Fast zeitgleich mit Flix hat sich das Team Zidrou/Frank Pé einer der faszinierendsten Schöpfungen aus der Feder von André Franquin angenähert. Seit Kurzem liegt der abschließende Band zwei vor. „Marsupilami: Die Bestie“: mein „Comic des Monats“ im Jänner 2024.
Einmal im Leben so richtig „Huba!“ sein. Nur ein klein wenig. Einfach so. Andererseits, wer weiß denn schon ganz genau, was dieses „Huba!“ eigentlich bedeutet?
Es geschah im Jänner 1952. Ein Wesen trat in die Welt, wie es bis dahin keiner gesehen hatte: hüpffreudig wie ein Känguru, gefleckt wie ein Gepard, stark wie ein Bär, mit nimmermüdem Appetit gesegnet und einem Schwanz, der in puncto Länge und Anwendungsfähigkeit alles übertraf, was irdische Natur je erdacht hatte. Im belgischen Comicmagazin „Spirou“ ward es entdeckt, das Marsupilami, in einer von André Franquin verantworteten Episode der Serie „Spirou und Fantasio“, und ab da war es nicht mehr wegzudenken aus dem exklusiven Zirkel der extravagantesten Kreaturen, die Kunst je hervorgebracht hat. Ist doch erstaunlich, wie weit man’s bringen kann mit einem Vokabular, das kaum je über oberwähntes „Huba!“ hinauskommt.
Nun, bekanntlich hat alles seine Geschichte, und so ist auch ein so schöpferisch geschöpftes Geschöpf wie das Marsupilami nicht einfach so – will sagen ohne Vorbild – aus heiterem Himmel in seine Heimat, den palumbianischen Dschungel, geplumpst. 1936, in einem Strip von E. C. Segars „Popeye The Sailor“, feierte eine Figur ihre Premiere, Eugene the Jeep benannt, die einiges mit Franquins Marsupilami teilt: die gelbe Grundfarbe des Fells, den langen Schwanz, bemerkenswerte Körperkraft, hohe Intelligenz bei gleichzeitig eng begrenztem Wortschatz – mehr als besagtes „Jeep“ ist Eugene the Jeep nicht abzuringen.
Dass derlei Koinzidenzen in Wahrheit doch kein Zufall sind, bestätigte Franquin selbst: Eugene the Jeep, im Französischen Pilou-Pilou genannt, habe er schon in seiner Kindheit kennen- und lieben gelernt, das Pil in Marsupilami sei als Hommage daran gedacht. Und der Rest des Namens? Die Endung ami „sollte die sympathische Seite widerspiegeln“, der Beginn wiederum leitet sich von einem zoologischen Sammelbegriff der Beuteltiere, Marsupialia, ab.
Interessant die wenig euphorische Einschätzung, die Franquin seinem Wundertier auf den Weg in den Comicparnass mitgab: Die Figur sei „gut, gleichzeitig aber auch sehr begrenzt“: „Da das Marsupilami stumm ist, bleibt sein Tun nur eine Ergänzung zu den Handlungen der Helden. Zudem sind seine Eigenschaften nicht gerade vielfältig. Das Marsupilami kann mit seinem Schwanz zwar kräftige Schläge austeilen, es kann damit auch diverse Kraftakte vollbringen, aber eine tiefsinnige Philosophie darf man von ihm nicht erwarten.“ Was Franquin freilich nicht daran hinderte, bei seinem Abschied von der Serie „Spirou und Fantasio“, 1957, sich ausgerechnet die Rechte am Marsupilami vorzubehalten.
Wie auch immer: Bis heute, fast 30 Jahre nach Franquins Tod, wird von wechselnden Autoren – und zumindest äußerlich im von Franquin vorgegebenen Stil – an der Marsupilami-Welt fortgeschrieben und fortgezeichnet, was (wie in so vielen vergleichbaren Fällen) nicht immer der ursprünglichen Schöpfung zum Vorteil gereicht. Deutlich lohnender jene Fälle, in denen arrivierte Autoren/Zeichner sich dazu verstehen, sich aus ihrem je eigenen ästhetischen Blickwinkel einer vorgegebenen Figur und ihrem Kosmos anzunähern. Allemal bestens in Erinnerung: die durchweg überzeugende Lucky-Luke-Aneignung, die Ralf König 2021 vorgelegt hat: noch immer ganz Lucky Luke, aber doch erstaunlich so sehr Ralf König, wie man sich’s davor nicht hätte vorstellen können.
Franquins Marsupilami wurden derlei Ehren in jüngster Vergangenheit gleich zweimal zuteil: Da ist einmal die Version des Felix Görmann, besser bekannt unter dem Kürzel Flix, der 2022 unter dem Titel „Das Humboldt-Tier“ den gelbschwarzen Hüpfer aus dem palumbianischen Urwald in den Berliner Großstadtdschungel der Weimarer Republik versetzte. „Ein Freund hat mir von seiner Arbeit als Zeichner im Berliner Naturkundemuseum erzählt“, wusste Flix anlässlich der Vorstellung des Bands der „Süddeutschen Zeitung“ zu berichten. „Dort gibt es eine große Menge an Kisten, die Forscher von ihren Reisen mitgebracht haben und erst nach und nach geöffnet werden. Alexander von Humboldt etwa hat unglaubliche Mengen gesammelt, die erst nach Paris geschickt wurden, und als man sie dort nicht mehr haben wollte, nach Berlin. Wenn sich in den Kisten exotische Tiere befinden, werden sie nicht fotografiert, sondern gezeichnet, da sich die Merkmale einer Spezies so besser festhalten lassen. Na, und da habe ich mir gedacht: In solch einer Kiste könnte auch ein Marsupilami stecken, das dann zum Leben erwacht.“
So weit, so einsehbar. Und so wenig überraschend, dass Flix’ Marsupilami eher dem von Franquin als der Zeichnung eines zoologisch akribischen Tierporträtisten ähnelt. Flix’ Faible für die fankobelgische Comicschule ist schließlich schon seit Längerem Interview-aktenkundig.
