Fünf Tage auf der MS Europa 2 in Südostasien unterwegs. Saigon, Sihanoukville, Bangkok: Blitzlichter einer Begegnung mit dem Fremden – und warum es plötzlich seltsam vertraut wirken kann.
Manchmal muss man sich ziemlich weit von Europa wegbewegen, will man die Europa erreichen. Oder die Europa 2. MS Europa und MS Europa 2, so sind die beiden Luxuskreuzfahrtschiffe benannt, die im Dienst von Hapag-Lloyd Cruises Jahr für Jahr den Globus umrunden, um schließlich an den Ausgangspunkt, den Heimathafen Hamburg, zurückzukehren. Und wer sie ein Stück ihres Weges über die Meere begleiten will, hat seinerseits immer wieder ein gutes Stück des Weges vor sich, ehe er am Ziel seiner Schiffsträume angelangt ist.
Im konkreten Fall waren es 11.000 Flugkilometer bis zur Einschiffung auf der MS Europa 2: Sie ist ein gutes Dutzend Jahre jünger als das Schwesternschiff, MS Europa, mit maximal 500 Passagieren ein wenig größer, doch noch immer von jener komfortablen Überschaubarkeit, die der sonstigen Kreuzfahrerei mit Kapazitäten ganzer Kleinstädte längst abhandengekommen scheint. Europa und Europa2: Das ist Noblesse, die schwimmen gelernt hat, von der Kulinarik bis zum Entertainment. Eine Noblesse freilich, die ihren Preis hat. Dass es Passagiere geben soll, die nicht bloß eine oder zwei Wochen lang, sondern Monate, ja womöglich eine ganze Erdumrundung an Bord der Europa 2 verbringen, klingt da fast zu schön, um wahr sein zu können.
Diese Reise an Bord der Europa 2 setzt an einem feuchtheißen Sonntag im Hafen von Ho-Chi-Minh-Stadt ein. Wer mit diesem Namen (noch) nichts anzufangen weiß, mag getröstet sein: Selbst der internationale Flugverkehr kennt die Metropole am Rand des Mekongdeltas nur unter dem Kürzel SGN (Saigon). Ja, sogar der Guide in – nun ja – Saigon wird später seine Heimatstadt nur unter diesem Namen nennen wollen. Ho-Chi-Minh-Stadt, das sei allenfalls weiter im Norden Vietnams zu hören, dort sei man auch ein wenig herber, distanzierter, weniger weltoffen als hier, im von Vitalität brodelnden Süden. Und als gelte es, jenes Brodeln zu bestätigen, brausen mehrspurig Motorrollerkolonnen vorbei, kreuz und quer durch die Geschäftsquartiere und die Handvoll kolonial geprägten Viertel der südvietnamesischen Kapitale a. D.
Was die (vermeintliche? tatsächliche?) Distanziertheit der Nordvietnamesen betrifft, finden sich auch in Downtown Saigon genug Gründe, die ihrerseits einige Zurückhaltung äußeren Einflüssen gegenüber erklärbar machen: Was im War Remnants Museum heute, frisch lackiert, wie eben erst aus der Rüstungsfabrik geliefert, an martialischen Artefakten versammelt ist, Panzern, Kampfflugzeugen, Artilleriemunition, gibt gemeinsam mit zahlreichen Fotos und Dokumenten aus den Tagen des Vietnam-Kriegs beredt Zeugnis davon, dass Wunden, wie sie damals geschlagen wurden, ein halbes Jahrhundert nach Friedensschluss zwischen Nord- und Südvietnam vielleicht verheilt sein mögen, vergessen und verschmerzt können sie gar nicht sein.
Unmittelbar spürt der Besucher aus dem Westen so gut wie nichts davon. Vom Markttreiben bis zum Wiedervereinigungspalast, ehedem Residenz des südvietnamesischen Präsidenten, präsentiert sich Saigon als herausgeputzte, pulsierende Boomtown, Wirtschaftsmetropole eines Staats, der seinerseits ökonomisch die Nachbarländer Laos und Kambodscha längst hinter sich gelassen hat. Das koloniale Erbe der Franzosen, etwa das historische Post Office und die Oper, ist sorgsam gepflegt oder, wie die Backsteinkathedrale Notre Dame von Saigon, in Renovierung begriffen, und auch kulinarisch (Kaffee! Baguette!) ist der Einfluss der ehemaligen Kolonialherren nicht zu übersehen.
Einen Tag auf See später ist vieles anders. Da haben wir längst Vietnam, Saigon, das Mekongdelta mit seinen pittoresken Fischerbooten hinter uns gelassen, da liegt die Europa 2 schon im Hafen von Sihanoukville. Und eine kleine deutsch-österreichische Gruppe schickt sich an, hier, im Südwesteck von Kambodscha, die der Küste vorgelagerte Inselwelt mit ihren einsamen Stränden und komfortablen Resorts zu erkunden. Die Fahrt in dem Minibus führt über verlassen daliegende vier-, fünf-, sechsspurige Straßen auch an der jüngst erst vollendeten Monumentalstatue eines mythologischen Prinzenpaars vorbei, knapp 30 Meter hoch, 60 Tonnen schwer, verehrt als vorzeitliche Begründer kambodschanischer Kultur. Ein machtvoller Verweis in eine glorreiche Vergangenheit, die wohl Hoffnung auf eine bessere Zukunft wecken soll. Was Wunder in einem Land, das noch bis an die Jahrtausendwende in einen brutalen Bürgerkrieg verstrickt war?
