

„Man muss sich diese frühe Selektierung im Alter von zehn Jahren einfach überlegen“, meint auch Günter Haider. „Kein Wissenschaftler der Welt hat eine Testbatterie entwickeln können, die wirklich valide Daten dafür liefert, und bevor ich 30 oder 40 Prozent falsche Entscheidungen treffe, die mir später auf den Kopf fallen . . .“

Gewiss: „Irgendein Unterricht, der auf die Leistungsfähigkeit der Schüler Bezug nimmt, ist logisch, ich kann nicht einen Superbegabten und einen sehr wenig Leistungsfähigen gleich behandeln; aber da muss man sich überlegen, ob man das nicht in einem intelligenteren System tut.“ Womöglich in einer – horribile dictu – Gesamtschule, Herr Haider? „Bis zur achten Schulstufe würde ich versuchen, die Kinder als soziale Gruppe zusammenzuhalten, nach ihren jeweiligen Schwächen und Stärken gut zu fördern. Aber diese Diskussion ist bei uns völlig festgefahren, man darf ja über das Gymnasium gar nicht reden, denn dann fällt die eine Reichshälfte über dich her. Du kannst zwar am Biertisch mit den Leuten diskutieren, sie geben dir auch recht, aber sobald öffentlich gesprochen wird, wird einheitlich gesprochen.“


Bleibt die Frage: Was ist es denn, was wir in der Schule lernen sollen? Wie schaut sie konkret aus, die Allgemeinbildung, die wir brauchen? Christine Krawarik zuckt mit den Schultern. „Darüber haben wir im Elternverband schon so oft diskutiert. Im Grunde ist es das, was übrigbleibt, wenn man alles andere vergessen hat.“ Aber was, bitte, soll übrigbleiben?

Schlag nach bei Dietrich Schwanitz! Drei Jahre ist es her, dass der deutsche Autor und vormalige Universitätsprofessor für englische Literatur und Kultur auf 540 Buchseiten uns „Alles, was man wissen muss“ um die Ohren schlug: Und mochte „Bildung“, so der bescheidene Titel seines Kompendiums, manchen Übelwollenden auch nicht mehr als eine Anleitung zum professionellen Small-talk-Bluff (Devise: Wie schon Solon sagte . . .) scheinen – die Annehmlichkeit, endlich einmal verbindlich zu erfahren, was zu memorieren und was ohne große Verluste zu vergessen sei, ließ Schwanitz‘ Opus zum Bestseller avancieren. Und weil ein Geschäftsglück selten allein bleibt, finden wir uns mittlerweile umzingelt von zahlreichen Nachfolgepublikationen, in denen uns Einsager verschiedenster Kompetenz vorschreiben, was wir gelesen, gehört, gesehen, gegessen und verdaut haben müssen, so wir als Mitglieder der Art Homo sapiens durchgehen wollen. Womit die einschlägige Diskussion gerade in jener Sackgasse gelandet ist, aus der Schwanitz uns führen wollte: aus der „großen Verunsicherung“ und der „großen Unübersichtlichkeit“.

Egal. Unsereiner hält Bildung, zumal jene mit der näheren Bestimmung „Allgemein“, ohnehin immer für das, was er selber hat. Bei jeder Millionen-Show wissen wir doch gar trefflich zu scheiden, was der jeweilige Delinquent wenn schon nicht im kleinen, so wenigstens in irgendeinem Finger haben müsste _ und wovon er, ohne sich sonderlich zu blamieren, keine Ahnung haben darf (nämlich davon, wovon wir selber keine Ahnung haben).

Polemikern mag es vorbehalten bleiben, ähnliches Verhalten unseren Lehrplangestaltern zu unterstellen. Faktum ist, so Günter Haider, dass seit Jahrzehnten „eine minimal veränderte Fortschreibung der alten Lehrpläne stattfindet“: „Schauen Sie sich unsere Lehrbücher an: Das Mathematikbuch von Rinderer/Laub hat nach dem Krieg im Grunde genauso ausgeschaut, wie es heute ausschaut.“ Selbst dort, wo man sich zu einer Neugestaltung des Lehrplans durchringe, wie bei dem seit 2000 gültigen Unterstufen-Lehrplan für die Allgemeinbildenden Höheren Schulen, setze man nach wie vor falsche Schwerpunkte: „Unsere Lehrpläne definieren im wesentlichen, was passieren soll im Lauf der Schulzeit. Wichtiger wäre es, festzulegen, was an Output da sein soll. Das müsste über Standards beschrieben werden; und dann könnte man den Schulen im Wesentlichen überlassen, was sie tun. Man sagt: Das sind die Kernkompetenzen, die müssen erreicht werden. Und wir werden von Zeit zu Zeit überprüfen, ob ihr das schafft.“

In Skandinavien habe man schon vor zehn, 15 Jahren ähnliche Veränderungen eingeleitet: „Die haben erkannt, dass sie den Entwicklungen, die so flott vor sich gehen – in der Gesellschaft, in der Technik -, durch eine zentrale Steuerung nicht mehr gerecht werden. Die Schweden haben gesagt: Unser Ministerium diente der zentralen Verwaltung, jetzt haben wir keine zentrale Verwaltung mehr, jetzt können wir die Hälfte der Leute abbauen, und die werden umgeschult für draußen, wir brauchen ja Experten an der Peripherie. Es muss eben ein Umdenken auf ganzer Linie sein.“ Aber bei uns in Österreich . . .


Dieser Geruch von alten Schlapfen und Kreidestaub, verschwitzter Halbwüchsigensehnsucht und Wimmerl-Rebellion. Und immer wieder diese Angst. Die Angst vor der kleinsten Veränderung. Die Angst vor dem nächsten Wahltag. Und die Hoffnung, dass es so eh auch gehen wird.

Nein, unser Schulsystem ist nicht gut. Jahre-, ja jahrzehntelang wurden anstehende Reformen auf die lange Schulbank geschoben, hört man raunen, aus politischem Kalkül, aus Inkompetenz oder weil manches am Thema Bildung ideologisch so aufgeladen ist, dass sich darüber nicht mehr reden und noch weniger entsprechend handeln lässt.

Dennoch: Nein, unser Schulsystem ist auch nicht schlecht. Das schulpolitische Durchwursteln von Jahr zu Jahr, von Regierung zu Regierung, von Minister zu Minister hat ausgereicht, uns, wenn schon nichts anderes, so immerhin ein passables „Pisa“-Ergebnis zu bescheren. Die paar frustrierten Lehrer, die paar frustrierten Schüler, wen kümmern die. Hauptsache, das Ranking passt. Bis zur nächsten „Pisa“-Studie.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 29. Juni 2002

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