Nordspanien: Wunder, Gott und Gehry

Ein Hintern, auf Staatsakt-Glanz poliert. Knapp 200.000 Pilger jährlich. Eine leibhaftige Erzherzogin von Österreich. Und warum sich Wunder nicht wiederholen lassen. Nordspanien vor dem Papstbesuch in Santiago de Compostela.


Richard Serra reckt seine Fäuste in den Himmel. Amin Maalouf lächelt hintergründig. Spaniens Fußballnationalmannschaft stellt sich artig zum Gruppenfoto. Laureaten der diesjährigen Prinz-von-Asturien-Preise auf dem Weg zur Verleihungszeremonie. Und hinter ihnen noch diverse spanisch-königliche Hoheiten, die dem Teatro Campoamor entgegenstreben: ihrem Amt als Verleiher zu.

Oviedo in diesen Tagen: Wie seit 1981 alljährlich ist in der asturischen Hauptstadt eine hochgediegene Assemblee zusammengekommen, um den mit dem spanischen Nobelpreis-Pendant Geehrten die Reverenz zu erweisen. Und wie seit 2001 alljährlich führt sie dabei ihr Weg unweit jener massigen Skulptur vorbei, die der aus dem Baskenland gebürtige Eduardo Úrculo dem oviedianischen Stadtbild zugesellt hat: unverkennbar menschliches Unterteil ohne Oberteil – und mit viel Hinterteil. Vier Meter hoch stemmt sich der an den Hüften endende Koloss aus der Calle de Pelayo in die Höhe, und dass er den „Culis Monumentalibus“, also den großartigen Ärschen gewidmet ist, wie eine Tafel zu seinen Füßen kündet, erschließt sich auch dem Nichtlateiner mühelos.

„El Culo de Úrculo“, Úrculos Hintern, haben poetisch affizierte Oviedianer mittlerweile das pralle Stück getauft, das sich da schamlos der jedes Jahr zur Prinz-von-Asturien-Preis-Verleihung anreisenden Königshaus-Prominenz entgegenstreckt. Zufall – oder doch politisches Signal? Schließlich pflegt man keineswegs nur im Baskenland, sondern insgesamt im Norden Spaniens, in Galicien, Kantabrien und also auch in der „Autonomen Gemeinschaft des Fürstentums Asturien“ seit einigen Jahren immer intensiver den Ruf der Eigenständigkeit, vor allem der Distanz zu Madrid.

Sei es, wie es sei, jedenfalls wird in Oviedo sicherheitshalber selbst Anrüchiges bis in die intimsten Ritzen geputzt, wenn das Herrscherhaus sich blicken lässt: Schon Tage bevor die hochherrschaftlichen Herrschaften seiner ansichtig werden, zeigt sich der schwarzdunkle Unterleib auf Staatsaktglanz poliert. Als mehrfach mit dem „Goldenen Besen“ belohnte Kommune hat man immerhin einiges an Reputation zu verteidigen, und nicht nur die, eine der saubersten Städte Spaniens zu sein.


Die gläubigste Stadt Spaniens findet man gut 300 Kilometer weiter im Westen: Was sonst bleibt schon Santiago de Compostela übrig, als an seinen eigenen Gründungsmythos zu glauben, ganz fest, granithart wie die Mauern der Kathedrale, die sich heute über dem vermeintlichen Grab des Apostels Jakobus erhebt. Ohne Jakobsgrab wär es nichts mit der Jakobspilgerei, die Jahr für Jahr beträchtliche Einnahmen in eine sonst nicht eben bevorteilte Region spült. Nichts wäre es mit dem Status, nach Rom und Jerusalem drittwichtigster Pilgerort der (katholischen) Christenheit zu sein. Nichts wäre es mit einträglichen Etiketten wie „Unesco-Weltkulturerbe“ (seit 1985) oder „Kulturhauptstadt Europas“ (2000).

Und nichts wär es wohl auch mit einem Besuch des Papstes, der, ehe er am 7. November in Barcelona den Altar von Gaudís „Sagrada Familia“ einweiht, noch auf einen Pilgersprung im Nordwestzipfel der Pyrenäenhalbinsel vorbeischaut. Wär ja auch zu blöd, müsste selbst der Papst in diesem heiligen Jakobsjahr 2010 auf jenen Dienst zurückgreifen, den die offizielle Website der Jakobskathedrale (www.catedraldesantiago.es) für Ferngebliebene bereithält: „Light a candle“, ein Kerzlein anzünden – per SMS, Telefon oder via E-Mail, entsprechend vergebührt, versteht sich.

