„Eine Stunde vierzig ist wahnsinnig lang für Glück am Theater.“ Die Schauspielerin Anne Bennent und der Musiker Otto Lechner über ihre gemeinsamen Projekte, ihr gemeinsames Leben und den Preis der Freiheit.
Anne Bennent, stimmt es, dass Sie Otto Lechner durch eine Theaterproduktion kennengelernt haben?
Bennent: Begonnen hat eigentlich alles mit einem Verlagsfest, bei dem ich ein schlechtes Gedicht vortragen sollte, und ich konnte nicht nein sagen, weil ich befreundet war mit dem Organisator; da hab’ ich zum ersten Mal Otto Lechner spielen gehört. Zu der Zeit habe ich gerade überlegt, wie ich Christa Wolfs „Kassandra“ für mich für die Bühne adaptieren könnte. Ich hatte davor in Michael Jarrells „Kassandra“-Monodrama gespielt, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Und in dieser Nacht, nachdem ich Otto Lechner gehört hatte, ist mir ein Licht aufgegangen, und ich hab’ gewusst, das wäre jemand, der diesen Text noch bereichern könnte durch seine musikalische Welt. Ich hab’ den Otto angerufen und ihn gefragt, ob er Lust hätte, „Kassandra“ mit mir zu machen, und so haben wir uns kennengelernt. Das war eigentlich wirklich reines Glück.
Lechner: Es war so eine Zufallskette, ich hab‘ auch überhaupt keine Lust gehabt, bei diesem Verlagsfest zu spielen, ich wurde auch erst einen halben Tag vorher, also mittags, angerufen, ob ich am Abend Zeit hab’. Ich hab’ einfach in dem Moment des Anrufs kein Argument gefunden, nein zu sagen. Ich bin dann in der Pause gegangen, nachdem ich gespielt hatte. Die Anne kannte ich allerdings schon durch ein Radiointerview, und ich fand es recht aufregend, dass die auch da war und ein schlechtes Gedicht gelesen hat.
Bennent: Hast du das gehört?
Lechner: Ja, von hinten. Backstage halt. Ich war in dieser Nacht dann noch lang unterwegs, weil ich ziemlich frustriert war von dem Ganzen. Und die Anne hat dann gleich am nächsten Tag angerufen. Das hat mich dann umso mehr gefreut, das war so eine Sache, wo man dann doch belohnt wird.
Ihrer beider Familiengeschichten sind ja sehr unterschiedlich: Anne Bennent stammt aus einer Theaterfamilie, Ihr Vater, Otto Lechner, war . . .
Lechner: Transportunternehmer.
Was haben Sie da über Theater aus dem Elternhaus mitbekommen?
Lechner: Löwingerbühne, ein bisschen Stadttheater Sankt Pölten. Aber das rituelle Aufführen von Gesprochenem und Musiziertem, das hab’ ich von der Gestaltung heiliger Messen gelernt. Da war ich schon relativ früh eingebunden in Gansbach, wo ich herkomme, und dann auch in Melk, als man damals versucht hat, die Jugend zu mobilisieren, und Jugend-Vespern und Jugend-Messen gestaltet hat. So einen Instinkt dafür, wie etwas auf der Bühne funktioniert, auch von der Dramaturgie her, das hab’ ich aus dieser Zeit.
Vor Publikum hab’ ich schon mit vier Jahren im Wirtshaus gespielt. Walzer, Polka und so etwas. Und: Ich arbeite bis heute gern im Theater, ich mache gern Theatermusik, aber diese Leidenschaftlichkeit und dieses Drinnenaufgehen wie die wirklichen Theatermenschen, das kann ich nicht. Was sich mir allerdings durch die „Kassandra“ eröffnet hat, das war: dass man auf einer Bühne mit einem ernsten literarischen Text zu zweit eine wirklich ineinandergreifende und miteinander kommunizierende Performance machen kann.
Bennent: Ich hab’ sehr viele Lesungen mit Musik gemacht, aber es war halt immer so, dass da die Geschichte war, und dann kam die Musik zu der Geschichte, und es war ein Musiker, der besser oder schlechter versucht hat, die Geschichte zu bedienen. Das ist nicht wirklich das, was mich interessierte. Ich finde, ein Text ist stark genug, um alleine in der Welt zu leben. Und da habe ich gespürt, da gibt es einen Text, und dann gibt es mich, und dann gibt es ihn und seine Welt. Und diese Dinge haben etwas miteinander zu tun, aber sie fühlen sich nicht verpflichtet, sich füreinander zu bemühen.
