Nick Drnasos „Acting Class“: Zehn Personen suchen nach sich selbst

2018 für den Booker Prize nominiert, legt Nick Drnaso jetzt eine neue Graphic Novel vor: »Acting Class« – eine Gesellschaft zwischen Amnesie und Paralyse.

Die Idee, Literaten und ihre Literatur durch Auszeichnungen zu ehren, ist ziem lich genauso alt wie die Kritik daran. Ein Blick in die Geschichte jurygestützter Ehrungen legt jedenfalls den Verdacht nahe, jenes Daumenrauf und Daumenrunter gebe weniger valid über gegenwärtige ästhetische denn über künftige ökonomische Werte eines Werks Auskunft.

Ein Effekt, der sich mittlerweile durch die Veröffentlichung von Long- und Shortlists potenzieller Laureaten noch verstärkt hat. Schließlich, was auch immer den ominösen Rang der Nominierung für einen allenthalben angesehenen Preis erreicht, hat beste Aussichten, einer publizistischen Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden, die vielem womöglich gleich oder mehr Bedeutsamen, ist es einschlägig unerwähnt geblieben, ebenso verlässlich verwehrt bleibt. Schon gar, wenn gegenständliches Werk einem Metier entstammt, das im literarischen Betrieb günstigstenfalls als Randerscheinung wahrgenommen wird.

Entsprechend groß war die Aufregung, als sich 2018 eine Graphic Novel auf der Longlist des ehrwürdigen Booker Prize fand, der jährlich an den bes ten englischsprachigen Roman verliehen wird: Nick Drnasos düstere Gesellschaftsanamnese rund um Verschwinden und Tod einer jungen Frau, „Sabrina“ betitelt, die, solchermaßen nobilitiert, plötzlich das Interesse von Berichterstattern fand, die Bilder sonst vielleicht an die Wand hängen, mit Bildgeschichten jedoch kaum mehr als Kinderkram verbinden. Das vielfach artikulierte Erstaunen, dass man’s da offenbar mit einer ernst zu nehmenden Angelegenheit zu tun habe, erzählte mehr über die beschränkte Kultursicht mancher Rezensenten als über Drnasos Werk.

Dennoch, auch jetzt, da Drnasos neueste Schöpfung, „Acting Class“, zur Bewerbung ansteht, wird selbstredend auf die marketingtechnisch so hilfreiche Nominierung von ehedem verwiesen. Womit gehabter Segen leicht zum Fluch werden könnte: Die Longlist-Laureierung von damals wird zur Latte, die vom Heute zu überspringen ist – getreu dem Höher-schneller-weiter-Druck einer Aufmerksamkeitsökonomie, der sich auch der Kulturbetrieb nicht entziehen kann.

Nick Drnaso, 1989 nächst Chicago geboren, vermeidet es, derlei kunstathletischen Bedürfnissen Vorschub zu leisten. Ließ „Sabrina“ schon kraft der Thematik – Fake News und Verschwörungstheorien – öffentliche Anteilnahme weit über die eingeschworene Gemeinde der Graphic-Novel-Kenner hinaus erwarten, greift Drnaso mit „Acting Class“ Fragen auf, die nicht so leicht in zwei, drei Schlagworte zu fassen sind. Auf den einfachsten Nenner gebracht: „Acting Class“ porträtiert eine Gesellschaft, die zwischen Paralyse und Amnesie Richtung Totalitarismus treibt – jeder und jede weder in der Lage, auch nur halbwegs genau zu bestimmen, wer er/sie selber ist, noch, wer er/sie sein soll oder sein will.

Rollenspiele. Da ist Rayanne, alleinerziehende Mutter, ständig von der Sorge gequält, der Hege und Pflege ihres dreijährigen Sohns nicht zu genügen. Dann Rosie und Dennis, denen nach einer Handvoll Ehejahren nicht mehr recht einfallen will, wieso sie noch zusammenleben. Oder die Physiotherapeutin Danielle, die erst ihren Job, dann auch sonst den Boden unter den Füßen verliert. Sie alle und sechs weitere verlorene Seelen führt Drnaso in einem Schauspielkurs zusammen, wie ihn jede Volkshochschule anbietet: jeder auf der verzagten Suche nach einer Form von Existenz, die geeignet wäre, dem Wort Leben zu genügen.

Freilich, von allem Anfang an umgibt die scheinbar so geläufige Versuchsanordnung eine Ahnung des Dubiosen. Ausgangspunkt: die Figur des Kursleiters, der sich möglichst unverbindlich John Smith nennt und im Übrigen konsequent nähere Auskünfte zu sich selbst verweigert. Die Rollenspiele, zu denen er seine Kursteilnehmer anstiftet, sind auch eher geeignet, ihre Verwirrung denn ihr Selbstbewusstsein zu bestärken. Immer öfter verschwimmen ihnen in ihren Improvisationen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Imagination, bis ihnen als einziger Kompass nur mehr der immer unverblümter sich zum Guru aufwerfende Kursleiter verbleibt.

100 Jahre nach der Uraufführung von Luigi Pirandellos Schlüsselwerk der Theatermoderne, „Sechs Personen suchen einen Autor“, lässt Drnaso zehn Personen auf der Suche nach dem Sinn fast beiläufig in die totale Abhängigkeit gleiten: in die Fänge eines Scharlatans, der ihnen Gott weiß was, nur sicher nichts Gutes will.

Zeichnerisch verweigert Drnaso seinen Figuren so gut wie jede äußerliche Individualität: Als Mindestmaß der – fürs Leserverständnis erforderlichen – Unterscheidbarkeit müssen streng stilisierte Frisuren herhalten. Die Welt wiederum, in der sich die Handlung begibt, ist stets Kulisse – Handlungsrahmen ohne Kenntlichkeit im Konkreten. Ergebnis: eine Atmosphäre der Künstlichkeit, die dem Betrachter jede Orientierung verweigert, wie denn, wovon erzählt wird, einzuordnen sei. Ist’s Spiel, ist’s Wirklichkeit, ist’s Wahnsinn, hat’s Methode? Ein Kniff, der maßgeblich zur Wirkung beiträgt: Das Unbehagen, das die Figuren vor sich hertreibt, überträgt sich direkt auf den Betrachter, reißt ihn mit in den Strudel der Ungewissheiten.

Dass Drnaso in diesen raffinierten Exerzitien des Ungefähren ausgerechnet die Figur des Kursleiters gleich zu Beginn durch eine Äußerlichkeit als „anders“ kenntlich macht, scheint in solchem Kontext eher läppisch: Zahnlücken als eine Art Hinweisschild „Vorsicht, Gefahr!“, das erinnert schmerzhaft an Zeiten, in denen das Böse auf Bühnen und Leinwänden noch Buckel trug oder wenigstens zu hinken hatte.

Dennoch: Nach „Sabrina“ hat sich auch „Acting Class“ fraglos jede Beachtung verdient – mit oder ohne Nominierung. Einfach so.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 23. Oktober 2022

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