Dazu passt der Zettel vor dem Pilgerbüro, auf dem ein verzweifelter Wallfahrer den schlimmsten Verlust seines Jakobspilgerdaseins annonciert: den seines iPod, „silver with green cover“. Heiliger Jakob, steh mir bei. Oder wenigstens du, lieber Gott der Elektronikindustrie.

Immerhin, wer Gottesbeweise sucht, in Santiago wird er sie finden: Ohne überirdisches Walten ließe sich kaum die Durchsetzungskraft dessen erklären, was seit mehr als 1000 Jahren wechselnd große Pilgerscharen, derzeit knapp 200.000 Menschen per annum, ins eher entlegene Galicien treibt. Dass es den Apostel Jakobus missionierenderweise von Palästina ausgerechnet hierher verschlagen habe; dass er ausgerechnet, um sich 44 nach Christus köpfen zu lassen, nach Jerusalem zurückgekehrt sei; dass sein Leichnam auf einem von Engeln geführten Schiff ausgerechnet an die Stätte seiner Mission zurückverfrachtet und dort zur (vorerst) letzten Ruhe gebettet worden sei. Woselbst ein Eremit namens Pelayo das Apostelgrab knapp 800 Jahre später entdeckt habe, gerade rechtzeitig, um es am Beginn der Reconquista, der Wiedereroberung Iberiens aus der Hand der finsteren Mauren, als christlichen Imageträger nutzen zu können. Und so weiter und so fort.

In Wirklichkeit freilich ist es längst egal, vor wem oder was da heute täglich Hundert- oder auch Tausendschaften in der Kathedrale von Santiago die Knie beugen: Wie so viele andere hat sich auch der Mythos rund um den Apostel Jakobus über die Jahrhunderte seine eigene Wahrheit geschaffen. Und nimmt man als Maß, was etwa in Oviedo Gläubigen als Gegenstand ihres Glaubens zugemutet wird, nimmt sich die Jakobuslegende ohnehin wie ein plausibler Tatsachenbericht aus. Dort hält man, in der „Cámara Santa“, der Heiligen Kammer, nebst den einschlägig notorischen Märtyrerüberresten auch ganz ernsthaft Muttermilch der Jungfrau Maria und Brot vom Letzten Abendmahl zur Anbetung bereit. Und spätestens da beginnt man sich zu fragen, wo denn wohl kirchlicherseits die Grenze zwischen traditioneller Reliquienverehrung und schnöder Blasphemie zu ziehen wäre.


Zum Staunen findet sich auch weltlichermaßen genug, dem Nordzweig des Jakobswegs entlang, nächst Spaniens Atlantikküste. Etwa im kantabrischen Städtchen Santillana del Mar, das zwar keinen Meereszugang zu bieten hat, wie der Name zu verheißen scheint, aber knapp vor seinen Toren die fast 20.000 Jahre alten Felszeichnungen von Altamira – und knapp neben seiner Kirche die Heimstatt einer leibhaftigen Erzherzogin von Österreich. Die Felszeichnungen kann man (aus Angst, sie könnten durch zu viel Publikum Schaden nehmen) nur mehr im Duplikat besichtigen, die Erzherzogin allerdings im Original – sofern man von Antonio vorgestellt wird.

Antonio, das ist der Milchverkäufer vis-à-vis der bescheidenen erzherzoglichen Wohnstatt, der, kaum hat er etwas von Österreich vernommen, schon eilt, den Besuch bei seiner Nachbarin zu entrieren: Die sei schließlich die „Nichte der Großnichte von Kaiserin Sisi“. Na dann. Die Nichte der Großnichte von Kaiserin Sisi, eine distinguierte Dame in den besten Sechzigern, muss dann erst ein wenig nachdenken – „Das habe ich nicht gleich so parat“ –, ehe sie Antonios genealogische Ausführungen bestätigt. Sie lebe gerne hier, erzählt sie dann. Erzählt vom Lammeintopf, der in ihrer Küche brodle. Und dass das Haus seit 1929 im Familienbesitz sei.

