Taxifahrer aus der Türkei, derzeit Wien: Murat Başpehlivan.
„Wissen Sie, würd ich einen finden, der mir zuhören würd, da könnte man einen Roman schreiben: Kümmeltürk in Wien.“ Murat Başpehlivan zieht seit 1983 als Taxifahrer seine Runden durch die Höhen und Tiefen zwischen Kahlenberg und Simmeringer Heide. Sein Roman in Kurzfassung: 1965, als Neunjähriger, nach Österreich gekommen, aufgewachsen in Tulln, 1970 Übersiedlung nach Wien, Automechanikerlehre, Hochzeit, zwei Kinder, heute Wohnung am Stadtrand, nahe Kaiserebersdorf.
„Wir kamen aus Adapazari, das liegt im asiatischen Teil der Türkei, 120 Kilometer von Istanbul Richtung Ankara“, erzählt Başpehlivan. „Mein Vater war Schneidermeister, auch die Mutter war Schneiderin. Wir waren drei Kinder. Damals sind Leute in die Türkei gekommen, die haben sich die guten Schneider ausgesucht. Mein Vater muss sich bei denen beworben haben; die Umstände haben ihn halt nach Europa getrieben. In der Türkei war er zwar selbstständig, aber es gab nicht genug zu verdienen, da sind wir dann nach Tulln gegangen, dort hat es eine große Bekleidungsfirma gegeben.“
Der erste Eindruck des Neunjährigen von Wien? „Wir sind am Südbahnhof angekommen, sind ins Taxi eingestiegen und über den Ring Richtung Franz-Josefs-Bahnhof gefahren, und da kann ich mich noch genau erinnern an diese Skulpturen, die auf dem Parlament drauf sind, die waren ungeheuer beeindruckend.“
Zweites Kapitel in Başpehlivans Roman: eine Kindheit in Tulln. „Ich hab mich rasch eingewöhnt, man hat mich auch sehr gemocht, ich war so ein schwarzer Teufel, alle haben mit dem Finger gezeigt, haben gesagt: Schau, der Türkenbub. Mich haben sie in Tulln sehr verwöhnt. Ich habe nichts vermisst.“
Başpehlivans Sprachprobleme sind rasch behoben: „Ich habe überhaupt kein Deutsch können. Ich kann mich noch erinnern, anfangs bin ich einfach in die Greißlereien gegangen und habe auf Türkisch Eis verlangt. Da haben mich alle groß angeschaut, und dann ist mir erst bewusst geworden, dass die mich nicht verstehen. Aber: Ich war mit vielen österreichischen Kindern unterwegs, so habe ich schnell Deutsch gelernt. Das Reden ist ja kein Problem. Aber man muss auch schreiben können. Und da gab es eine Dame, die hat Eis verkauft aus diesen alten Eismaschinen, die hat mir Deutsch-Schreiben beigebracht. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule nach Hause gekommen bin, habe ich aus Büchern so sechs, sieben Seiten abschreiben müssen, dafür hab ich ein Eis gekriegt. So habe ich das gemeistert.“
Es folgt: eine Jugend in Wien Leopoldstadt samt Berufsausbildung in der „Mollardburg“ und Freizeit im Prater: „Damals war es da noch schön, heute gibt’s nur mehr Spielhallen.“ Seine Frau lernt Başpehlivan in den Siebzigerjahren in der Türkei kennen: „Wir sind ja damals mit den Eltern jedes Jahr runtergefahren. Da bin ich ihr begegnet. Man wird halt immer älter, man hat sich gesehen, dann hat man sich verlobt, und nach einem halben Jahr haben wir geheiratet. 1976 hab ich sie dann nach Österreich gebracht.“ Mittlerweile hat das Ehepaar Başpehlivan zwei Töchter: „Die eine arbeitet, die hat die Handelsschule absolviert, die andere geht in die Handelsakademie.“ Und Başpehlivans Frau betreut als Hausmeisterin jenen Genossenschaftsbau, in dem die Familie wohnt: „Das war ein Wahnsinn am Anfang. Die Leute waren richtig bösartig. Tschuschn kriegen die Wohnungen und unsere müssen warten – und so. Man muss das wegstecken können. Sonst kann man nicht überleben.“
Wegstecken muss Başpehlivan auch einiges in seiner Profession als Taxifahrer, womit das vorerst letzte Kapitel seines privaten Romans erreicht wäre: durch den Asphaltdschungel von Wien. „In den vergangenen Jahren sind die Leute immer komischer geworden, immer aggressiver. Da gibt’s welche, die einsteigen und sagen: Gott sei Dank fahre ich endlich wieder einmal mit einem Österreicher. Oder es macht eine die Tür auf und sagt: Heast, bist du eh ana von uns? Wenn die Leute über die Ausländer im Auto schimpfen, das hat ja überhaupt keinen Sinn, dass ich da debattier drüber. Ich nehm das nicht so ernst. Die schimpfen zwar, aber dann fahren sie in die Türkei auf Urlaub.“
Durch „die Haider-Propaganda“ sei das noch ärger geworden: „Vor den Wahlen, was ich da erlebt hab. Jeder Zweite hat über Ausländer geredet und hat gesagt: Ich bin jetzt zwar 25 Jahre ein Roter, aber ich wähle jetzt den Haider. Ich verstehe das nicht: Die Ausländer haben doch mitgeholfen, dass Österreich aufgebaut worden ist.“
Auch unter den Taxifahrern gebe es „sehr starke Rivalitäten“: „Vor einem Monat hab ich mit einem anderen Taxler geredet, sagt er: ,Was willst du, Jugo. Ihr nehmt uns die Arbeit weg. Euch sollt man außehaun.‘ Ich sag drauf: ,Meine Eltern haben gearbeitet, mein Vater hat 30 Jahre eingezahlt in die Pension, ich zahl genauso meine Steuern wie andere. Baustellen, WC-Anlagen, auf dem Markt, da arbeiten überall nur Ausländer, die zahlen Steuern, und davon leben die Pensionisten, deine Mutter oder was weiß ich wer. Wenn alle hinausgeschmissen werden, bricht alles zusammen.‘“
Eines steht freilich trotz aller Querelen für Başpehlivan fest: „Wien ist meine Heimat, dann kommt erst die Türkei – obwohl ich ein Türke bin. Ich hab meine Freunde hier, kenne die Umgebung. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben.“ Ende gut, alles gut. Oder so.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 7. Juni 1997