Seit Jahr und Tag hockt er da hinten, auf der Eselsbank der Republik, lernt nichts dazu und stört nur alle anderen, die guten Willens wären. Österreichs ewiger Repetent: die Bildungspolitik. Eine ungehaltene Maturarede.
Liebe Maturantinnen und Maturanten, geschätzte Elternschaft, verehrte Professorinnen und Professoren, hochlöbliches Direktorium! Ein Tag wie dieser ist unbestritten für alle von uns ein Tag der Freude. Sie, liebe Maturantinnen und Maturanten, haben zwar nach acht Jahren AHS noch immer keine brauchbare Berufsausbildung, aber immerhin einen Schein in Händen, der Sie zu einem Studium an einer unserer hoffnungslos überforderten Universitäten berechtigt. Sie, geschätzte Elternschaft, haben das wohlstandsverwahrloste Balg, das Sie in guten Stunden Sohn oder Tochter nennen, allen Fährnissen zum Trotz durch acht Jahre AHS-Mühsal bugsiert, auf dass es werde, was es womöglich gar nicht werden wollte. Sie, verehrte Professorinnen und Professoren, sind einen weiteren Schülerjahrgang der eigenen Pensionierung nähergerückt. Und aus nämlichem, vielleicht ein wenig schmählichem Grunde dürfen auch Sie, hochlöbliches Direktorium, in dieser Stunde zufrieden sein. Denn: Das Schönste in der Schule kommt zum Schluss – wenn’s endlich ausgestanden ist.
Der Gründe mag es viele geben, warum wir allesamt, Schüler und Lehrer, Elternschaft und Direktoren, die vergangenen Jahre nicht erlebt, sondern vorwiegend erlitten haben, warum Eltern und Schüler in seltener generationenübergreifender Einmütigkeit über das Ende der Schulzeit jubeln, wie Lehrer und Direktoren immer öfter und immer dringlicher vor allem das Ende der eigenen Dienstzeit herbeisehnen.
Der triftigste all dieser Gründe hockt seit Jahrzehnten da hinten auf der Eselsbank der Republik, einer, der es wie in all den Schuljahren davor, an die ich mich erinnern kann, auch diesmal wieder nicht geschafft hat, einer, der nichts dazulernt, einer, der wieder einmal nur gestört hat, alles, was an Lust, an Wissen, an Begeisterung vorhanden wäre, nach Kräften hintertrieben, abgewürgt, erst einmal gar nicht zugelassen hat. Österreichs ewiger Repetent: die Bildungspolitik.
Seit Jahr und Schultag brabbelt das missratene Gör Unverständliches vor sich hin, und noch das Beste, was zu seinen Gunsten zu sagen wäre, ist, dass mitunter ohnehin keiner mehr darauf hört. An nichts scheint es interessiert zu sein, es sei denn an sich selbst, für nichts zeigt es Verständnis, es sei denn, wie der Gang der ihm eigentlich obliegenden Bildungsdinge zu behindern sei. Und wo wäre denn die Disziplin, an der hiesige Bildungspolitik im vergangenen halben Jahrhundert nicht versagt hätte? Ohne Unterlass dreht sich das Schulschlagwortkarussell im Klassenkreis, will sagen, um sich selbst. Doch leider, kein Stadt- oder Landesschulrat weit und breit, der dem Elend ein Ende und das dumme Ding zum Wohle aller für alle Zeit an die Luft setzte.
Von der Rede über die Entrümpelung der Lehrpläne, die schon dem Unterstufenklässler Anfang der 1970er in den Ohren dröhnte, über das heitere Rauf und Runter von Klassenschülerhöchst- und Klassenschülermindestzahlen bis zu den Causae primae schlechthin, Gesamt- und Ganztagsschule, reicht die Liste umfassender bildungspolitischer Unfähigkeitsnachweise, die eine dauerhafte Wegweisung jederzeit und ohne jedwede Einspruchsgefahr legitimierte.
Wie sich das bildungspolitische Handlungspersonal jeweils zusammensetzt, scheint dabei völlig unerheblich: Ob rechts oder links, jung oder alt, schiach oder schön, kariert, gestreift oder gepunktet, ob Regierung oder Opposition, ob Gewerkschaft oder anderweitige Interessenvertretung, das Ergebnis ihres Treibens hat kaum je etwas mit Bildung, allenfalls mit Politik zu tun – sofern man der Politik nachsagen will, es handle sich dabei um das sinn- und konzeptfreie Austauschen von sachfremden Feindseligkeiten um der Feindseligkeiten willen.