Seit 1929. Das ist selbst in einer auch sonst ziemlich gebeutelten Region wie der Nordspaniens noch eine auffallend bewegte Periode: mit Militärdiktatur, dann Republik, dann Bürgerkrieg. Und es ist nicht zuletzt der Norden Spaniens, in dem die Republikaner lange Zeit Unterstützung finden, Unterstützung gegen den totalitären Machtanspruch eines selbsternannten „Generalísimo“ und „Caudillo“.

Gut 25 Kilometer weiter, im schmucken Küstenstädtchen San Vicente de la Barquera, finden sich noch seine Spuren, frisch, als wäre sein Regime auch 35 Jahre nach seinem Tod noch immer nicht Vergangenheit: An der Kirchenmauer prangt da, leuchtend rot, das Zeichen der faschistischen Falange Española, fünf Pfeile und das Joch. In der Pilgerherberge ums Eck singen Luis und Sofía, das Herbergsleiterpaar, das Hohelied der Völkerverständigung: Nein, vor der Pilgerei seien alle gleich, egal aus welchem Land sie kämen. Und dass es ein gewisser Francisco Franco war, der den Jakobskult mitten im Bürgerkrieg, 1937, neu belebte, und zwar im Zeichen nationalistischer Identitätsstiftung, scheint heute nur mehr die zu interessieren, die faschistische Embleme auf Kirchenmauern malen.


Wunder – aus alten Schlagerzeiten haben wir’s gelernt – gibt es immer wieder. Aber gibt es sie auch in Serie? Als Mitte der 1990er Frank Gehry sein Guggenheim-Museum in die abgewrackte Industriestadt Bilbao beamte, da war rasch selbst in sonst nüchternen Gazetten, etwa der „New York Times“, von einem „Wunder“ die Rede. Und tatsächlich, wie muss sich Gehrys titanglänzendes Kunstraumschiff, das bis heute selbst sein bestes Exponat ist, damals ausgenommen haben, in einem Umfeld voller Fabrikruinen, Rost und Ruß?

Mittlerweile findet es sich begleitet von einer blitzsauberen Flaniermeile entlang des Río Nervión, umzingelt von putziger Aufgeräumtheit allenthalben; die sieben, acht, neun Menügänge in den nobleren Restaurants Bilbaos sind grafisch feinsinniger komponiert als das, was man anderswo üblicherweise an Galeriewände hängt; die raue Arbeitskluft einer in die Jahre gekommenen Stahlstadt hat dem feinen Tuch einer international angesehenen Kunst- und Kulturmetropole Platz gemacht. Und das alles Gehry sei Dank.

Als „Guggenheim-“ oder auch „Bilbao-Effekt“ wurde dieser Imagewandel per Stararchitektur alsbald am Golf von Biskaya herumgereicht. Die Folge: Auf Tourist komm rein wird heute zwischen Bilbao und Santiago de Compostela stararchitektiert, was die Budgets der Kommunen hergeben. Oder eben auch nicht mehr. Eisenman und Niemeyer, Calatrava, Isozaki und Zaha Hadid: Sie alle sind dazu angehalten, ihre mehr oder minder wuchtigen Spuren an mehr oder minder bedeutsamen Stätten zu hinterlassen, auf dass die jedenfalls bedeutsamer würden als davor.

Und in Bilbao selbst, wo alles begann? Da scheint überhaupt kein halbwegs wichtiges Bauprojekt ohne das Engagement eines der internationalen „Big Names“ mehr denkbar zu sein. Dass eine willkürliche Anhäufung von Solitären noch keine Stadt ergibt, lässt sich rund um den Río Nervión schon heute leicht erkennen. Dass ein 700 Kilometer langer Stararchitekturen-Zoo vom Baskenland bis nach Galicien noch keine Kulturlandschaft ist, wird sich mit der Zeit herumsprechen.

Auf ein zweites Wunder Guggenheim Bilbao jedenfalls braucht keiner zu hoffen. Könnte man die in beliebigen Mengen produzieren, wären sie ja keine Wunder mehr. Weder dem Jakobsweg entlang noch andernorts.


Wolfgang Freitag in: „Die Presse“, „Spectrum“, 30. Oktober 2010

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