Äußere Hebriden: Der Mond liegt am Meer

Die Äußeren Hebriden: ein unübersichtliches, baumloses Gewimmel aus steilen Klippen, Sand und Moor, insgesamt 30.000 Einwohner, verstreut auf zwölf bewohnte Inseln. Von Schafen, Steinen – und was die Hebrider tun, wenn sie besonders lustig sind: Nachrichten vom Nordwestrand Europas.


Der Mond liegt am Meer, zwischen Lingarabay und Drinishader. Bewohnt wird er von Herden jener Schafe, die wir Weltstädter dieser Erde Nacht für Nacht vor dem Einschlafen zählen, um zur Ruhe zu finden. Der Mann im Mond heißt MacLeod, sitzt in einer winzigen Hütte an seinem Webstuhl und strampelt dem nächsten Ballen Stoff entgegen. Dem Stoff, aus dem die Schneiderträume sind. Tweed. Harris Tweed.

Ob Mond oder irgendein anderer, fernerer Himmelskörper: Es kann jedenfalls nicht von dieser Welt sein, das Land, das MacLeods Hütte umgibt. Land: Was heißt hier schon Land mehr als harter Grund, nicht Boden, grauweißer Fels, zu Kuppen geschliffen von den geduldigen Gletschern der Eiszeit. „Golden Road“ wird die Küstenstraße im Osten der Insel Harris genannt, die Lingarabay und Drinishader verbindet. Nur: Gold ist weit und breit nicht zu finden, und reich ist hier auch nie einer geworden. Der Name rühre daher, erzählt man sich, dass es so teuer gewesen sei, die Straße zu errichten, die sich durch die Klüfte, Schründe, die Abgründe dieser Landschaft gewordenen Unwirtlichkeit windet.

Einer Landschaft, in der es erst Land zu schaffen galt, als vor 150, 200 Jahren Siedler sich hier niederließen, Vertriebene, Kleinpächter aus dem fruchtbareren Westen der Insel, aus dem sie von den Grundbesitzern geworfen worden waren. Ganz moderne Ökonomen, hielten die Landlords riesige Schaffarmen für rentabler als das kleinhäuslerische Pachtgewirr, das sich unter ihren Vorgängern entwickelt hatte. „Clearances“, „Räumungen“, nennt man das heute, als wär’s der Sommerschlussverkauf gewesen. Tausche Menschen gegen Schafe. Und es war kein dumpfes Vorurteil, das hier wütete, kein völkischer Furor, es war das nüchtern wirtschaftliche Kalkül, das die Pächter aus ihren Häusern prügelte.

Wegrationalisiert sozusagen, freigestellt, blieb ihnen die Freiheit zu sehen, wo sie blieben. Und sie zogen in den Osten der Insel, dorthin, wo niemand sie behelligen würde, denn wer hätte ihnen schon diese Felsenwüste streitig gemacht. Und sie kratzten den spärlichen Boden zwischen den Gneißrücken zusammen, mischten ihn mit Tang und häuften ihn zu vorzimmergroßen Feldern, auf denen sie pflanzten, was sie zum Überleben brauchten. Und sie färbten die Wolle ihrer Schafe mit Flechten und webten sie zu dichten Stoffen. Und sie kehrten nur dann in den Westen der Insel, ihre alte Heimat, zurück, wenn einer von ihnen gestorben war, denn wie hätten sie jemanden begraben sollen, wo es kaum Erde gab?

MacLeod grämt’s nicht mehr. Er sitzt an seinem Webstuhl, lässt den Webschütz hin- und widerschießen durch den engen Kordon der Kettfäden und scheint eins mit sich. Die Macht der Landlords ist längst gebändigt. Die kleinen Felder von einst liegen verlassen, grasüberwuchert zwischen den Steinkuppen, die Zeiten der Selbstversorgungswirtschaft sind auch hier vorüber. Was man zum Leben braucht, das findet sich im Supermarkt. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt, wie es ist. Nur die Schafe, die gibt es immer noch.


