Osterwalders „Daily Soap“: Ein Seifenspender wie du und ich

Wenn Dinge menschlich werden: eine Tour d’Horizon von der Antike über Lyonel Feininger bis zu Pascale Osterwalders Bilder-Erzählung »Daily Soap«.

Kennen Sie das? Nach dem dritten Systemabsturz fragen Sie ihr Notebook verzweifelt: Was willst du von mir? Und das Türschloss, das wieder einmal klemmt, wünschen Sie beherzt zum Teufel. Ja, wir reden mit allem, was uns umgibt, auch mit seinen unbelebten Teilen: mit dem Auto, das nicht anspringt, dem Kühlschrank, dessen Tür nicht und nicht schließen mag, der Waschmaschine, die überraschend ihren Dienst verweigert. Was aber wenn die Dinge, die uns umgeben, sich ihrerseits zu Wort melden?

Nein, nicht von Halluziniertem ist hier die Rede und auch nicht von Siri, Alexa, Echo und ähnlichen (vermeintlichen? tatsächlichen?) Errungenschaften moderner Informationstechnologie. Sprechende Gegenstände nämlich begleiten die Vorstellungswelt der Menschheit seit Jahrtausenden. Die ältesten erhaltenen Schriftdokumente des griechischen Alphabets finden sich eingeritzt in Artikeln des täglichen Gebrauchs, die ihren jeweiligen Eigner ausweisen, als wären es die Artikel selbst, die Auskunft geben: „Ich bin der Trinkbecher des Tharias.“ Oder: „Ich bin die Schale des Khorakhos.“ Und wir längst Nachgeborenen dürfen über die Präzision antiken Denkens staunen, das noch genau zwischen Subjekt und Objekt zu trennen wusste, wo wir ohne langes Zaudern Bücher, Kaffeehäferln, Briefkästen allein mit unserem Namen als die unseren markieren, als seien Ding und wir längst eins.

Das Phänomen der Vermenschlichung des Nichtmenschlichen greift freilich weit über schlichte Eigentumszuschreibungen hinaus. In der Literatur hat es gar eine ganze Gattung, die Fabel, begründet. Doch es ist nicht nur Lebendiges wie Tier und Pflanze, dem wir Stimme geben, sondern eben auch vermeintlich tote Materie, die wir in unserer Vorstellung zu Leben erwachen lassen. Anthropomorphismus nennt das ein Fachterminus, und wir dürfen uns wieder einmal darüber freuen, wie ehrfurchtgebietend benannt werden kann, was uns im Alltag – siehe oben – ganz selbstverständlich begleitet.

Auch der Comic bedient sich gern der Möglichkeiten, die die Belebung des objektiv Unbelebten offeriert. Und oft ist es die Kinderperspektive, aus der anorganische Stofflichkeit unvermittelt zu Bewusstsein und eigenständigem Handeln zu erwachen scheint. Schon in Lyonel Feiningers Serie „Wee Willie Winkie’s World“, 1906 für die „Chicago Tribune“ geschaffen, entwickeln Häuser, Dachluken, Küstenfelsen ganz selbstverständlich aktive Eigenständigkeit; und in Japan gilt heute die Manga-Figur Anpanman, ein Held mit einem Kopf aus Kuchenteig, dank Merchandising, Einspielergebnissen von Filmadaptionen und diverser Nebeneinkünfte als wertvollste Markenfigur überhaupt – noch vor Pokémon und Micky Maus.

Grübeln am Waschbeckenrand. So weit wird’s der Seifenspender nicht bringen, den Pascale Osterwalder zum Protagonisten ihrer Serie „Daily Soap“ gemacht hat, scheint er sich doch seinem Habitus nach in Nichts von seinen handelsüblichen Pendants zu unterscheiden, wie man sie aus Supermarktregalen kennt. Zudem verzichtet Osterwalder ganz und gar darauf, ihn durch allerlei vermenschlichende Accessoires, Arme, Beine, Augen, Mund, auch nur ansatzweise von seiner Dinglichkeit zu befreien. Ihr Seifenspender, wie er am Waschbeckenrand steht und über sein – was sonst? – wenig spektakuläres Seifenspender-Dasein grübelt, braucht solche grafischen Krücken nicht, um problemlos als einer von uns erkennbar zu sein. Motto: Ein Seifenspender ist auch nur ein Mensch.

Entlarvend komisch. Für den Wiener Luftschacht Verlag hat Osterwalder ihre aus der Wochenzeitschrift „Falter“ geläufige Serie jetzt in ein Buch gefasst. Entstanden ist  daraus weit mehr als eine x-beliebige Kompilation des längst Gehabten. Abgesehen von dem zeichnerischen Feinschliff, den sie ihren Cartoons, wo nötig, angedeihen lässt, offenbart, was ehedem als Einzelstücke gedacht war, in der Zusammenschau unerwartet eine durchgehende Erzählung in Bildern, als könnt’s gar nicht anders sein: eine  Erzählung vom Zweifel, vom Scheitern, von der Einsamkeit, jedem aus eigenem Erleben düstrer Stunden wohlbekannt – und zugleich entlarvend komisch. Schließlich ist es ja nur ein Seifenspender, der sich hier in allergrößter Ernsthaftigkeit den allergrößten Problemen der Existenz stellt.

Das tiefe Pathos unserer finstersten Gedanken enthüllt sich vor dem Seifenspender unvermeidlich als Untiefe, je tiefer und abgründiger sich diese Gedanken geben. Sich manchmal leer zu fühlen, mag für uns Krise bedeuten, für einen Seifenspender ist es Daseinsziel, und funktionieren zu müssen ist in seinem Fall nichts weiter als Selbstverständlichkeit. Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, vor dem Seifenspender kippen sie unvermeidlich ins Lächerliche. Denn was sollte schon die Antwort sein, wenn ein Seifenspender darüber rätselt, ob er denn „jemals ganz erfüllt“ gewesen sei?

Freilich, Osterwalder, in Wien lebende Schweizerin Jahrgang 1979, macht sich niemals lustig über ihren Protagonisten: In jedem Augenblick nimmt sie ihn in seiner Tragik ernst – und enthüllt genau dadurch das Komische, das sich hinter dieser Tragik offenbart. Und wenn sie ihren Seifenspender vor verschlossenem Fenster über die Sehnsucht nach Freiheit philosophieren lässt, öffnet sie weit den Blick auf unser eigenes Leben – nicht zuletzt das der vergangenen Monate. Pascale Osterwalders „Daily Soap“: ein berührendes Erkenne-dich-Selbst, das in der Farce Wirklichkeit kenntlich macht. So eingeseift lebt sich’s gelassener.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 6. Juni 2021

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