Gilgamesch-Epos: Diese 5000 Jahre in uns allen

Das älteste Großepos der Welt als Comic: Jens Harders Version des Gilgamesch-Zyklus – wie man Nähe schafft, indem man die Distanz nicht verleugnet.

 

„Es sind schon Hausherren gestorben“, sagt man in der Wiener Vorstadt gern, will man auf die Vergänglichkeit von Größe verweisen, sei es zum Trost, weil man seinerseits kein Hausherr ist, sei es als Mahnung, dass selbst Hausherren-Bäume, ein weiteres einschlägiges Bild, nie in den Himmel wachsen. Und mag es noch so verführerisch erscheinen, sich an der eigenen Größe, in unserem Fall jener der westlichen Zivilisation, immer wieder zu berauschen: Ein Blick in die trübe Gegenwart vormaliger „Wiegen der Menschheit“ lässt uns rasch der Triftigkeit der Wiener Vorstadtphilosophie einsichtig werden – wie der Nichtigkeit kultureller und politischer Selbstüberhebung.

Dergleichen kommt in den Sinn, nimmt man Jens Harders Comicadaption des Gilgamesch-Epos zur Hand: Gleich zu Beginn schält sich auf einer ganzen Seite die Landschaft des Geschehens aus einer erst ungeformten, dann Bild für Bild Form annehmenden Vogelschau auf das Terrain, als würde man Zeuge eines Äonen währenden geologischen Vorgangs, jene Gefilde schaffend, die uns heute als Heimstatt der ältesten Hochkulturen dieser Welt gelten: das Zweistromland rund um Euphrat und Tigris. Quasi in seinem Herzen wiederum: jenes Uruk, das gern als erste „Megacity“ des Uraltertums gesehen wird und heute wenig mehr als ein paar kümmerliche Trümmer in einer graubraunen Einöde ist, im Südosten eines Staates, dessen Gegenwart in unseren Köpfen einzig mit Krieg und Zerstörung, aber gewiss nicht mit Hoch- oder womöglich Höchstkultur verbunden wird – des Irak.

Von Aufstieg und Untergang erzählt auch der Gilgamesch-Zyklus selbst, das erste Großepos der Weltliteratur, in seiner geläufigsten Form gut 3000 Verse schwer, versammelt auf zwölf Tafeln, die freilich selbst in der vollständigsten Version, der akkadisch-ninivitischen, nur bruchstückhaft aus dem siebenten vorchristlichen Jahrhundert auf uns gekommen sind. Genauer aus der Bibliothek des Assyrer-Königs Assurbanipal, der seinerseits nur festhalten ließ, was ein Dichter ein weiteres halbes Jahrtausend früher geschrieben hatte. Der wiederum auf Erzählungen referierend, die uns bis ins dritte vorchristliche Jahrtausend verweisen.

An dessen Anfang wäre auch – falls es ihn tatsächlich gegeben hat – jener König Gilgamesch anzusiedeln, um dessen Leben und Sterben das Epos kreist. Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch, herrscht Gilgamesch über Uruk in unumschränkter Macht- und Prachtentfaltung. Was die Dichtung über ihn selbst, über seine Taten, seine Freundschaft mit dem aus Erde geformten Gefährten Enkidu, Enkidus Tod und Gilgameschs Leiden an der Erkenntnis auch eigener Endlichkeit berichtet, hat in der Literatur des Altertums tiefe Spuren hinterlassen. Und seit ihrer Wiederentdeckung Mitte des 19. Jahrhunderts die Fantasie einer längst unüberschaubaren Zahl von Deutern entzündet.

Doch egal, ob man die Verse primär rund um das Thema Frauenliebe versus Männerfreundschaft, ums Erwachsenwerden, um den Konflikt zwischen Kultur und dem Naturgegebenen, um das Auseinanderdriften unterschiedlicher Wertvorstellungen oder – und das ist ja unbestreitbar – um unser aller Ringen mit eigener Sterblichkeit kreisen sieht: Ihr Alter von knapp 5000 Jahren wird ihnen immer eigen sein und eigen bleiben, mag man sie noch so sehr der Gegenwart eingemeinden wollen. Nicht dass die angesprochenen Aspekte des Geschehens je vergänglich wären: Vergänglich und also zeitlicher Wandelbarkeit unterworfen freilich bleibt, in welchen konkreten Handlungen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld, im Rahmen welches Weltbilds sie sich äußern. So wäre eine Art ritualisiertes Jus primae noctis, wie es Gilgameschs Uruk kennt, nicht erst in Zeiten von MeToo doch recht befremdlich, der kaltblütige Mord an einem im Grunde unbescholtenen, wenngleich dämonischen Riesen heutigem Verständnis nach eher keine Heldentat, vom mutwilligen Fällen einer Riesenzeder ganz zu schweigen.

Schlichte Erdfarben. Jens Harder versucht erst gar nicht, als gegenwärtig zu präsentieren, was doch in vielen Äußerlichkeiten bestenfalls archaisch-symbolisch, häufiger einfach und – zum Glück – vergangen ist. Schließlich habe er, hält er in einer Nachbemerkung fest, die „mythische Zeit der Entstehung des Epos“ genauso bedenken wollen wie die „Ehrfurcht vor diesem einzigartigen Schatz“. Also folgt er in seiner zeichnerischen Gestaltung dem historischen Vorbild von Wandreliefs, wie sie aus dem alten Assyrien dokumentiert sind, taucht das Geschehen in schlichte Erdfarben, verzichtet auf sonst Comic-notorische Elemente wie Sprechblasen oder die Integration von Text in die Bildflächen. Von Zacks und Bums gar nicht zu reden. Eine Darstellungsweise, die den Armenbibeln des Mittelalters mit ihren knapp kommentierten Bildfolgen näher ist als dem, was unser Bewusstsein allgemein in der Abteilung Comic abzulegen pflegt: Der Text, aufs Wesentlichste konzentriert, begleitet Bild für Bild als epische Erläuterung, getrennt vom Geschehen und doch Teil des Ganzen. Und auch in seiner textlichen Gestaltung orientiert sich Harder eher an Übersetzungen älteren Datums als an Neuerem, selbst wenn die Texte, wie er einbekennt, dadurch „etwas gestelzt oder ungelenk daherkommen“: ist doch das Kenntlichmachen zeitlicher Distanz und nicht ihr Verwischen sein kom positorisches Credo. Damit wiederum schafft er genau jene Distanz, die hinter manch befremdlichem Detail das große Ganze sichtbar werden lässt: Nein, dieser Gilgamesch ist keiner von uns – und uns doch in seiner grenzenlosen Lebensgier, in seinem verzweifelten Ringen um Erfüllung im Hiesigen, in seiner unstillbaren Sehnsucht nach Unsterblichkeit ähnlicher, als uns lieb sein kann.

Das große Uruk gibt es längst nicht mehr, seine mächtigen Mauern, vor Jahrtausenden schon sind sie gefallen. Sein Erbe freilich lebt bis zum heutigen Tag – in jedem von uns.

„Die Presse am Sonntag“, 14. Jänner 2018

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