„Das Theater ist ein Fußballplatz, und man muss ein gutes Spiel liefern.“ Peter Turrini über 40 Jahre Arbeit als Dramatiker, das Verdauungsorgan der bürgerlichen Theatergesellschaft und das Schönste, was es – nach der Liebe – für ihn gibt.
Peter Turrini, kürzlich wurde ein TV-Porträt von Ihnen ausgestrahlt, das zeigte Sie in Ihrem Archiv, umgeben von ich weiß nicht wie vielen Laufmetern eigener Werke, Sie standen da wie ein stolzer Vater, der über die riesige Schar selbst gezeugter Kinder blickt. Wenn Sie sich in diesem Archiv umschauen: Macht Sie das glücklich?
Das Gegenteil ist der Fall. Zuerst einmal muss ich zu diesem Archiv sagen, dass es nicht meinem Ordnungssinn entspringt, sondern ausschließlich dem meiner Partnerin, der Autorin Silke Hassler. Sie hat aus der ganzen Welt akribisch Programmhefte und Manuskripte, und was es sonst noch alles gab, zu diesem unglaublichen Archiv zusammengetragen, das irgendwann als sogenannter Vorlass in der Nationalbibliothek landen wird. Mir geht es, weil Sie das Archiv mit der Frage nach dem Glück verbunden haben, genau umgekehrt. Ich habe zu dieser Form meiner Vergangenheit – nämlich: Was hast du schon alles gemacht? – fast ein bedrückendes Verhältnis, weil mein Theaterkopf, je älter ich werde, immer nachhaltiger rumort, ich schreibe Tag und Nacht wie ein Verrückter, und alles Gewesene belastet mich eher. Meine Sucht, immer dem jeweils Neuesten zu verfallen, das hat viel eher etwas mit Glück zu tun als der väterliche Stolz gegenüber dem, was war.
Blenden wir kurz zurück ins Jahr 1971: Ein so gut wie Unbekannter, der sich bis dahin in Professionen wie der Holzfällerei, als Werbetexter und Bauarbeiter verdingt hat, erhält die Chance einer Uraufführung am Wiener Volkstheater: „Rozznjogd“. Wäre so etwas heute überhaupt noch denkbar?
Das kann ich schwer beurteilen. Was meiner Meinung nach tatsächlich nicht denkbar wäre, das wäre der Zusammenprall, der damals stattgefunden hat. Der hat ja nicht nur mit mir stattgefunden, sondern auch mit Wolfgang Bauer oder mit Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“. Nach 1945 gab es eine Theatersituation, die eher reaktionär war, Motto: Egal was war, machen wir halt weiter nettes Theater. Und plötzlich, Ende der Sechzigerjahre, sicher nicht unbeeinflusst von der Studentenbewegung, trat eine neue Theatermethode, traten neue Theaterschreiber auf den Plan – was zu einer Konfrontation, einem Erschrecken führte. Bei der Uraufführung von „Rozznjogd“ beispielsweise gab es tumultartige Zustände. Diese Art von Konfrontation ist heute nicht mehr möglich, weil das Verdauungsorgan der bürgerlichen Theatergesellschaft inzwischen schon viel mehr aushält. Da kann der Schock schon zur Erwartung werden, zum Event.
Stücke wie „Rozznjogd“ oder „Sauschlachten“ konstituierten rasch Ihren Ruf als Bürgerschreck. Und wenn man sich in Publikationen jener Tage Ihr Porträtfoto anschaut, dann blickt da ein trotziger junger Mann einigermaßen finster in die Welt. War das eine Rolle, in der Sie sich wohl gefühlt haben?
