Brandenburg: Schönbrunner Gelb, Gartengrün und rote Fahnen

Ein Stück katholisches Österreich an der deutsch-polnischen Grenze – und seine realsozialistische Nachbarschaft: Neuzelle, Eisenhüttenstadt und der Traum von der Urbanität. Ein Besuch in der Niederlausitz. Brandenburg.

Bekanntlich ist ja nicht überall Schönbrunn drin, wo Schönbrunner Gelb dran ist. Freilich, dem Goldocker, das Joseph II. in seinen Habsburgischen Landen einst öffentlichen Bauten verordnete, sehr viel weiter nördlich, an der deutsch-polnischen Grenze zu begegnen, muss doch wundernehmen. Dennoch, da thront sie, die Klosterkirche von Neuzelle, auf hoher Hügelkante, als würden in der Ebene zu ihren Füßen vielleicht Inn oder Donau vorbeifließen, doch gewiss nicht jene Oder, die keine 200 Kilometer weiter, bei Stettin, in die Ostsee mündet.

Und damit der Verweise ins Österreichische nicht genug: Was genau hat es etwa mit jenem „Prinzen Albrecht“ auf sich, dem ein Neuzeller Traditionshotelbetrieb seinen Namen verdankt? Der, ein Enkel August des Starken, habe hier, in der Niederlausitz, einst ein Regiment stehen gehabt, weiß ein historisch versierter Oberkellner im Hotelrestaurant zu berichten. Und: Jener Prinz Albrecht habe später gar eine Tochter Maria Theresias geheiratet. Womit klar ist, um wen genau es sich österreichischen Verständnisses nach handelt: um Prinz Albert von Sachsen-Teschen, Begründer und Namensgeber der Albertina zu Wien.

Da wundert es dann gar nicht mehr, dass es ausgerechnet Zisterziensermönche aus dem niederösterreichischen Heiligenkreuz sind, die Stift Neuzelle 2018 neues spirituelles Leben eingehaucht haben. Das nämlich lag bis dahin exakt 201 Jahre mönchisch brach. Preußen hob den katholischen Ordensaußenposten mitten in tief protestantischen Landen 1817 kurzerhand auf und verstaatlichte das Eigentum, das der Orden in 550 Jahren des Klosterbestehens angehäuft hatte.

Wer sich heute hierher begibt, gut 100 Kilometer stracks östlich von Berlin, darf sich der Pracht eines monumentalen, im Kern gotischen Kirchenbaus erfreuen, dem gegenreformatorischer Überschwang jeden Anschein nordischer Zurückhaltung ausgetrieben hat; oder des „Himmlischen Theaters“, eines barocken Passionszyklus aus Figuren und Kulissen, seines Zeichens Trouvaille besonderer Art.

Der womöglich spektakulärste Teil des Klosters öffnet sich freilich den Besuchern erst, wenn sie Gänge, Hallen und Gewölbe hinter sich gelassen haben und von besagter Hügelkante in die Ebene der Oder blicken: Da nämlich breitet sich der Klostergarten aus, von einem grünaffinen Zisterzienserabt des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit seinen Mönchen angelegt.

Nach 200 Jahren Vernachlässigung, ja Zerstörung hat der Berliner Landschaftsarchitekt Horst Schumacher längst verschwundene Rabatten, zerzauste Hecken, kaum mehr kenntliche Terrassen in jahrzehntelanger, mühevoller Kleinarbeit mit viel Expertise und nach originalen Plänen zu neuem Leben erweckt: exemplarisch für die mustergültige Instandsetzung eines historischen Gartendenkmals. Und wer sich, von so viel Gartenkunst erschöpft, erholen möchte, der findet in der dem Kloster vorgelagerten Klosterbrauerei den rechten Stoff dazu – vom Pils über das Porter bis zur hiesigen Spezialität, dem gewöhnungsbedürftig süßen „Schwarzen Abt“.

Mit einem Denkmal ganz anderer Art wartet die Nachbarschaft von Neuzelle auf. Genauer: Hier ist quasi eine ganze Stadt Denkmal. Ein Denkmal zudem, das seine Entstehung keinen katholischen Ordensregeln verdankt, sondern jenen eines politischen Systems: Keine fünf Straßenkilometer, und schon ist man von Neuzelle, dem „Barockwunder Brandenburgs“, in das einzige Flächendenkmal Deutschlands gelangt – nach Eisenhüttenstadt.

Flächendenkmal? Ja, genau das: Hier ist es nämlich kein einzelnes Objekt, das unter Schutz gestellt wäre, vielmehr die Anlage samt und sonders, von den Wohnblöcken bis zum Theater, vom Rathaus bis zur Großgaststätte Aktivist, mit all den Straßen, Plätzen, Grünanlagen dazwischen. Dieses Eisenhüttenstadt nämlich ist weltweit ein Unikat: Anfang der 1950er auf den Reißbrettern der DDR geplant und aus den Sanden einer bis dahin unbesiedelten Oderniederung gestampft.