Es gab für Anne Bennent eine Zeit am Burgtheater, unter Peymann, in der Sie fortwährend große Rollen gespielt haben: die Penthesilea, das Käthchen von Heilbronn, Yvonne, die Prinzessin von Burgund. Und mit der Zeit kamen Sie irgendwie abhanden. Wieso?
Bennent: Irgendwann, als ich 18 war und revoltierte, sagte ich: Ich will niemals in meinem Leben fest an ein Theater gehen. Weil dieses Wort „fest“ mir nicht gefällt. Man fragte mich immer: Bist du fest? Und meine erste Reaktion war immer: Nein! Ich bin nicht fest. Ich kann immer weg, ich hab’ da nur ein paar Kisten. Wahrscheinlich war es mir sozusagen von klein auf im Blut, dass Theater mit Wandern verbunden ist und mit verschiedensten Konstellationen. Als dann Peymann nach Berlin ging, hab’ ich gesagt: Was mach’ ich jetzt? Ich war schon in Wien zu Hause, ich hatte hier mein erstes Kind geboren, das bindet einen irgendwo doch. Und da bin ich zum ersten Mal in meinem Leben aus Sicherheitsgründen im Engagement geblieben. Ich habe mir gedacht, ich hab’ die Versicherung, ich kriege im Monat so und so viel Geld, ich hab’ ein Kind, ich weiß nicht, was kommt, ich bleib’ erst einmal da und schau’. Und damit fing das Pech an. Es war nicht so, dass unter Bachler keine Angebote kamen, aber so etwas, dass ich gesagt hätte, das ist ein Geschenk und das möchte ich wirklich um mein Leben gern spielen, so etwas kam nicht. Alles war halbherzig. Vielleicht von beiden Seiten. Und da kommt einem dann die Sinnfrage: Warum spielt man Theater? Ich bin ein existenzieller Mensch, ich kann das schwer als einen Job betrachten, den ich mache, um Geld zu verdienen, das war mir nie das Erste. Das Erste war: der Glaube an das, was ich mache. Und auch an das Glück der Konstellation.
Immerhin: Irgendwann habe ich gemerkt, es ist im Moment für mich die einzig richtige Entscheidung, dass ich weggehe. Und das hat sich, glaube ich, ganz gut mit dem Gefühl des Hauses mir gegenüber getroffen. So bin ich halt jetzt freie Schauspielerin. Ich spiele zwar relativ viel, aber zum Teil nicht in Wien, und wenn in Wien, dann oft nicht an den Orten, wo die Leute gewohnt waren, mich zu sehen. Wenn ich im Augarten in der „Bunkerei“ auftrete oder in der Stadtinitiative, das merkt keiner, weil es eben nicht der Ort ist, an dem ich früher groß gespielt habe. Ich bin für viele Leute, auch außerhalb von Wien, die Burgschauspielerin, und da kann man nicht viel dagegen tun. Ich kann ja nicht in großen Lettern verkünden: Ich bin keine Burgschauspielerin mehr.
Lechner: Im Übrigen bin ich auch kein besonders guter Einfluss, was Annes Bedürfnis betrifft, wirklich große Rollen in großen Stücken an großen Theatern zu spielen. Ich hab’ da zum Teil zu wenig Respekt davor . . .
Bennent: Das stimmt nicht.
Lechner: Ich bin halt eher in der Rolle des Partners, der sich Sorgen macht, dass sich die Anne da großartig in etwas verwickelt, was sicher negative Auswirkungen auf das Familienleben hat. Also von mir kommt sicher keine Motivation, dass Anne jetzt wieder schauen sollte, eine große Rolle an einem großen Haus zu spielen. Für mich sind die Dinge auch viel ebenbürtiger, ich mach’ nicht viel Unterschied, ob ich am Wiener Gaußplatz eine Jam-Session hab’ oder im Burgtheater Nestroy-Musik mach’.
Bennent: Das gilt auch für mich: Es macht eigentlich keinen Unterschied, ob ich jetzt in der „Bunkerei“ mein Herz bloßlege oder im Burgtheater. Alles, was ich tue, und wenn’s in einem Gasthaus ist in Buxtehude, und ich bin sehr viel in der Provinz herumgetingelt mit meinen eigenen Sachen, das ist mir genauso wichtig, wenn nicht manchmal wichtiger an Plätzen, wo man sonst nicht hingeht, wo man sonst nicht spielt, vor Leuten, die sonst nicht ins Theater gehen – denn die Leute, die immer ins Theater gehen, die sind voll von Theater und weniger aufnahmefähig als Leute, die sonst nie ins Theater gehen.
