Singuläres im Sekundentakt: über Nachrichten in kolossalen Zeiten.
Wirklich, wir leben in einer großen Zeit. Was sag ich „groß“? Riesig, gigantisch, kolossal! Wie viele Jahre mussten wir uns durch ein mediales Leben fretten, dessen Schlagzeilen bestenfalls alle paar Monate eine „Sensation“ für uns bereithielten. „Wunder“ gab es selten, wenn Rekorde fielen, dann waren die neuen nur allzu oft nicht „für die Ewigkeit“, und was man „noch nicht da gewesen“ nannte, erwies sich befremdlich häufig tatsächlich als noch nicht da gewesen – und würde auch für eine nennenswerte Spanne nicht wieder zu erleben sein. Wie fad, wie öd, wie langweilig fürwahr.
Schön, dass es damit vorbei ist. Die nachrichtliche Gegenwart verwöhnt uns mit Singulärem im Sekundentakt, das Beispiellose ist unser ständiger Begleiter in Informationskanälen aller Art, das Phänomenale längst zu nichtig, um darum noch viel Aufhebens zu machen. Olympische Spiele versorgen uns in Print und online, in Radio und TV mit Außer- und Überirdischen sonder Zahl, Katastrophen werden unter der verbalen Giga-Grenze gar nicht mehr wahrgenommen, und wenn es regnet, dann muss es schon eine „Sintflut“ gewesen sein, soll unsere Aufmerksamkeit sich rühren. Das Schwarz-Weiß, das doch stets einem Grau-in-Grau glich, haben wir gegen pralle, nachgerade übersatte Farben getauscht, in denen unsere Welt erstrahlt, als wär sie nicht von dieser Welt. Die Highlights funkeln fortwährend, Tag und Nacht, der Gipfel ist uns ein Hochplateau, das Nonplusultra unser täglich Brot, ein Unübertreffliches am nächsten Tag schon durch ein neues übertroffen.
Selbst das Börsenleben, vormals meldungshalber ein Muster dröger Gleichförmigkeit, atmet seit Längerem dynamische Eklatanz. Hie Hausse, da Baisse, dazwischen ein bisserl Auf, ein bisserl Ab, das war einmal. Zwischen „Absturz“ und „Kursfeuerwerk“, „freiem Fall“ und „Senkrechtstart“ liegen höchstens ein paar Zehntelprozentpunkte. Über die übrigen Wirtschaftsseiten wirbeln „Konjunktureuphorie“ und „Weltwirtschaftskrise“ in rasendem Wechselschritt. Und wenn einer bei Fitch, Moody’s oder Standard & Poor’s einen kleinen Schnupfen hat, gibt das allemal einen Aufmacher oder eine Sondersendung her.
Und dann das: Am 27. Juli melden Reuters und CNN, „Spiegel Online“ und faz.net, CNBC und „Financial Times“ ein „Allzeittief“ der Facebook-Aktie. Am 27. Juli! Da ist die Facebook-Aktie schon seit sage und schreibe einem ganzen Vierteljahr im Handel! Und hat übrigens streng genommen ein erstes Allzeittief – als tiefsten Kurs aller bisherigen Handelszeiten – schon am Ausgabetag hinter sich gebracht. Am zweiten Handelstag das zweite. Am dritten Handelstag das dritte. Und so weiter und so fort. Summa summarum gut 20 Allzeittiefs in einem Vierteljahr weist die Kursentwicklungskurve deutlich aus, eines allzeittiefer als das andere. Wir freilich erfahren erst nach diesem einen Vierteljahr von einem ersten. Wieso von diesem? Und nicht von den etlichen weiteren, die seither folgten? Wo kommen wir hin, wenn wir „Allzeittiefs“ und „Allzeithochs“ demnächst womöglich wieder erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten messen? Was wäre das für ein Leben, dem nicht mehr jede Stunde eine Epoche, jeder Tag eine Ära, jede Woche wenigstens ein Zeitalter wäre?
Doch keine Bange: Noch während ich diese Zeilen schreibe, meldet faz.net am 2. August ein „neues Allzeittief“ für Facebook. Man sieht, wir dürfen hoffen: auf ein neueres oder ein allerneuestes Allzeitttief, und bis zum tiefsten Allzeittief aller Zeiten ist es dann nur mehr eine Frage der Zeit. Der Allzeit. So allzeittief wie noch nie. Wirklich, wir leben in einer kolossalen Zeit.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. August 2012