Das heißt: Zuerst war da, an der Mündung des Oder-Spree-Kanals in die Oder, die Eisenhütte – und dann erst die dazugehörige Stadt. Die nämlich verdankte nur der zum Betrieb der Eisenhütte nötigen Arbeiterschaft ihre Existenz – und anfangs hörte sie auch keineswegs auf jenen Namen, unter dem sie heute als Geheimtipp gehandelt wird: Als Stalinstadt erblickte sie 1953 das gedämpfte Licht der realsozialistischen Welt. Und was den Zisterziensern in Neuzelle „Ora et labora“ gewesen sein mag, das waren den Planern von Stalinstadt, ursprünglich übrigens ganz und gar kirchenfrei angelegt, die „16Grundsätze des Städtebaus“, die der Ministerrat der DDR 1950 verordnete. Als da wären: „Das Ziel des Städtebaues ist die harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung.“ Oder: „Die zentrale Frage der Stadtplanung und der architektonischen Gestaltung der Stadt ist die Schaffung eines individuellen, einmaligen Antlitzes der Stadt.“ So weit die Theorie.

Die kommunistische Praxis vermochte derlei Idealen keineswegs immer und überall standzuhalten. Für das nachmalige Eisenhüttenstadt allerdings (die Entstalinisierung machte Anfang der 1960er die Umbenennung erforderlich) sollten zumindest zu Beginn weder Kosten noch Mühen gescheut werden. Ja, als die ersten Wohnblöcke, 1951 errichtet, gar zu spartanisch ausfielen, regte sich nicht nur Widerstand seitens der Bewohner, sondern gleichermaßen von höchster Staatsspitze: Die Gestaltung sei zu schlicht, die Stadtanlage zu wenig repräsentativ für ein Vorzeigeprojekt der jungen DDR. Und in dem Architekten Kurt Walter Leucht, schon zu Nazi-Zeiten Diktatur-erprobt, war denn auch rasch der richtige Mann gefunden, den Traum von der Traumstadt des Arbeiter- und Bauernstaats nach Maßgabe der vorhandenen Mittel doch wahr werden zu lassen.

Wer heute die weitläufigen Höfe durchquert, die hier Wohnblöcke umschließen, über die breiten Boulevards spaziert oder auch dem „Museum Utopie und Alltag“ einen Besuch abstattet, Dokumentationszentrum der DDR-Alltagskultur und untergebracht in einem ehemaligen Kindergartengebäude, wird leichter die nostalgischen Gefühlen lang gedienter Eisenhüttenstädter nachvollziehen können als die Tatsache, dass sich, kaum war die Wende 1989 ins Land gezogen, all die Quartiere rasch entvölkerten.

In Nach-Wende-Zeiten zu „Schrottgorod“ degradiert, hat sich Eisenhüttenstadt mittlerweile einer teilweise durchaus radikalen Gesundungskur verschrieben: Plattenbauviertel der 1960er und 1970er wurden „rückgebaut“, will sagen geschleift, im Gegenzug die älteren, zentralen Teile ansehnlich herausgeputzt. Und nur das vormalige Hotel Lunik, seit Jahren Opfer von Spekulation, erinnert in seiner Baufälligkeit an jene Tage, in denen niemand auch nur einen Cent auf die Zukunft von Eisenhüttenstadt gesetzt hätte.

Ironie der Geschichte: Eisenhüttenstadt zeigt sich heute so großzügig und komfortabel, wie es zu Zeiten jenes Staates, für den es geschaffen wurde, niemals war. Und wie es angesichts von allgegenwärtiger Repression, allgegenwärtigem Spitzelwesen auch gar nicht sein konnte. Die Stadtführungen, wie sie von Einheimischen angeboten werden, bieten Besuchern mehr als bloß die Begegnung mit den Residuen eines untergegangenen Regimes: erstaunliche Einblicke darin, was Urbanität erzeugt und warum sie, wo sie keine Zeit sich zu entwickeln hat, dennoch entstehen kann.

Die erhabenen Zeugen der Vergangenheit, Schlösser, große Dome, die wird man hier naturgemäß vergeblich suchen, im Gegenzug freilich etwas erfahren, was anderweitig nicht zu haben ist: was Stadt im Innersten bedeutet. Und was die Kirchenkunst betrifft: An der kann man, siehe oben, fünf Kilometer weiter, in Neuzelle, seine Freude haben.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 13. Juli 2024.

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