Ganz anders der Weg, den Frank Pé für seinen Zweibänder „Marsupilami: Die Bestie“ einschlägt: Da könnte man mitunter leicht auf den Gedanken kommen, Flix’ Freund aus dem Berliner Naturkundemuseum habe beim Artwork mitgeholfen. Detailgenau bis in die Haarspitzen steht Pés Marsupilami vor uns, als wäre es um die Illustration zu einem Lexikoneintrag, Stichwort: „Marsupilami, das“ et cetera, gegangen, und wo es sich in Bewegung setzt, sind die Abläufe mit einer Akribie ins Bild gesetzt, als wollte da einer die Ergebnisse einer wissenschaftliche Studie präsentieren.
Tatsächlich ist es Pé nicht um eine knuffige Comicfigur getan, vielmehr um das unmittelbar Animalische. Pé sucht das Tier im Marsupilami, nicht das Unterhaltungspotenzial, das es bietet, sucht eine Realität, die es doch recht eigentlich gar nicht geben kann. Und schließt damit direkt an seine Winsor-McCay-Aneignung an, die er fast zeitgleich mit dem ersten „Bestien“-Band 2020 vorgelegt hat. Die Traumwelten von „Little Nemo“, fortfantasiert und vor allem ernst genommen: jenseits alles Skizzen- oder Karikaturhaften Abbild einer Wirklichkeit, die nur einen Fehler hat – diese Wirklichkeit kann nicht wirklich sein. Entlang eines Szenarios von Zidrou entwickelt sich eine Handlung, die zur Zeit der ersten marsipulamischen Comic-Hochblüte, in den „Spirou-und-Fantasio“-Storys Mitte der 1950er spielt – und in einem Belgien, in dem es entweder regnet oder jedenfalls dermaßen düster ist, als sei der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs noch längst nicht aus dem Land gewichen.
Und tatsächlich, noch immer wirken sie nach, die sechs Jahre unter deutscher Besatzung und ihre Folgen. Eine dieser Folgen hört auf den Namen François und schlägt sich recht und schlecht durchs Schülerleben, nach Kräften unterstützt von einer Mutter, die ihrerseits eine Existenz am Rande zu führen genötigt ist: Sich mit einem Deutschen eingelassen zu haben, ist auch zehn Jahre nach Kriegsende noch unverzeihlich.
Der erzählerische Kniff dabei: Die Gesellschaft, die Zidrou und Pé solchermaßen porträtieren, ist genau jene, aus denen einst das Marsupilami kraft Franquins Ingenium geboren wurde und für die es ursprünglich geschaffen war – als ein wenig Erhellung in einer sozialen Finsternis, in der vom Glanz der Wirtschaftswunderjahre noch nichts zu spüren war.
Und genau in diese Finsternis platzt nun eben auch bei Zidrou und Pé jenes mysteriöse Dschungeltier. Eingesperrt in eine Holzkiste, hat es als wertvollstes Gut eines illegalen Schiffstransports, der eine Großlieferung an südamerikanischen Wildtieren nach Belgien bringen soll, die Fahrt überlebt. Das Marsupilami – eine geschundene Kreatur, der nichts ferner scheint als jenes Jux-und-Abenteuer-Trallala, das man bisher mit ihr verbunden hat. Nix da „Huba! Huba!“, hier wird historisch Ernsthaftes verhandelt.
Jenseits jeder Vermenschlichung bleibt Pés Marsupilami auch, als es, kaum seinen Häschern entronnen, sich zunächst in der kuriosen Menagerie einquartiert, die François zum Gram seiner Mutter um sich versammelt hat, allesamt Findlinge, eine Arche Noah der gestrandeten Tiere im Haus zweier gestrandeter Menschenseelen. Dass es daselbst keine Ruhe findet, versteht sich gängiger Dramaturgiekonzepte nach genauso von selbst, wie dass es – Gegenstand im kürzlich erschienenen Band zwei – nach wilden Hetzjagden kreuz und quer durch Nachkriegsantwerpen doch wieder in seine Urwaldheimat zurückzukehren vermag. Und ganz nebenbei scheint auch die belgische Welt zuletzt ein gutes Stück weit heller, freier, versöhnlicher als zu Beginn.
Ende gut, alles gut? Mag auch Zidrous Handlungsführung mitunter ein wenig gar zu routiniert scheinen, der Kunst des Frank Pé liefert sie Vorlagen, die dem Betrachter schlichtweg den Atem verschlagen. Wie schon sein „Little-Nemo“-Band verbindet auch diese „Bestie“ einen Ehrenplatz in jeder Bibliothek: dort, wo die Kunst einen Traum vom Leben trifft.
Der „Comic des Monats“ im Jänner 2024
Zidrou, Frank Pé
Marsupilami: Die Bestie
Aus dem Französischen von Marcel Le Comte.
Band 1: 164 S., € 25; Band 2: 208 S., € 30
(Carlsen Verlag, Hamburg)