Ich seh’ das anders. Die Rollen und Bilder, die man zugeordnet bekommt, die haben am wenigsten mit einem selbst zu tun. Ich glaube, dass ich seit 40 Jahren immer mit der nämlichen Intuition, mit derselben Wut, letztlich mit immer derselben Theatermethode meine Stücke schreibe. Ein Dramatiker setzt sich doch nicht hin – er würde auch seinen Beruf damit verfehlen – und sagt: Heute tu ich wieder anständig die Bürger schrecken. Er setzt sich hin und schreibt ein Stück über das, was er für notwendig, für die Wahrheit hält. Ich kann mir keine andere Intention für einen Dramatiker vorstellen als die: Ich will der Welt ganz dringend und aufgebracht etwas mitteilen. Ich behaupte, nicht ich habe mich verändert, sondern etwas ganz anderes: dass zum Beispiel aus diesen rüden Dialektstücken, mit denen wir angefangen haben, sehr schnell eine Dialektmode entstanden ist, dass dieser bürgerliche Verdauungsapparat sehr schnell begriffen hat, die beste Form der Immunisierung ist die Hochlebung. Es wird Ihnen aufgefallen sein, dass ich nach den genannten Stücken nie wieder ein Dialektstück geschrieben habe. Das war ja Mitte der Siebzigerjahre schon ein Markterfordernis, möglichst wilden Dialekt zu produzieren, und ich wusste, dem muss ich wieder entkommen. Die Immunisierung und Fesselung gehen sehr viel schneller vor sich, als man denkt. Und so hat sich im Laufe dieser 40 Jahre Theaterdichtens eine Summe von Etiketten an mir festgeklebt, ich komm’ mir manchmal vor wie ein Reisekoffer aus den Zwanzigerjahren, auf dem halt sehr viele Etiketten kleben, die letztlich über den Inhalt des Koffers nicht viel aussagen, aber dafür über die Etikettenkleber. Wenn man das alles überlebt hat, dann bricht irgendwann die Liebe aus, der werde ich jetzt schön langsam teilhaftig, und das ist auch ein Problem: Teilweise sind es dieselben Leute, die noch in den Achtzigerjahren Parlamentsdebatten gegen mich entfesselt haben, die mir jetzt Staatsorden umhängen wollen.
In einer Vorrede zum Abdruck einer „Alpensaga“-Folge haben Sie unter dem Titel „Obisteign“ Folgendes formuliert: „Wir haben eine Massenkultur, aber keine Kultur für die Massen. An diesem Dilemma kann man als Schriftsteller mit verbundenen Augen und reiner Seele vorbeigehen. Dieses Verhalten garantiert zwei Dinge: dass man Künstler genannt wird und total unwirksam bleibt. Wer der breiten Bevölkerung wirklich etwas sagen will, muss von seinem Dichterpodest heruntersteigen. Die Alpensaga ist ein Versuch in diese Richtung.“ Heute, fast 30 Jahre später: Ist der Versuch geglückt?
Ja. Wenn er an allen anderen meiner Stücke und Werke missglückt ist, an der „Alpensaga“ ist er geglückt. Die „Alpensaga“, die ich ja gemeinsam mit Wilhelm Pevny geschrieben habe und die der Dieter Berner inszeniert hat, hat es auch nur deshalb gegeben, weil die erste Folge, „Liebe im Dorf“, ein Straßenfeger war. Die haben uns damals völlig fassungslos angerufen und gesagt: Ihr habt höhere Einschaltquoten als Peter Alexander. Und das hat auch – behaupte ich jetzt einmal leicht größenwahnsinnig – etwas vom Geschichtsbild zumindest der jüngeren Generation beeinflusst, eben weil es über ein Massenmedium stattfand. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass in dieser Zeit zum einen das Fernsehen noch seine Identität suchte, zum anderen existierten auch nur zwei Kanäle. Als wir Jahre später mit Rudi Palla die „Arbeitersaga“ machten, hatte sich die Situation grundlegend gewandelt. Da gab es auch viel weniger politische Interventionen, nicht weil da irgendwer plötzlich weniger streichwütig gewesen wäre, sondern weil man gesagt hat: Es laufen so viele Programme, da ist es wurscht, was die Leute sehen, am nächsten Tag haben sie es ohnehin wieder vergessen. Der Zensor musste aufgrund von Quantität nicht mehr wirklich einschreiten, weil diese Mischung aus einem Film von uns und Fischstäbchen und all dem, was da so an einem Abend kreuz und quer in die Köpfe der Leute rinnt, eventuelle Wirksamkeiten auflöst. Ich hab‘ dann auch aufgegeben, weil ich das Gefühl hatte, ich bin nicht mehr gut. In mir liegt so eine merkwürdig volkspädagogische Ader, die ich manchmal ein bisschen lächerlich finde: Ich muss immer das Gefühl haben, ich erreiche die Menschen und kann mit denen etwas verhandeln. Wenn alle herumzappen und zwischendurch wischerln gehen und nachschauen, was im Sport ist, kann ich die tollste Szene bieten, sie ist womöglich gerade in einer Bierflasche ertränkt worden. Und da ist die Situation in einem Theater ein wahres Glück: Die Theaterbesucher sind ja arretiert für die Dauer von zwei Stunden und haben nur im Falle schwerster Prostataleiden den Mut aufzustehen, sonst trauen sie sich aus ihrer Reihe nicht heraus; diese Vergatterung der Menschheit für die Dauer eines Theaterstückes, das ist etwas Wunderbares. Ich versuche das zu nutzen, indem ich die Menschen nicht langweile.