Der Aufschwung, den Kambodscha mittlerweile erfahren hat, datiert offiziellen Zahlen nach nicht zuletzt aus dem Tourismus. Einrichtungen wie das komfortable Koh Russey Resort, das wir später am Tag per Speedboot erreichen, können als beispielhaft für damit verbundene Erwartungen gelten. Beispielhaft mag es aber auch sein, dass wir den Tag mit einem Besuch in einer nahen Tempelanlage beenden: Den Segen, den uns dort ein buddhistischer Mönch erteilt als Dankeschön für unsere Opfergaben, den wird sehr viel mehr als unsereiner das ganze Land auf seinem weiteren Weg brauchen.
Empfang auf der Brücke. Er habe den kürzesten Arbeitsweg der Welt, knapp 30 Sekunden und garantiert kein Stau, merkt Kapitän Sören Anderl launig an. Nun, seine Kabine liegt ja quasi gleich ums Eck. Anderl ist seit ein paar Monaten Herr über die MS Europa 2, kennt die Kreuzfahrerei aber schon seit vielen Jahren. Das üppige hochtechnologische Equipment seines Schiffs schätzt der Lübecker sehr, mindestens genauso freilich die sozusagen analogen Fähigkeiten seiner Crew. So ist nach wie vor die unmittelbare Beobachtung der Vorgänge rundum auf See durch einen eigenen Matrosen von großer Bedeutung: besonders in einer Region wie jener, die wir gegenwärtig queren, mit einer See voll kleiner Fischerboote. „Die Fischer sind naturgemäß oft mit anderem beschäftigt als mit dem Schiffsverkehr in ihrer Umgebung“, erzählt Anderl. Im Zweifel sei es da klüger, „sich nicht auf Seefahrtsregeln zu verlassen, sondern lieber selbst auszuweichen, wiewohl’s eigentlich der andere müsste“.
Übrigens: In Sachen Umweltschutz, sonst kein Ruhmesblatt der Kreuzfahrtbranche, könne man auf der Europa 2 immerhin darauf verweisen, für den Antrieb nicht auf das sonst meist verwendete Schweröl, sondern auf das schadstoffärmere Marine-Gasöl zurückzugreifen. Biologische Abwasserklärung, Mülltrennung an Bord etc. sind Standard. Und dass der Müll ordnungsgemäß in Häfen entsorgt und nicht einfach über Bord gekippt wird, versteht sich auch von selbst.
Lange Reihen weißer Kunststoffsessel harren der Gäste, die vom Schiff auf Ko Kut übergesetzt werden. Sonst präsentiert sich die viertgrößte Insel Thailands weitgehend unberührt von internationalen Tourismusströmen, mit kleinen Buchten, einsamen Sandstränden, allerlei Schnorchelgründen, in denen – nur so beispielsweise – nächst der vorgelagerten Ratteninsel versunkene Tierstatuen auf ihre Erkunder warten.
Und dennoch, auf seine nachdrückliche Art hat sich das Anthropozän selbst hier schon eingeschrieben: Den Tukans mit ihren riesigen, prachtvoll gefärbten Schnäbeln, ehedem weithin im Regenwalddickicht der Insel verbreitet, hat einheimische Jagdlust ein Ende gesetzt, erzählt der Skipper, der uns in einem kleinen Boot, an dicht bewaldeten Hügeln vorbei, in ein Strandidyll schippert. Immerhin, an der Reparatur der Natur wird auch hier schon gearbeitet: Jüngst habe man eine neue Tukankolonie angesiedelt, rekrutiert aus Zoobeständen. Den Rest müsse die Zukunft weisen.
Das Diner mit dem Kapitän entfällt. Die Anfahrt in Richtung Laem Chabang verlangt nach seiner Anwesenheit auf der Brücke. Der größte Hafen Thailands ist gleichzeitig Schlusspunkt der Seereise, der nach der Anlandung am nächsten Morgen noch ein Crashkurs kreuz und quer durch die 140 Kilometer entfernte Kapitale des Landes folgt: ganz Bangkok in sechs Stunden gewissermaßen. Also: Königspalast, Tempel des liegenden Buddha, Tempel der Morgenröte, Tuk-Tuk-Fahrt und Bootstour durch die Entwässerungskanäle, die die Acht-Millionen-Metropole durchziehen.
Noch scheint das meiste nicht von jenen Massen belagert, die den Zeiten vor der Pandemie nachgesagt werden. Kein Geschiebe, kein Gedränge, selbst an den Stellen höchster Verehrung nicht, etwa vor dem Smaragdbuddha des königlichen Klosters, dem magische Kräfte nachgesagt werden. So soll er seinem Besitzer Wohlstand bringen.
Eine andere Art von Magie ist es, die schwärmerische Scharen Einheimischer in den Tempel der Morgenröte treibt: die der TV-Industrie. Historisch kostümiert selfisieren sie sich hier mitten in der Pracht porzellanener Tempelornamente, auf den Spuren einer populären Soap Opera, der eine vermeintlich gute alte Zeit der thailändischen Monarchie als Folie der Sehnsuchtserfüllung dient. Jeder und jede für sich für Stunden, Minuten und ein Fotoleben lang König und Königin von Siam.
Im Stadtbild selbst dominieren großformatig Porträts des tatsächlichen Königs samt Familie – und auf monumentalen Plakatwänden die Glücksverheißungen des Konsums. Und so eigentümlich in seiner Eigenart, so faszinierend vieles hier in seiner Fremdheit bis dahin gewesen sein mag: Spätestens beim Anblick von überdimensionalen Mobiltelefonen, Duschgels und Parfumflakons fühlen wir uns schon wieder richtig zu Haus – wiewohl uns doch noch immer elf Flugstunden von der Heimat trennen.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 9. September 2023