Bestes Beispiel: die Gesamtschule. Wer wie ich mit rund einem halben Jahrhundert Schulerfahrung geschlagen ist, erst naturgemäß auf der Schulbank selbst, später, nicht zuletzt verwandtschaftlich verbunden, als immer wieder fast schon unmittelbarer Beobachter, zuletzt als Vater eines der diesjährigen Maturanten dieses Gymnasiums, der wird sie nicht vergessen haben, die Gesamtschuldiskussionen der 1970er. Was wurde da nicht alles gesamtschulversucht, dass sich die pädagogischen Balken bogen! „Chancengleichheit“ lautete die Parole, und nein, es war kein leeres Wort. Sogar ein eigenes „Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung“ ward installiert, auf dass evaluiert werde, was sich denn von den hohen Erwartungen an eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen in der Schulversuchswirklichkeit wiederfinde. Die entsprechenden Ergebnisse füllten alsbald mehrere Bände. Und dann? Nix dann. Der Niederschlag von ungezählten Seiten Evaluierungspapier in unser aller Bildungswirklichkeit: nichts.
Dafür dürfen wir dieser Tage staunend hören, Gesamtschule, das sei halt eine schwierige Sache, da müsse erst in „Modellregionen“ evaluiert werden. Wie das? Weil die Gesamtschule von heute gesamter ist als die von ehedem? Ein Vorschlag zur Güte: Wie wär’s, zum Zwecke triftiger Evaluierung ein Institut zu gründen, nennen wir es beispielsweise „Zentrum für Schulversuche und Schulentwicklung“. Das könnte anschließend mehrere Bände mit Evaluierungspapier füllen. Die sich nach wohlbekanntem Muster umgehend im riesigen Reformpapierkorb der Republik für alle Zeit endlagern ließen. Auf dass Jahrzehnte später aufs Neue gesamtschulversucht und evaluiert werde . . . Et cetera et cetera. Und wenn sie nicht gestorben sind, evaluieren sie noch heute.
Sicher, wer hierzulande meint, dass es in einschlägigen Debatten je um die Sache und nicht um etwas ganz anderes (Ressentiments, Ideologien, Wählerstimmen) ginge, ist selber schuld – oder nicht österreichisch sozialisiert. Andererseits: Die Nonchalance, mit der ausgerechnet im Bereich Bildung haltloser Behauptung gegenüber noch so validem Wissen der Vorzug gegeben wird, verblüfft selbst in einem Land, in dem die Aufklärung allenfalls eine historische Epoche, doch nichts weniger als gelebte politische Gegenwart ist.
Der religiöse Eifer, mit dem die Gesamtschule hie als bildungspolitisch-messianisches Werk gepriesen, da als gleichmacherisches Teufelszeug geächtet wird, scheut wenig überraschend das Verdikt der Vernunft, weil’s den handelnden Personen ja auch sonst niemals wirklich um den Gegenstand getan ist; der liefert nur den Vorwand für öffentliches Imponiergehabe. Und was dem Gorilla das Trommeln auf die Brust, dem Hirsch das Röhren ist, sind heimischen Bildungspolitikern dieser Tage „Neue Mittelschule“, „Bildungscampus“ und „Schulautonomie“. Wie viel lieber möchte man da Gorilla sein.
Inhaltliche Widersprüchlichkeiten fallen, wo’s überhaupt nicht um Inhalte geht, selbstredend nicht weiter auf. Etwa wie genau es zu verstehen sei, wenn man sich einerseits so öffentlichkeitswirksam wie möglich die neue große Schulautonomie angelegen sein lässt – und dieselben Schulen unmittelbar davor an die Kandare einer Einheitsmatura genommen hat. Wie individuell gefärbt, wie autonom gestaltet kann Unterricht sein, wenn er doch am Ende auf ein und denselben Prüfungspunkt zuläuft? Was soll das Gerede von Eigenständigkeit und „Schulprofil“, wenn zum (hoffentlich) guten Schluss doch alles über einen Einheitsmaturaleisten geschlagen wird?
Kein Wunder, dass etwa Mathematiklehrer dem Vernehmen nach schon jetzt den Zeiten nachtrauern, in denen sie eigene Schwerpunkte setzen konnten im Austausch gegen manches, was zwar lehrplanmäßig vorgesehen, doch kraft ihrer Erfahrung nicht notwendigerweise in der lehrgeplanten Intensität relevant schien. Ganz zu schweigen von den Misshelligkeiten, die man sich mit der Teilung in „Grundkompetenzen“ und „Erweiterte Kompetenzen“ in Mathematicis eingetragen hat. Wer kraft eines dekretierten Benotungsschemas den Grundkompetenzen gegenüber den erweiterten unbedingten Vorrang einräumt, sollte sich nicht wundern, wenn primär diese und nicht mehr jene Gegenstand der Unterrichtung sind (und im Dienste des ersehnten Maturaerfolgs der Schüler auch sein müssen). Nivellierung nach unten? Wer sagt denn so etwas!
