Kulturarbeit im Pflegeheim: Die Stoffe des Lebens

Wenn Menschen unsichtbar werden – und wie man sie wieder sichtbar macht. Über Teufenbach, sein Seniorenheim und Kulturarbeit, die im Alltag gründet. Nachrichten aus dem oberen Murtal.

 

Es hängt was in der Luft in Teufenbach. Schriften, handgemalt, auf großen Tüchern. Am alten Pfarrhaus und am Gemeindeamt, am Musikheim, am „Hubertus-Hof“ und, zwischen Bäume gespannt, mitten auf der Festwiese. Das liest sich dann so: „Wär gern Lehrerin geworden, aber der Vater hat gsagt: Du Fratz, du wirst die Bauernarbeit lernen. Und so ists gewesen.“ Oder: „Früher waren so viel Wunder, und heute passieren sie nicht. Warum waren so viel Wunder? Weil die Leute dumm waren.“ Und: „Der Bauer darf es nicht sehen: ein Sackerl Korn und ein geheimes Butterbrot.“ Jedes für sich ein Stück gelebtes Leben, „Textfahnen“, die im Wind der Gegenwart von vergangener Wirklichkeit genauso wie von Bewusstheit im Hier und Heute erzählen. Woher sie stammen und wer sie in die Teufenbacher Luft gehängt hat, das ist eine der kleinen, großen Erfolgsgeschichten jener Kulturarbeit, die – statt in spektakulären Posen – im Alltag gründet, die, statt Thesenpapiere zu schwingen, ihre Aufgabe in der konkreten Begegnung mit dem Einzelnen sucht: so nah am Menschen, wie Kunst nur immer sein kann – und Kulturarbeit, die sich selber ernst nimmt, immer sein muss.

Und das kam so: Für den Steirischen Herbst 2009 entwickelte die Grazer Kulturinitiative „UniT“ das Projekt „Hotel Rollator“. Gemeinschaftlich sollten Künstler und Bewohner des Caritas-Pflegeheims Graz-Sankt Peter Erzähltes und Erinnerungen in Bilder verwandeln. Edith Draxl, „UniT“-Aktivistin der ersten Stunde, war dabei: „Als Teil dieser Arbeit haben wir angefangen, die Pflegeheimbewohner zu fotografieren und Collagen zu gestalten, und dabei ist uns klar geworden, dass das Thema Kleidung für ältere Menschen sehr heikel ist: zum einen weil man entweder dünner oder dicker wird, es gibt ja nur wenige, die ihre Figur behalten können. Und das Zweite, was uns aufgefallen ist: dass das Anziehen so schwierig wird. Dass es für viele wichtig ist, Kleidung zu haben, die man sich drüberlegt oder in die man möglichst einfach schlüpfen kann.“

So weit die praktische Seite. Andererseits sei das Thema Schönheit für alte Menschen in besonderem Maße von Bedeutung. Edith Draxl: „Auch die wollen schön sein. Ich hab das auch bei meiner Mutter erlebt, die kürzlich mit 91 Jahren gestorben ist. Die war keine eitle Frau, aber sie wollte immer ordentlich hergerichtet sein.“ Und Edith Draxl hat dazu noch das passende Diktum eines Freundes parat: „Wenn man jung ist, ist es wurscht, aber wenn man alt ist, muss man den Kadaver gscheit verhüllen.“

Es sind Einsichten wie diese, die „UniT“ in Graz-Sankt Peter eine erste Modeaktion für die Pflegeheimbewohner organisieren lassen. Und die wiederum wird zum Ausgangspunkt eines ganzen Projekts, das die diesjährige „Regionale“, das biennal ausgetragene steirische „Festival für Gegenwartskunst abseits der Ballungszentren“, aufs Erfreulichste ziert: Immerhin hat sich die, im Bezirk Murau angesiedelt, als eines von drei Schwerpunktthemen „Zusammenleben/Zusammenarbeiten“ vorgenommen, da kann ein Vorhaben, das sich erklärtermaßen eine „intime Annäherung an die Biografien älterer Menschen“ zum Ziel gesetzt hat, und zwar über einen „künstlerischen Prozess, der die Generationen miteinander ins Gespräch bringt“, nur willkommen sein.