Bleiben wir gleich beim Glück: Wenn man sich in der dramatischen Literatur umschaut, so ist die ja nicht gerade mit glücklichen Figuren überfüllt. Kann Glück für einen Dramatiker überhaupt ein attraktives Sujet abgeben?
Für mich schon. Das heißt jetzt nicht, dass ich Stücke schreibe, in denen das Glück überhand nimmt, schon gar nicht im Form des Happy-Ends, es heißt aber, und da unterscheide ich mich von etlichen Kollegen, dass für mich die Frage nach dem Glücks immer auch ein Thema in meinen jeweiligen Stücken ist. Ob und wie sich dieses Glück einstellt, ob es nur für die kurze Weile einer Selbsterkenntnis, einer Begegnung, einer Nähe vorkommt, ob es vielleicht nur den Charakter einer Sehnsucht hat: Ohne die Frage nach dem Glück kann und will ich kein Stück schreiben. Und ich kann Ihnen sagen, warum: weil ich sie auch für mein persönliches Leben beanspruche. Ich kann nicht das Glück für meine Person usurpieren und es meinen Figuren vorenthalten. Ein Theater, das eine Welt zeigt, in der es absolut nichts zu gewinnen gibt, für keine Figur, in der es von A bis Z auf den Untergang zuläuft, das interessiert mich nicht. Wir kommen ohne Sehnsucht nach dem Glück nicht aus. Selbst wenn das Glück nur für einen Moment währt oder eine Selbsttäuschung ist, wir brauchen das, um zu überleben. Wenn Sie meine Stücke einmal auf das hin anschauen, werden Sie bemerken, dass schon in der „Rozznjogd“, wenn die beiden Personen völlig nackt sind und sich sozusagen ohne Maske gegenüberstehen, eine große Euphorie entsteht. Oder wenn in „Josef und Maria“ der Josef mit Maria in diesem Warenhaus ins Bett steigt und auf einmal sein kommunistisches Gebrabbel aufhört und er die Haut von Maria berührt, dann entsteht eine wortlose Nähe, also Glück.
Wenn’s für die Menschen nichts mehr zu gewinnen gibt, wenn es für mich auch nichts mehr zu gewinnen gäbe, warum sollte ich der Welt dann mit Theaterstücken nahe kommen wollen? Dann ist eh Hopfen und Malz verloren. Das schließt die Anzahl der Unglücke, die man im Leben erfährt, die auch meine Figuren in den Stücken erfahren, nicht aus. Aber der Motor des ständigen Scheiterns ist immer diese Frage: Ja, wir können doch etwas bewerkstelligen. Die Ohnmacht würde mich ohnmächtig machen in einem buchstäblichen Sinne.
Als wir miteinander im Vorfeld unseres Gesprächs telefoniert haben, hab‘ ich mir gedacht: Nach dem Glück hat mich überhaupt noch niemand gefragt in den vergangenen 40 Jahren. Das ist die revolutionärste Frage, die es zwischen Menschen gibt. Und gleichzeitig ist es die am beharrlichsten ausgeklammerte Frage. Auch in Beziehungen. Wann fragt man schon: Bist du wirklich glücklich mit mir? Diese Frage wird zugeschüttet von Pyramiden alltäglicher Notwendigkeiten. Aber warum liebt man einander? Warum ist man zusammen? Weil man einander das Geschenk des Glücks machen möchte. Oder weil einen zumindest die Sehnsucht danach wach hält – und nicht das Sonderangebot bei Billa.