Charmant auch die Idee, den Direktoren mit dem aktuellen „Schulautonomiepaket“ endlich Freiheit in der Auswahl ihres Lehrpersonals zuzugestehen – gerade jetzt, wo sie in etlichen Bereichen froh sein müssen, wenn sich überhaupt irgendjemand für einen frei gewordenen Posten findet. Auf allen Bildungsebenen geht das Schreckgespenst des Lehrermangels um. Doch ist es kein Gespenst, es ist längst Wirklichkeit.
Einer von mehreren Gründen: die Massenflucht von Lehrern in die Frühpension. Motto: Rette sich, wer schon ruhestandeln kann! Nicht weiter erstaunlich, hat hiesige Bildungspolitik doch über Jahrzehnte alles dazu getan, den Ruf eines Berufs zu ruinieren, in dessen vorwiegender Verantwortung ein gutes Stück weit Wohl und Wehe unserer Gesellschaft ruht. Allerdings: Den politisch handelnden Bildungspersonen ein systematisches Herunterwirtschaften des Lehrberufs nachzusagen, das freilich wäre wahrhaft übertrieben: Von System kann hier wie in den meisten anderen bildungspolitischen Fällen wirklich nicht die Rede sein. Es hat sich halt irgendwie so ergeben, wie sich halt hierzulande bald einmal etwas irgendwie so ergibt. Österreich – die Republik der Kollateralschäden.
Dass sich Lehrinhalte, nebstbei gesagt, mehr und mehr an einem eher einfältigen Nützlichkeitsdenken zu orientieren scheinen, als sei das dumpfe „Wos brauch i des?“ vergangener Schülertage plötzlich zum bestimmenden Kriterium idealer Allgemeinbildung avanciert, fällt da genauso wenig auf wie jene Lehrerstandesdünkel, die akademischer Graduierung noch immer den unbedingten Vorrang gegenüber pädagogischer Qualifikation erhalten wollen. Ganz zu schweigen von der Selbstverständlichkeit, mit der fallweise aufkeimende Debatten rund um Ferienordnung respektive schulfreie Tage nicht zuletzt von der heimischen Fremdenverkehrswirtschaft bestimmt werden. Das Kindeswohl? Ach was, wen interessiert denn das!
Und dennoch: Sie, liebe Maturantinnen und Maturanten, werden Ihren Weg suchen, und Sie werden ihn – jedenfalls weit mehrheitlich – finden, wie auch unsereiner ihn einst, weit mehrheitlich zumindest, gesucht und letztlich gefunden hat. Sie, verehrte Professorinnen und Professoren, und, Sie, hochlöbliches Direktorium, werden weiterhin genötigt sein, das Beste draus zu machen. Was sollten Sie schon anderes tun? Sie haben eben, zur Warnung aller, die womöglich ihrem Lehrerschicksal folgen wollen könnten, nichts anderes gelernt. Und selbst wenn dieses Beste nicht immer gut genug sein wird und manchmal gar nicht gut genug sein kann, so werden Sie sich dennoch damit trösten dürfen, sich immerhin – weit mehrheitlich – ernsthaft bemüht zu haben. Wie viele Proponenten hiesiger Bildungspolitik dürfen Ähnliches von sich sagen?
War’s das? Schwamm drüber? Schwamm drüber und wieder einmal warten, bis die Gnade einer euphemistisch gestimmten Erinnerung auch diese acht AHS-Jahre wie einst jene, die wir Eltern selbst durchlitten, ins Rosigrote tönt? Ist es das, was wir von dieser Schule für das Leben lernen sollen: dass man eh nichts ändern kann?
Nur allzu gut ist mir die Warnung meiner Physiklehrerin stets in Erinnerung geblieben: „Wenn euch einer erzählt, die Schule sei die schönste Zeit eures Lebens, glaubt ihm nicht. Er lügt.“ Sie hatte damals recht. Sie hat recht bis heute. Ein Menschenleben ist zu kurz, acht Jahre vorzüglich in der Hoffnung zu verbringen, sie mögen möglichst schnell vorübergehen. Es müssen ja nicht unbedingt die schönsten Jahre gewesen sein. Wären sie auch nur schön zu nennen, wären sie schon schön genug.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 8. Juli 2017.