An potenziellen Austragungsorten mangelt es nicht in einem Bezirk, der mit stolzen Abwanderungsraten und folglich merkbarer Überalterung geschlagen ist. Die „Regionale“-Organisatoren schlagen „UniT“ das Dörfchen Teufenbach vor. Gewiss nicht zufällig, die 730-Seelen-Gemeinde im oberen Murtal erschließt sich selbst dem hastigen Besucher als einigermaßen intaktes Gemeinwesen in einem sonst eher krisengebeutelten Umfeld: mit immerhin noch einem Wirtshaus, einem kleinen Supermarkt, frischen Farben an den Hausfassaden, wenig Leerstand, regelmäßigen Budgetüberschüssen, einem Agilität versprühenden Bürgermeister. Und – eben – dem Seniorenwohnheim Schloss Neuteufenbach, das sich schon dem äußeren Anschein nach von vergleichbaren Instituten in angenehmer Weise unterscheidet: in aussichtsreicher Lage auf sanftem Hügel, und doch noch Teil des Ortsgefüges, das bisschen historische Schlossbausubstanz geschickt mit lichtdurchflutet offenen Zubauten erweitert – und als nächster Nachbar nicht Spital oder womöglich Friedhof (was auch vorkommen soll), sondern der gemeindeeigene Kindergarten, dessen aufgeweckte Nutzer mit den Ahneln vis-à-vis im besten Einvernehmen stehen. So einfach lässt sich die so oft inniglich geforderte Begegnung von Alt und Allerjüngst befördern.

Und dennoch, selbst hier, unter vergleichsweise günstigen Voraussetzungen, gilt, was Edith Draxl aus deutlich weniger vorteilhaften Seniorenwohnheimsituationen umso besser kennt: „Alte Menschen und speziell alte Frauen sind in gewisser Weise völlig unsichtbar. Sie sind zwar da, aber sie werden in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen.“ Was keineswegs nur ihrer mehr oder minder dramatisch eingeschränkten Mobilität geschuldet sei. „Wir wollen sie wieder sichtbar machen: mit ihren Geschichten, mit ihren Erinnerungen, mit ihrem Leben im Jetzt.“ Denn auch in einem Pflegeheim sei nicht das Sterben, sondern das Leben Hauptthema, „ganz ohne Verdrängung“: „Hier geht es nicht ständig um den Tod, hier geht es um die Frage: Wie lebe ich jetzt noch gut? Diese Menschen sind nicht nur unter dem Gesichtspunkt Defizit zu sehen.“

Im Oktober 2011 startet die Arbeit an „Teufenbach Eins“, wie das Projekt ab da genannt wird, Untertitel „Kleider machen Geschichten“. Und mit diesen Kleidern hat es eine eigene Bewandtnis: Die Stoffe dafür sollen gleichsam ein Stück Dasein nach außen tragen. Edith Draxl und ihre Mitstreiter lassen sich Lieblingsgegenstände zeigen, das stockfleckige Kochbuch, das ehrwürdige Kastl, alte Teufenbach-Ansichten, sie laden zu einem Fotoshooting, für das sich die Senioren je nach Lust mit ein paar Requisiten ausstaffieren können, und all das mündet in Textilentwürfe, die ihrerseits, geschneidert zu Westen, Schürzen, Tüchern, einen kurzen Blick ins Innere ihrer Träger gewähren, in das „Woher wir kommen“ wie in das „Wo wir jetzt sind“.

16 der gut 60 Seniorenheimbewohner treten dann Ende Juni an, ihr neues Outfit sogar vor Publikum zu präsentieren: auf der Teufenbacher Festwiese, im Rahmen des Dorffests, bei einer Modenschau der ganz anderen Art. Keine ins Geschichtslose geglätteten Gesichtsfassaden, keine anorektischen Körperlosigkeiten, gehüllt in weltfremd Sonderliches, gibt’s da zu bewundern, sondern das volle Leben von sieben, acht und auch noch mehr Dezennien, das an diesem heißen Sommernachmittag nichts, am wenigstens sich selber, zu verstecken hat.