Die Äußeren Hebriden: ein Inselsaum von 200 Kilometern Länge, dem Nordwesten Schottlands vorgelagert. Ein unübersichtliches, baumloses Gewimmel aus steilen Klippen, Sand und Moor, alles in allem 2900 Quadratkilometer groß, insgesamt 30.000 Einwohner, verstreut auf zwölf bewohnte Inseln. Das heißt eigentlich nur elf: Lewis und Harris sind zwar durch Namen, nicht aber durch Wasser voneinander getrennt. Aber so genau darf man das ohnehin nicht mehr nehmen, in Zeiten, da die meisten bewohnten Inseln längst durch Landbrücken, „Causeways“, miteinander verbunden sind. Es ist doch ein Unterschied“, meint John, „ob man eine Insel ist – oder nur das Ende einer Straße.“ Die kleine Personenfähre, auf der John seine Hilfsdienste leistet, schaukelt zustimmend über die Wellen. Wo kämen wir da hin, wenn auch noch hier, zwischen dem winzigen Eriskay und dem größeren, beileibe nicht großen Süd-Uist ein Damm aufgeschüttet würde, wie es jüngst erst zwischen dem winzigen Berneray und dem größeren Nord-Uist geschehen ist?

Freilich: John hat leicht reden, ist er doch selbst kein Einheimischer, nur ein Zuwanderer, einer aus dem Süden Schottlands, vom „mainland“ also, der vor ein paar Jahren nach Eriskay übersiedelt ist, als seine Frau den Job als Volksschullehrerin angenommen hat. Die Mehrheit der Eriskayaner sieht die Dinge weniger romantisch: Ein Damm, das bedeutet nicht mehr abhängig sein von den drei, vier Fährüberfahrten täglich, nicht mehr abhängig sein von Wind und Wetter, ein Damm bedeutet Anschluss an die Welt. Will sagen: an Süd-Uist. Immerhin.

„Stellen Sie sich vor: sechseinhalb Millionen Pfund für 300 Menschen!“ Der Busfahrer deutet auf eine Brücke in der Ferne. Jene Brücke, die seit ein paar Monaten die 300-Menschen-Insel Scalpay an Lewis und Harris knüpft. Gut 130 Millionen Schilling (neuneinhalb Millionen Euro) hat ihr Bau gekostet, mitfinanziert aus der Ziel-eins-Förderung der Europäischen Union. Zu viel Geld, nur um einer Handvoll sturer nordwesteuropäischer Insulaner das Leben zu erleichtern?

„Diese Brücke symbolisiert die Verbundenheit dieser Regierung auch mit den entferntesten Gemeinden des United Kingdom“, wird sich ein paar Tage später Tony Blair bei der offiziellen Eröffnung vernehmen lassen. Blair wird der erste amtierende britische Premier sein, der sich auf die Äußeren Hebriden verirrt. Und sein Besuch wird für die Menschen auf und rund um Scalpay zumindest einen Tag lang sehr viel wertvoller sein als eine Brücke um sechseinhalb Millionen Pfund.


Maria umarmt einen Stein. Fest und innig. Einmal, zweimal, dreimal. Maria ist aus Madrid hierhergekommen, zu den „Standing Stones“ von Callanish, wohl auf der Suche nach jener geheimnisvollen Energie, die solche Orte verströmen, wie empfindsame Seelen behaupten. 5000 Jahre lang sollen sie hier, im Westen von Lewis, schon aus dem Torfboden in den Hebridenhimmel ragen, die Gneißmenhire, angeordnet in Form eines keltischen Kreuzes. Ein Heiligtum vielleicht, aber welches? Für wen? Von wem? Viele Ahnungen, wenige Sicherheiten.

Älter als Stonehenge sind sie wohl, die „Standing Stones“ von Callanish, älter und schlanker, fast zart, zerbrechlich. Man muss sie nicht umarmen, um sich in ihrer Mitte eigentümlich berührt zu fühlen. Und wäre da nicht die überschäumende, alles andere wegspülende Ergriffenheit der Marias dieser Welt, vielleicht verließe der kühlste Rationalist diesen Ort als Metaphysiker.