Und worin könnte das Glück des Dramatikers liegen? Beispielsweise darin, wie Sie mir einmal angedeutet haben, sein Stück am Uraufführungsabend noch einigermaßen wiedererkennen zu können?
Da möchte ich etwas weiter ausholen. Ich bin ja ein Dramatiker, der weniger vom Text kommt als von der Schauspielerei. Im Unterschied zu Elfriede Jelinek oder auch zu Christoph Hein, mit dem ich oft darüber diskutiere, ist das Maß, in dem ich Vorstellungen habe, wie alles auf der Bühne ablaufen soll, geradezu übermäßig. Und die ersten Jahre hab‘ ich bei Aufführungen meiner Stücke nur gelitten, nicht weil die alle so schlecht waren, sondern weil es für mich ganz schwer war zu kapieren, dass das, wie ich mir bis ins Detail, durch Regieanmerkungen abgesichert, den Bühnenvorgang ausdenke, nicht das Arbeitsmaß für Schauspieler und Regisseure sein kann. Die sind auch größenwahnsinnig, die sind auch Autisten, die haben auch alle möglichen Ideen. Es währte einige Jahre, bis ich gelernt hatte, dieser Erstenttäuschung – wieso tun die nicht so, wie ich gedichtet hab‘? – etwas entgegenzusetzen, nämlich: Versuch einmal genau zu schauen, was du da überhaupt vorgeführt bekommst.
Ich hab‘ einmal „Alpenglühen“ vorgelesen am Burgtheater, vor Beginn der Proben, und Kirsten Dene, die ich sehr verehre, sagt danach zu mir: „Mensch, Peter, hast du toll gelesen. Ich mach‘ das Gegenteil.“ Sag‘ ich zu ihr: „Wieso sagst du mir das?“ Und da hat sie den schönen Satz geprägt: „Ich möchte dir auch zeigen, was ich kann.“ Da hab‘ ich verstanden: Sie will jetzt ihr Geschenk vorbereiten, und das muss mit meinem nicht identisch sein. Ich habe gelernt: Wir Theatermenschen sind ein gemeinsames Unternehmen – und mittlerweile kann ich auch viel Freude an dem entwickeln, was womöglich ganz anders ausschaut, als ich es mir vorgestellt habe. Die Freude endet aber dort abrupt, und da beginnt mein Zorn und mein Unglück, wenn wirklich eine Verstümmelung stattfindet, wenn ich meine Sätze nicht wieder erkenne.
Was tun Sie dann?
Ich werde kleinlich, ich rufe nach dem Kadi. Man soll meine Stücke nicht machen, wenn dann Umdichtungen stattfinden oder Zeitungsartikeln hineincollagiert werden und so weiter. Es ist in Ordnung, wenn eine Regiegeneration kommt, die Nämliches als Sinn und Zweck des Theaters empfindet, das ist ihr Weg, aber nicht meiner. Als Theaterdichter bist du ein Lieferant des Wortes, ich komme beim Lieferanteneingang herein, neben mir kommt der mit den Wurstsemmeln für die Kantine, ich komme mit den Wörtern. Und wenn mir die weggenommen werden, dann hab‘ ich nichts mehr, und das halte ich nicht aus.
So viel Zorn über, so viel Leiden am Theater: Warum tun Sie sich das seit 40 Jahren an?
Das Theater ist ein Fußballplatz, es findet jetzt und heute statt, und man muss ein gutes Spiel liefern. Und weil Theater diesen Arena-Charakter hat, ist die Daumen-oben- oder Daumen-unten-Haltung immer wieder eine Begleiterscheinung meines Lebens. Nicht ohne Schmerzen bei einer Niederlage. Aber das Gegenteil davon ist die allergrößte Freude. Eine gelungene Premiere, das Gefühl, nach all diesen Anstrengungen hat man der Welt doch wieder etwas schenken können, das ist ein großes Glück für mich. Das kommt gleich nach der Liebe.
Wolfgang Freitag, „Glück im Theater“ (Wien, 2007)