Otto Lechner, Sie sind ja in einer ganz anderen Situation, weil sich die Frage „fixes Engagement an einem großen Haus“ in ihrem Metier gar nicht stellt.
Lechner: Doch. Ich weiß, dass beispielsweise diese Musical-Produktionen Generationen von hochtalentierten Musikern zerstört haben, indem sie sie in diesen Häusern trockengelegt haben. Die haben die beste Zeit ihres Lebens da weggeschmissen. Also: Unter den Kollegen hat sich schon immer wieder diese Frage gestellt. Für mich persönlich natürlich nicht, weil ich nicht vom Blatt spielen kann und für mich manche Sache zu aufwendig wären, da wäre ich dann sowieso zu faul dazu. Und mit Dirigenten kann ich als Blinder auch nicht gut spielen.
Eine unausweichliche Frage für jemanden, der so optisch fixiert ist wie ich: Wie erfährt man Theater, wenn man blind ist? Und wie schreibt man Theatermusik, wenn man blind ist, wenn man nie gesehen hat, was auf der Bühne passiert?
Lechner: Der Text des Theaterstücks ist für mich die Hauptinformation. Und dann braucht es eine gute Beziehung zu einem Regisseur, der Gefühl für eine Vision hat. Und was mir sowieso auf die Nerven geht: wenn sich die Musik total auf einzelne Bewegungen oder Schritte von Schauspielern bezieht, das finde ich sogar im Tanztheater entsetzlich. Darauf kommt es wirklich nicht an. Es geht mehr darum, was hab’ ich dem Stück hinzuzufügen, nicht darum, was passt in das Stück hinein. Dass mir natürlich vieles, was auf dem Theater passiert, einfach genussmäßig verborgen bleibt, ist schade, aber da kann man nichts machen. Doch das musikalische Handwerk funktioniert ohne Optik eigentlich gut.
Und worin besteht dann allenfalls für Sie der Reiz, im Theater zu sitzen und etwas, wie soll ich sagen, anzuschauen?
Lechner: Ich sag’ auch „anschauen“. Denn mit Anhören allein ist es nicht getan.
Bennent: Anschauen findet ja nicht nur mit den Augen statt.
Lechner: Es gibt jedenfalls einen Reiz, obwohl ich nicht allzu oft ins Theater gehe; und der liegt darin, was ich bei Anne immer sehr genossen hab’, die wenigen Male, bei denen ich nicht mitgespielt hab’: wie eine Stimme im Raum sich ausbreitet, wie jemand ein ganz selbstverständliches Empfinden dafür hat, wo Reflexionen sind, wo man klingt, das zu hören macht Freude.
Bei Menschen, die in künstlerischen Berufen tätig sind, gibt es nicht nur gemeinsame Auftritte, da gibt es sehr viele Termine, die getrennt sind. Wie schwierig ist es, da ein normales Familienleben aufrecht zu erhalten?
Bennent: Man kann sicher nicht, wenn man freischaffend ist, die Dinge immer planen, sagen wir, es gibt vier Auftritte von ihm im Monat und drei von mir, das geht nicht. Man lebt offen für das, was auf einen zukommt; es ist ja auch in dem Beruf wichtig, dass man das nimmt, was im Moment entsteht, und da gibt es Zeiten, wo es harmonisch ist, und dann gibt es Zeiten, wo es eine reine Katastrophe ist, wo man das Gefühl hat, man ist weder zu Hause begabt, noch kriegt man es kräftemäßig auf der Bühne hin. Es gibt Zeiten, wo einfach vieles zusammenkommt, und das hat manchmal eine Kraft und bereichert sich gegenseitig, und dann blüht etwas auf – und dann gibt es Zeiten, wo man selber findet, es ist alles Scheiße, und ich krieg’s hinten und vorne nicht mehr zusammen.
Eine Theatervorstellung ist eigentlich auch so. Da hat man eine, wo alles stimmt, wo alles gelingt, man hat eine Idee gehabt am Vortag, und man probiert sie auf der Bühne aus – und es funktioniert, man ist glücklich. Am nächsten Tag hat man die Vorstellung wieder, und man weiß, wie man es gemacht hat, und man wiederholt es, und es geht alles schief, und man hat das Gefühl, es ist das Albernste, Blödeste, es zündet weder bei einem selber noch beim Partner. Warum? Hinter dieses Geheimnis kommt man nicht.
