Wozu Kerzen? Wozu Bäume? Wozu Vanillekipferln? Wozu ein Weihnachtsmann, der auf offenem Schlitten über den Himmel rast – ohne Helm und ohne Gurt? Weihnachten muss endlich sicher werden. Eine Sachverhaltsdarstellung.
Die Welt steckt bekanntlich voller Gefahren. Tag für Tag und Nacht für Nacht bedrohen sie uns, kreisen uns ein, halten uns gefangen. Gewiss, wie viel mehr an Schutz haben wir in der jüngeren Vergangenheit schon erreicht! Keine Stufe ohne Geländer, kein Wohnzimmer ohne Alarmanlage, keine Felswand ohne warnendes Schild (Achtung, Absturzgefahr!), das ist das Credo, das uns geborgen fühlen lässt. Doch noch gibt es Lücken im System der allumfassenden Security, die uns Unbehagen bereiten.
Führend in allen Fragen der Sicherheit ist seit Jahren der angloamerikanische Raum. So werden die 60 Millionen Briten derzeit schon von mehr als vier Millionen Kameras überwacht, was ihnen jenes heimelige Gefühl vermitteln mag, wie wir es im katholischen Mitteleuropa aus weniger säkularen Tagen vom „Auge Gottes“ kennen: „Es gibt ein Aug, das alles sieht, wenn’s auch in dunkler Nacht geschieht.“
Wobei sich das Bemühen um allseitiges Ausschalten potenzieller Bedrohungen in den USA wie in Großbritannien keineswegs auf den öffentlichen Bereich beschränkt: Bis hinein ins Intimste familiärer Feste wird alles einbezogen. So löste jüngst die britische Künstlerin Tacita Dean beträchtliche Irritation aus, als sie ihren für Tate Britain in London gestalteten Weihnachtsbaum nicht mit den sonst auch in Privathaushalten oft üblichen elektrischen, sondern mit echten Kerzen schmückte und zudem deren regelmäßige Entflammung vorschrieb. Immerhin scheint man sich amtlicherseits des Risikopotenzials dieser als „Kunstaktion“ ausgewiesenen Gemeingefährdung insoweit bewusst gewesen zu sein, als man ihre Durchführung, so gut es ging, zu unterbinden suchte: Der entsprechende Weihnachtsbaumkerzen-Behördenverkehr fülle „einen sehr dicken Ordner“, bekannte Tacita Dean dem „Daily Telegraph“ gegenüber.
Hierzulande hat die britische Kerzen-Debatte eine andere jahreszeittypische Gefahrenquelle in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt: das Vanillekipferl. Äußerer Anlass ist der traurige Fall der Aloisia H., der Österreich seit Tagen bewegt. Das Unheil nahm vergangenen Dienstag, nachmittags gegen fünf, seinen Lauf, als sich die 56-jährige Steirerin anschickte, für ihre Familie eine mittlere Portion Vanillekipferln zu backen. Schon beim Zerkleinern der Nüsse geriet sie mit den Fingerkuppen in die elektrische Nussreibe. Als sie, nach diesem kleinen Zwischenfall noch unbeirrt, den Kühlschrank öffnete, um ihm die Butter zu entnehmen, schlug sie sich den Kopf am Eibehälter wund. Auf dem Ei, das dabei zu Boden fiel, glitt Aloisia H. aus, stürzte und brach sich das rechte Schienbein. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zurück Richtung Tisch, um ihr dort abgelegtes Mobiltelefon zu erreichen, geriet versehentlich abermals mit den Fingern in die Nussreibe, schlug beim verzweifelten Versuch, sich daraus zu befreien, mit dem Kopf an die Tischkante, verlor das Bewusstsein und verblutete elend und einsam vor dem mittlerweile vorgeheizten Backrohr.
