Frank Pé mal McCay: Wenn plötzlich alles möglich ist

Mit »Little Nemo« hat Winsor McCay einen frühen Klassiker der Comic-Kunst geschaffen. Mehr als 100 Jahre später wandelt Frank Pé auf McCays Spuren durch die Welt der Träume.

Als das Wünschen noch geholfen hat, da war das Träumen gewiss eine ganz und gar unschuldsvolle Angelegenheit. Doch diese Grimm’schen Märchenzeiten sind lang vorbei, und spätestens seit Sigmund Freud ahnen wir, was alles hinter dem Tohuwabohu steckt, das sich in unseren Köpfen ausbreitet, sobald wir die Augen zur Schlafesruhe geschlossen haben.

Es muss kein Zufall sein, dass nur wenige Jahre nach Freuds „Traumdeutung“, erschienen 1900, eine Comic-Serie ihren Anfang nahm, die gleichfalls den mysteriösen Kosmos unserer Nachtmahre, Albdrücke und ja, auch vibrierenden Sehnsuchtsvisionen in den Blickpunkt rückte. Am 15. Oktober 1905 erschien die erste Folge von „Little Nemo in Slumberland“ in der Tageszeitung „New York Herald“, und was immer sich ihr Schöpfer, Winsor McCay, seinerseits davon erwartet haben mag, eines sicher nicht: dass seine Schöpfung noch mehr als ein Jahrhundert später seine künstlerischen Ururenkel dazu inspirieren würde, sie fortzuschreiben.

Der Reihe nach. 1871 wird Zenas Winsor McCay in Spring Lake, Michigan, geboren. So hat zumindest er selbst behauptet. Und sein Nachruf in der „New York Times“. Auf McCays Grabstein allerdings scheint 1869 als Jahr der Geburt auf. Andere Quellen wiederum wollen ihn bereits 1867 geboren wissen – und zwar in Kanada. Wir sehen schon: Fester Grund ist bei McCay nicht leicht zu finden. Gleichsam von den Banalitäten seiner Vita an begleitet ihn das Ungefähre, Vage, das Fantastische, ja auch die Illusion, das, was ungreifbar und doch stets gegenwärtig ist, nicht festgelegt wie Tisch, Bett und Geburtsurkunde, und doch nicht weniger wirklich als sie – formlos wie Flüssiges, flüchtig wie Gas und dennoch Materie, die unser Leben formt. Plakate für „Dime Museum“. Da passt es nur zu gut, dass McCay, von seinem Vater auf eine biedere Businesskarriere eingestimmt, sein erstes Geld in der zwielichtigen Welt der Schaustellerei verdient: In Cincinnati malt er Werbeplakate für ein „Dime Museum“, eine in jenen Tagen allseits beliebte Form des Kuriositätenkabinetts, die um den Eintrittspreis von zehn Cent, also einem Dime, auch Jahrmarktssensationen wie Elefantenmenschen, Frauen ohne Unterleib und ähnliche Fragwürdigkeiten präsentiert. Dass McCays Plakate deutlich aufregender sind als das, wofür sie werben, bleibt nicht lang folgenlos: Als McCay 1903 nach New York übersiedelt, kann er schon auf einige Expertise in Sachen Karikatur und Zeitungsillustration verweisen.

In New York freilich öffnet sich ein für ihn neues Feld: Gerade eben haben Zeitungsgranden wie Joseph Pulitzer, James Gordon Bennett oder William Randolph Hearst in Farbe gedruckte Bildgeschichten als ideales Mittel entdeckt, den Sonntagsausgaben ihrer Tageszeitungen im harten Konkurrenzkampf einen zusätzlichen Kaufanreiz zu verschaffen.

Während die meisten dabei auf  unverfängliche Slapstick-Unterhaltung setzen, tastet sich McCay in Bennetts „New York Herald“ mit seinen Geschichten von „Little Nemo in Slumberland“ weit in die menschlichen Abgründe vor: nicht so radikal wie in seinen zeitgleich unter der Woche (und schwarz-weiß) erscheinenden „Dreams of the Rarebit Fiend“, also den Träumen eines Käsetoastsüchtigen – und was die an Ängsten und dunklen Fantasien enthalten, weiß jeder, der schon einmal mit übervollem Magen ins Bett gefallen ist. Nein, wenn der kleine Nemo Sonntag für Sonntag in Schlaf versinkt, dann plagen ihn nicht jene Düsternisse, die uns Verdauungsprobleme suggerieren, es ist ein vordergründig Kindlich-Spielerisches, das seinen Fantasien eignet, ein Kindlich-Spielerisches allerdings, hinter dessen burlesker Oberfläche sich viel von den Verunsicherungen, den Nöten, nicht zuletzt von den Begierden, ja auch Allmachtswünschen des Kindseins offenbart.

Im selben Ausmaß, indem sich Architekturen in McCays Schlummerland verbiegen und verzerren, entzerrt sich der tiefere Sinn all der Mirakel; wie hier Wirklichkeit scheinbar zerfließt, das wird uns zum Boden unter den Füßen, von dem aus sich Einsicht in diese Wirklichkeit erst gewinnen lässt. Und spätestens mit dem Aufwachen am Ende jeder Einseitenepisode ist auch der kleine Nemo wieder in einem Jetzt, das er in Wahrheit nie verlassen hat.

Der belgische Zeichner Frank Pé, Jahrgang 1956, ist nicht der Erste, der sich diesen Comic-Klassiker zum Vorbild nimmt – und er wird auch nicht der Letzte bleiben. Schließlich hat McCay über die inhaltliche Wirkung hinaus mit seinem „Little Nemo“ der noch jungen Kunst nicht nur erste formale Gesetze gegeben, sondern gleichsam im selben Augenblick vorgeführt, wie man sie unterlaufen kann, mit jener leichten, doch nie leichtfertigen Selbstverständlichkeit, die Kunst von Handwerk scheidet. „In Nemos Universum habe ich die Freude der unaufhörlich erneuerten Freiheit gefunden“, hält denn auch Frank Pé im Geleitwort zu seinem Band „Little Nemo. Nach Winsor McCay“ fest, jüngst bei Carlsen erschienen. Und Pé weiter: „Plötzlich ist, durch die Augen eines kleinen, schelmischen Jungen, alles möglich. Allein die Freude und die Überraschung bestimmen die Folge der einzelnen Bilder.“

Mit seiner stupenden Zeichentechnik gelingt es Pé immer wieder, auf McCays Spuren Nemo-Folgen von atemnehmender Wucht zu entwerfen: etwa wenn er Nemo eine Doppelseite lang über das Fell eines gewaltigen alten Tigers wandern lässt, um dort vom Tigergärtner zu erfahren, was es mit diesem seltsamen Beruf so auf sich hat. Seine Aufgabe sei es, erläutert der, und wir, die es lesen, wissen, was er meint, in die vielen Narben, die ein langes Tigerleben dem Tier geschlagen hat, Blumen zu pflanzen, auf dass sie heilen.

In solchen, seinen besten Momenten ist Pé seinem Vorbild nah; darüber hinaus freilich wächst er nie. Das mögen Kenner ihm zum Vorwurf machen. Dafür, einen der schönsten, poetischsten, bezauberndsten Comic-Bände der jüngeren Vergangenheit geschaffen zu haben, reicht das allemal.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 27. Jänner 2021

 

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