Perrodeaus „Dämmerung“: Die Schrecken in unserem Kopf

Flucht in die Illusion? Hoffnung auf Rettung? In seiner Science-Fiction-Fabel »Dämmerung« erzählt Jeremy Perrodeau mehr über unsere Gegenwart, als er selbst gedacht haben kann.

 

Erinnern Sie sich noch? Was waren das für wunderbare Jahre, da wir die grauslichsten unse rer Dystopien wahlweise in fernen Zeiten oder in fernen Welten angesiedelt haben! Denn hier und heute, in unserer mitteleuropäischen Behaglichkeit, konnte solches doch nie und nimmer geschehen. Ausgangsbeschränkung, Versammlungsverbot, Bewegungsüberwachung: All das gehörte fest ins Repertoire unserer Endzeitfantasien – aber gewiss nicht zu unserem Wohlstandsleben der Gegenwart!

Mittlerweile allerdings haben wir mit hiesigen Unvorstellbarkeiten von ehedem verblüffend intime Bekanntschaft gemacht. Was uns gestern noch schrille Vision schien, steht an der Tagesordnung – und zwar nicht in irgendwelchen unbekannten Ländern, sondern mitten in der Komfortzone dieser Welt, in der wir’s uns doch so gemütlich eingerichtet haben.

Plötzlich ist aus dem harmlosen Trainingsgelände, das all die kunstfertig ausstaffierten Weltuntergangsszenarien unserer verzärtelten Gefühlsmuskulatur boten, ein Stück weit unsere Realität geworden, und wir müssen gar nicht mehr kassandrisch bemüht irgendwelche Parallelen von einschlägigen Klassikern wie „1984“ oder „Fahrenheit 451“ zu unserem Leben herbeifantasieren, um selbst in den wilderen unserer Wahnbilder zumindest assoziativ Teile unseres Alltags wiederzuerkennen.

Niemand wird ernsthaft annehmen, dass solche Erfahrung nicht auch unsere Wahrnehmung verändert, unsere Blicke lenkt. Und wenn wir eine Science-Fiction-Fabel wie Jeremy Perrodeaus „Dämmerung“ zur Hand nehmen, wenn wir Perrodeaus Protagonisten durch eine monochrome Jenseitslandschaft stapfen sehen, wenn wir sehen, wie ihnen ein für sie unbekanntes Phänomen Schritt für Schritt und Bild für Bild die Sicherheit und Selbstverständlichkeit raubt, mit der sie sich doch eben noch durch ihre Existenz bewegten, braucht’s nicht viel, einen Zusammenhang damit herzustellen, wie es uns dieser Tage ergeht, da wir quasi über Nacht so manche Gewissheit verloren haben, da jede zwischenmenschliche Begegnung mit einem Mal Bedrohung heißt und Zärtlichkeit eine Gefahr, die es tunlichst zu meiden gilt.

Dieser Zustand der Beklemmung angesichts eines halt- und gestaltlosen Verhängnisses, der Perrodeaus Weltraumerkunder immer tiefer in Irritation versinken lässt, wir haben ihn allesamt als Massenerlebnis in den vergangenen Wochen zumindest andeutungsweise erfahren müssen. Und spätestens wenn in Perro deaus Comic-Kosmos die Mutmaßung laut wird, bei der Wurzel aller Unbill könnte es sich um ein Virus handeln, ja die Rede gar auf eine „exponentiell erfolgende Ausbreitung“ des Unheils kommt, befinden wir uns umgehend nicht mehr auf Perrodeaus von Menschenhand geschaffenem Versuchsplaneten irgendwo im All, sondern in der durchaus irdischen Erfahrungswelt unseres Wohnzimmers.

Im Original „Crépuscule“. Doch nein, Perrodeau wusste nichts von Coronaviren, chinesischen Fledermäusen und globaler Seuchennot, als er seine „Dämmerung“ zu Papier brachte. 2017 ist sie im französischen Original erschienen, und ihr ursprünglicher Titel, „Crépuscule“, weist schon genauer darauf hin, welche der beiden Dämmerungen hier wohl gemeint ist, nämlich nicht die des Morgens, die in uns stets die Hoffnung auf den Tag weckt, sondern die des Abends, der, wir wissen es, die Nacht der Ungewissheit folgt.

Perrodeau entwickelt seinen Plot gängigen Mustern der Dystopie entlang: Ein wissenschaftliches Experiment, im konkreten Fall die Schaffung eines eigenen Himmelskörpers mit eigener Atmosphäre, eigener Natur, vor allem aber einer künstlich beschleunigten Evolution, gerät außer Kontrolle. Altbekannte Botschaft: Die Menschheit in ihrem Machbarkeitsrausch wirft sich zum Schöpfergott auf und scheitert gar jämmerlich.

Doch auch wenn die zunächst eher schlicht auftretende Story final Richtung Auflösung in Zeit und Raum abhebt (und darin vage an Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ erinnert): Im Grunde ist es ohnehin nicht das Was, das Perrodeaus Erzählung weit über das Genre-Übliche hinaushebt, es ist das Wie der Gestaltung, das nachhaltig Eindruck hinterlässt.

Der französische Zeichner Jahrgang 1988 meidet in seinen Bildern jede naturalistische Plattheit, aufs Äußerste abstrahiert, in wenige Striche gefasst, treten uns seine Figuren, seien es Menschen, seien es Androiden, tritt uns die künstliche Natur entgegen, die sie geschaffen haben. Und auch das „Phänomen“, die „Infektion“ oder was immer da das so hybride wie zerbrechliche Menschenwerk befällt, äußert sich abstrakt, in kristallinen, streng geometrischen Körpern, die aus Bäumen und Böden der artifiziellen Biosphäre brechen, sich letztlich zu schroffen Gebirgen aufwerfen, als gelte es, jedes humane Wirken unter ihrer schieren Masse zu begraben.

Schrecken der Abstraktion. Genau dieses Schematische, nur den äußeren Linien nach Bestimmte, im Inneren jedoch schmerzhaft Undefinierte ist es, das zwar Gefährdung sichtbar macht, jede Auskunft über ihr eigentliches Wesen freilich gleichzeitig verwehrt. Es wird für Perrodeaus Protagonisten wie für uns als Leser zur Projektionsfläche all dessen, was uns an Üblem nur so in den Sinn kommt. Die Bedrohung, die im Unbegreiflichen liegt, ist noch allemal die bedrohlichste, die uns begegnen kann. Und kein noch so bunt ausgemalter Schrecken ist so schrecklich wie das, was uns selbst an Schreckensbildern durch die Köpfe spukt. Ästhetischer Kollateralnutzen: In ihrer Reduzierung, in ihrer über weite Strecken sprachlosen Kleinteiligkeit entwickeln Perrodeaus Bilderfolgen einen fesselnden Sog, der keinen unbeteiligt lässt.

Am Ende bleibt bei Perrodeau nur die Flucht in die Illusion. Oder ist es Hoffnung auf reale Rettung? Die Frage bleibt so ungeklärt wie unsere Aussicht klein, dass wir unsere alte Normalität demnächst gern gegen irgendeine neue würden tauschen wollen.

„Presse am Sonntag“, 26. April 2020

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