Lechner: Was wir beide künstlerisch machen, das kommt sehr stark aus der Intuition heraus, da lässt sich sehr wenig an Disziplin einziehen. Es ist für mich unvorstellbar, von zwei bis vier Uhr zu komponieren.
Bennent: Und im Moment ist es einerseits unvorstellbar für mich, andererseits würde ich doch gerne wieder, wenn sich eine gute Konstellation ergibt, ein schönes Theaterstück spielen, egal, in welcher Stadt. Nur: Manchmal denke ich, ich darf das gar nicht anfangen, wie würde ich das machen mit zwei Kindern – und dann von zehn Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags probieren? Ich weiß, dass Proben immer verbunden sind mit Auseinandersetzungen, und ich bin nicht jemand, der abschalten kann, wenn er nach Hause kommt, es arbeitet in einem weiter, und man geht allen damit auf die Nerven, man sieht alles nur mehr unter dem Licht der Figur, die man spielt, und es hat plötzlich alles etwas damit zu tun. Da sind meine früheren Partner manchmal auch verrückt geworden an mir, das ist ein Zustand am Rande des Irrsinns, und das kann ich mir im Moment ganz schwer vorstellen. Aber ich denke, wenn es dann einmal da ist, dann wird man sich das schon irgendwie organisieren oder organisieren müssen. Angst davor hab’ ich schon. Weil ja sowohl zu Hause wie im Theater sehr viel Leidenschaft und Temperament im Spiel sind.
Wir haben jetzt viel über den Preis geredet. Was ist der Lohn?
Bennent: Da kann ich nur konkret von dem jüngsten Theatererlebnis sprechen, das wir gemeinsam hatten. Wir haben in der „Bunkerei“ im Augarten bei „20.000 Meilen unter dem Meer“ mitgemacht, das ist ein Theaterprojekt von João de Bruçó mit Flüchtlingen aus Traiskirchen, das uns sehr am Herzen liegt, nicht zuletzt weil ich finde, es gibt viel zu wenige solcher abenteuerlicher Projekte. Und die Vorbereitung und alles drum herum liefen nicht so, wie ich es mir im idealen Sinn vorgestellt hatte, weil immer etwas dazwischenkommt, es ist viel mehr Arbeit, als man sich denkt, es bedeutet viel Dreck, viel Schlepperei. So kam ich in die Vorstellung mit einer Art Erschöpfung und Missmut und hatte das Gefühl, ich habe jetzt für die eigene Sache nicht mehr genug Kraft. Und in einer dieser vier Vorstellungen von „20.000 Meilen unter dem Meer“, die dauert eine Stunde vierzig Minuten, war ich diese eine Stunde vierzig wirklich zutiefst, zutiefst überzeugt, dass es das ist, was ich am Theater machen möchte. Ich war wirklich glücklich. In allem. Berührt und stolz und glücklich, es ist ein Wunder passiert. Und das ist der Lohn. Eine Stunde vierzig ist wahnsinnig lang für Glück am Theater, ich kenne sonst nur Momente, ein paar Minuten, oder dass man nach einer Vorstellung wegschwebt; aber das war wirklich ein großes Geschenk. Und da weiß man dann, dass es möglich ist, und die ganze Mühe und der Dreck und der Staub und der Ärger über sich selbst, dass man es nicht hinkriegt, das ist alles unwichtig, wenn man so ein Glück erlebt und weiß, dass man es auch teilt. Mit allen, die da in dem Raum sind.
Lechner: Wir haben einmal gemeinsam einen Robert-Walser-Abend gestaltet. Und da gab’s natürlich immer auch Momente, in denen ich Anne nur zugehört habe. Und das ist ein Zustand, den ich sehr gern mag: wenn ich auf der Bühne sitze, aber nicht spiele. Und wenn’s da schwingt und so ein Robert-Walser-Text wirklich gelingt, dann entsteht so etwas wie eine Gemeinschaft, und das sind Momente . . . ich weiß nicht, ob man sie als Lohn bezeichnen kann, auf jeden Fall gibt es diese Momente, und auf jeden Fall gibt es Zeiten, in denen es doch gut geht, wenn man sich freier fühlt, als man sich fühlen würde, wenn man einen anderen Beruf hätte, wenn man ein ganz strukturiertes Leben hätte.
Wolfgang Freitag, „Glück im Theater“ (Wien, 2007)