Wie sich die Hebrider fortpflanzen? Im Londoner „Daily Express“ weiß man Bescheid: Weil ihnen Sex aus religiösen Gründen verboten sei, vermehrten sich die Insulaner mittels eines einfachen Bausatzes. Der enthalte ein befruchtetes Storchenei, ein Lätzchen – und ein bißchen Vogelfutter. „Na, war das nicht wirklich witzig und originell“, fragt die lokale „West Highland Free Press“, empört ob solcher Perle südbritischen Humors.

Zugegeben: Es ist nicht gerade die pralle, dralle Lebenslust, was Land und Leute zwischen Lewis im Norden und Vatersay im Süden verströmen; wie denn auch in einer Weltgegend mit 20, 25 Regentagen pro Monat, in der man sich auf den Thermometern den Bereich jenseits der 20 Grad Celsius eigentlich sparen könnte. „Wenn die Hebrider so richtig lustig sind, dann gehen sie Torf stechen“, hatten britische Freunde gewitzelt. Torf stechen für den Winter, als Heizmaterial. Das Einzige, was ein Hebrider am Sonntag tun dürfe; denn im Übrigen sei der Sonntag im kleinen Reich der „Free Church of Scotland“ heilig. So heilig wie der Sabbat den orthodoxen Juden.

Der Gast mag zunächst auch verblüfft sein, wie rigoros im Norden des Archipels, auf Lewis und Harris, die Sonntagsruhe eingehalten und kirchlicherseits observiert wird – und das nicht nur in den Dörfern, sondern auch in der Hauptstadt Stornoway, mit ihren 8000 Einwohnern im lokalen Vergleich eine übervölkerte Metropole. Hotels, Geschäfte, öffentlicher Verkehr, alles versinkt in tiefem Schlaf, für einen Tag. Und in manchen Privathäusern, erzählt man sich, werde nicht einmal die Zeitung zur Hand genommen.

Insulare Verschrobenheit? Wie viel weniger verschroben mag die sonsteuropäische Rund-um-die-Uhr- und Rund-ums-Jahr-Geschäftigkeit einem unparteiischen Beobachter scheinen? Als Gott die Zeit erschuf, hat er viel davon gemacht, behauptet ein lokales Sprichwort. Tatsächlich gehen die hebridischen Uhren anders, langsamer. Und da und dort sind sie wohl längst stehengeblieben. Irritierend? Vielleicht schlicht beneidenswert.


Ludag ist kein Ort. Ludag ist ein mit Namen versehener Punkt auf der Landkarte. Wie auch die meisten anderen Orte auf Süd-Uist nur benannte Landkartenpunkte und keine Orte sind. Es sind Bauwerksansammlungen, als habe das Geschick willkürlich Häuser ins Land gestreut, die sich zufällig da und dort zu Haufen verdichten. Häuser, die miteinander nichts zu schaffen haben und ebensogut neben anderen Häusern in anderen Orten, die keine Orte sind, stehen könnten.

Ludag hat sechs Fischerboote und einen kleinen Pier, der einmal die Woche zu hektischer Betriebsamkeit erwacht. Dann, wenn der große Truck aus La Coruña erwartet wird, wenn die Fischer ihre Beute an Land holen: Hummer und Krabben. „Greifen Sie ruhig zu, hierher, auf den Rückenpanzer, sehen Sie, fühlt sich an wie Samt.“ Scott ist zufrieden mit seinem Fang. Die Hummer harren mit gefesselten Zangen in einem Zehn-Liter-Kübel ihres absehbaren Schicksals; jetzt heißt es noch, die Krabben nach Größe zu sortieren. „In zwei Tagen ist das Ganze auf dem Markt von La Coruña.“