„Ich war am Anfang ja skeptisch, hab mir gedacht: Was wollen die von uns?“, bekennt Gabriela Brunner, Pflegedienstleiterin des Teufenbacher Seniorenheims. „Und ich war dann völlig überrascht bei der Präsentation, die Stoffe, die Geschichten, es war alles so passend und mit Gefühl gefüllt.“ Am Abend nach dem Fest sei sie in jedes Zimmer der betagten Models gegangen: „Ich wollte schauen, ob sie sich gut fühlen, ob alles in Ordnung ist, und sie sind so gelegen, abgeschnauft, aber mit strahlenden Augen. Die waren alle so dankbar, dass sie teilnehmen konnten, dass sie nicht abgeschoben sind, Motto: Wenn ein Fest ist, das ist nix für uns.“

Das wundersame Prêt-à-porter von Teufenbach, in den Straßen und Gassen des Dorfs ist es noch immer zugegen: großformatig hinter Fenstern, Auslagenscheiben, an Bushaltestellen, in fotografischen Impressionen, die unendlich viel über die Gemeinde, ihre Bewohner und ihre Geschichte erzählen, den Ortskundigen ein raffiniertes Vexierspiel voller Hinweise und Lokalbezüge, dem nicht vorbelasteten Betrachter schlicht ein alertes Manifest des Weiter- und des Überlebens. Die Botschaft ist denkbar einfach: Wir sind da. Noch immer. Und wie.

Und da sind auch, wortwörtlich, die Erinnerungen, die Erzählungen, die fallweise reichlich kecken Einsichten der Teufenbacher Schloss-Senioren: auf den „Textfahnen“, die Andrea Markart gestaltet hat – aus Sentenzen, aufgezeichnet von der Grazer Autorin Natascha Gangl. Die hat sich für „Teufenbach Eins“ tagelang im Pflegeheim umgetan, hat aufmerksam zugehört, hat notiert, später Gehörtes, Erlebtes poetisch verdichtet, ohne die wilde Willkürlichkeit gesprochener Sprache grammatisch zu domestizieren. Das Ergebnis: „Teufenbach total“, 40.000 Zeichen voller Wissen um die Welt, wie sie sich im Teufenbacher Spiegel wiederfindet: „Meine Mutter war Hebamme. Nächteweise war sie fort. Neben meiner Mutter war ich nie sehr viel. Und sie ist auch sehr früh gestorben. Mit 51 Jahren. Aber da war ich ja auch schon bald verheiratet. Und jetzt bin ich schon 30 Jahre Witwe. Hab trotzdem ein schönes Leben gehabt.“ Oder: „Mein Großvater war immer . . . der war immer: Brautführer. Wenn sie eine Hochzeit gehabt haben, haben sie alleweil ihn als Brautführer genommen, der hat immer schnell was beieinand gehabt. Und nachher ist er einmal gegangen, als Brautführer, mit Bändern, wie’s früher war. Und hat getanzt mit den Weibern. Hat getanzt und getanzt und hat vergessen, auf die Seite zu gehen. Ist ihm die Blase gesprungen. Gestorben ist er. Mein Großvater. Ja.“ Oder: „Da war ein großer Obstgarten. So viel Äpfel am Boden. Wer geht rein? Wer steigt rein? Der Bauer ist gleich mit der Gabel dahergekommen, mit der Mistgabel, dabei haben wir eh nur einen für jeden aufgeklaubt. Was die Leut geizig waren!“

Nein, von Verklärung steht da nicht viel zu lesen, sehr viel mehr von Sinn für die Wirklichkeit, der immer wieder Not und Verzweiflung, aber auch unbeugsamen Witz aufblitzen lässt: „Wenn ich mal sterbe, dann lach ich noch im Sarg drinnen. Da müsst ihr gut lauschen. Ich hörs ja nimmer.“ Einer der Sätze, der es auf eine Textfahne geschafft hat. An der Kirchhofmauer ist er aufgespannt. Sogar der Tod ist mancherorts ein lustiger Kerl. Und jedenfalls ein Teil des Lebens.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 14. Juli 2012

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