Die Vanillekipferl-Tragödie der Aloisia H. ist kein Einzelfall. Nach aktuellen Schätzungen mehrerer unabhängiger Schätzungsinstitute erleiden jedes Jahr durchschnittlich 7,82 Österreicherinnen und Österreicher beim Vanillekipferlbacken schwere und schwerste Körperverletzungen, alle 2,47 Jahre kommt eine/r zu Tode. Das mag auf den ersten Blick wenig scheinen, hochgerechnet auf die Weltbevölkerung allerdings ergeben sich daraus nahezu 7000 schwer- und schwerstverletzte Vanillekipferlbäcker und -bäckerinnen weltweit pro Jahr bei durchschnittlich mehr als 350 weltweiten Vanillekipferl-Todesfällen jährlich.
Zahlen, die nachdenklich stimmen. Zahlen, die mittlerweile auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) alarmiert haben. In einer gemeinsamen Erklärung haben sie die internationale Gemeinschaft aufgerufen, zum Wohle der Weltgesundheit und zum Schutze der Werktätigen das Vanillekipferlbacken aus den Küchen zu verbannen.
Die Regierung in Wien hat den Fall Aloisia H. und den Aufruf der beiden UN-Organisationen zum Anlass genommen, ein umfangreiches Maßnahmenpaket zu beschließen. Dazu gehören unter anderem die Ächtung des Vanillezuckers, die Verpflichtung, Kühlschränke ab sofort mit dem Warnhinweis „Vorsicht! Öffnen gefährdet Ihre Gesundheit!“ zu versehen, sowie ein generelles Nutzungsverbot von Mobiltelefonen im Küchenbereich. Damit solle, wie aus dem Ministerrat verlautete, das Vanillekipferl-Problem an den Wurzeln bekämpft werden. In einem weiteren Schritt ist auch an die Verhängung eines generellen Vanillekipferl-Verbots gedacht. In der Vergangenheit habe es sich nämlich gezeigt, so ein Regierungssprecher nach dem Ende des Ministerrats, dass Vanillekipferlbacken gleichsam als Einstiegsdroge für noch wesentlich unheilvollere Tätigkeiten wie Schlagobersschlagen oder Grießkochrühren diene.
Vertreter der Opposition zeigten sich mit dem Regierungskompromiss unzufrieden und forderten ein sofortiges allgemeines Verbot der Vanillekipferlbäckerei. Während rechtsgerichtete Kräfte als Argument ins Treffen führten, das Kipferl gemahne in seiner Formensprache eher an orientalische Symbole und habe im Abendland an sich schon nichts verloren, zeigten sich Umweltaktivisten vor allem über die „verheerende CO2-Bilanz“ des Gebäcks bestürzt: Bei der Herstellung eines einzigen Vanillekipferls entstehe mehr Kohlendioxid, als der gesamte Regenwald der Inneren Mongolei in zwei Jahren zu binden vermöge.
Namhafte Beobachter in Brüssel vertreten die Auffassung, die sicherheitspolitische Vanillekipferl-Debatte in Österreich werfe über den unmittelbaren Anlassfall hinaus eine Reihe wichtiger Fragen auf: So sei das Weihnachtsfest unter dem Aspekt eines verstärkten Sicherheitsbedürfnisses möglicherweise grundsätzlich zu überdenken. Kenner der EU-internen Strukturen verweisen in diesem Zusammenhang nicht nur auf offensichtliche Gefahrenquellen wie Kerzen und Bäume, sondern auch auf die gängigen Weihnachtsmann-Darstellungen und ihre fragwürdige erzieherische Wirkung auf die Jugend: „Da rast einer Jahr für Jahr auf offenem Schlitten über den Himmel, noch dazu ohne Helm und ohne Gurt, und keiner tut etwas“, meint dazu kopfschüttelnd ein nicht genannt werden wollender Insider (Name der Redaktion bekannt).
In eine ganz andere Richtung weist eine offizielle Stellungnahme der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco), die dem „Spectrum“ kurz vor Redaktionsschluss exklusiv zugespielt wurde: Das Vanillekipferl sei gestern gemeinsam mit Gugelhupf und Topfenstrudel in den Kreis des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen worden, ein womöglich generelles Vanillekipferlverbot verstoße gegen internationales Recht und führe zum automatischen Ausschluss Österreichs aus der Weltöffentlichkeit. Eine Reaktion aus Wien steht zur Stunde noch aus.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 24. Dezember 2009