Wenig später schiebt sich ein weißer 40-Tonner vorsichtig Richtung Pier. „Meeresfrüchte aus dem Nordwesten“ verspricht die rote Schrift an den Seitenwänden. Türen schwingen auf, plastikkorbweise verschwindet eine zappelnde Horde vormaliger Atlantikbewohner im Containerschlund. „18 Pfund bringt ein Korb Krabben“, erzählt Scott. Ob das als Einkommen reicht? „Sicherlich.“

Also: Hummer- und Krabbenfang. Und wovon lebt man sonst auf den Äußeren Hebriden? Da wären einmal die allgegenwärtige Schafzucht, neuerdings die Lachsproduktion, nicht zu vergessen die Erzeugung des wundervollen Harris Tweed, da und dort ein paar versprengte Touristen, ein bisschen Gewerbe, ein wenig Ölindustrie. Und eine Arbeitslosenrate jenseits der zehn Prozent.

„Wissen Sie, unsere Tochter geht für ihre weitere Ausbildung nach Aberdeen, aufs ,mainland‘. Und normalerweise bedeutet das, dass sie nicht mehr zurückkehrt.“ Mister Macdonald sagt es ohne Groll. Er selbst hat seine Heimat, Scalpay, einst verlassen, damals, in den Siebzigern, als die Hering-Fischerei zusammenbrach, weil die Heringe ausblieben. Doch nach einigen Jahren ist er zurückgekehrt, mit seiner Frau, einer Edinburgherin, zwar nicht auf das winzige Scalpay, aber immerhin nach Stornoway. Die Kompromisslösung für seine hebridischen und die städtischen Bedürfnisse seiner Frau, sagt er. Und sie lächelt dazu.


Angus zündet sich noch eine Zigarette an. Er freut sich, dass sich Besucher in seine Bergeinsamkeit verirrt haben, zu dem vormaligen Wohnhaus, das er hütet, das, heute ein Museum, den Besuchern eine Vorstellung davon geben soll, wie es so war, das Leben auf Barra, im Süden des Archipels. „Das war ein sehr modernes Haus“, sagt Angus, „damals, vor knapp 100 Jahren, als es die McPhersons errichteten.“ Die McPhersons müssen recht begütert gewesen sein, schließlich konnten sie sich Mörtel zwischen den Steinbrocken leisten, die sie zu Wänden schichteten, und sogar einen Kamin, zu einer Zeit, in der große Teile der Inselbevölkerung noch in rauchfanglosen Hütten rund um qualmende Feuerstellen hockten.

Das moderne Haus der McPhersons: knapp 30 Quadratmeter gestampfter Boden, gefasst von einer gut meterdicken Mauer, 30 feuchte, zugige Quadratmeter, auf denen eine elfköpfige Familie ihr Leben fristete. Ein überwiegend langes Leben, erzählt Angus: „Bis Ende der Siebziger wohnte hier noch eines der Kinder, der wollte nicht und nicht weggehen, und als er 87 war, wurde er von der Gesundheitsbehörde gezwungen, in eine neue Wohnung im nahen Dorf zu übersiedeln. Ein paar Wochen später war er tot.“ Gestorben vielleicht daran, dass ihm Leben war, was andere für Mangel hielten.


„Togail Curs air Leodhas“, singt die Gruppe „Mac-talla“: „Kurs nehmen auf Lewis“. Das Lied erzählt von der Rückkehr aus der Fremde. Wie viele Lieder der Äußeren Hebriden. „Togail Curs air Leodhas“ ist Gälisch, die eigentliche Sprache der Inseln, die, lange Zeit geächtet, heute nicht nur auf Straßenschildern und in Fremdenverkehrsprospekten, sondern auch im Alltag wieder gegenwärtig ist. „Togail Curs air Leodhas“ hat „Mac-talla“ auf CD eingespielt. Auf einer CD über die „Gälische Liedtradition Schottlands“. Auf einer CD „Made in Austria“. „Austria? Wo liegt denn das?“ wird mich einmal jemand fragen. Andererseits: Was weiß schon unsereiner von den Äußeren Hebriden?


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 10. Oktober 1998


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