Comics zur Heimatlosigkeit: Die Kälte inmitten unserer Behaglichkeit

Verfolgte, Entfremdete, Entrechtete im Mittelpunkt aktueller Graphic Novels: was Heimat ist und was alles zu unserer Heimat werden kann.

Draußen ist niemand gern. Draußen in der Kälte. Draußen im Dunkeln. Draußen in der Einsamkeit. Selbst wenn wir manchmal vielleicht die wohlige Wärme der Gemeinschaft zum Teufel wünschen, weil sie uns einlullt in einer Behaglichkeit, die uns schläfrig und träge macht, so bleibt es doch meist jenen vorbehalten, Vorzüge des Außenseitertums auszumachen, die ihrerseits bestens umsorgt und aufgehoben in zwischenmenschlichen Beziehungen sind. Aus dem komfortablen Fauteuil des Besitzenden lässt sich ja auch sonst am ausführlichsten von den Meriten der Besitzlosigkeit schwärmen, sei es in materiellen wie in immateriellen Angelegenheiten.

Nehmen wir das Schicksal des Jean-Michel Basquiat: Die Mutter aus Puerto Rico stammend, der Vater aus Haiti eingewandert, wird Basquiat 1960 in New York City geboren – als Afroamerikaner in eine Gesellschaft hinein, in der ein Baptistenpastor namens Martin Luther King eben erst im Zusammenhang mit seinem Engagement für die Bürgerrechtsbewegung zu vier Monaten Zwangsarbeit verurteilt worden ist. Shootingstar und Drogensucht. Einer Kindheit ohne Freunde folgt eine Adoleszenz im New Yorker Underground samt Aufstieg zum Shootingstar der Kunstwelt, deren vielfachen Versuchen, ihn einzugemeinden, sich Basquiat freilich immer wieder mit radikalem Ungestüm widersetzt. Als wüsste er nur zu gut, dass er, ob er’s nun will oder nicht, stets anders als die anderen sein wird. Das Ende folgt einer geläufigen Dramaturgie: Nach einem Leben voller Kampf gegen Konventionen, voll Drogensucht und sexuellem Exzess stirbt Basquiat, keine 28 Jahre alt, an einer Überdosis.

Der dänische Zeichner Søren Mosdal taucht diese Existenz im permanenten ungewollt-gewollten Widerspruch, ganz der Basquiat eigenen explosiven Ästhetik folgend, in knallbunte Bilder, die in ihrem Überschwang fast aus den Seiten zu platzen scheinen. Texter Julian Voloj folgt streng biografisch den Schlüsselszenen eines Außenseiterdaseins, das bis heute keinen kalt lässt.

In der Bildsprache sehr viel konventioneller, in der Wirkung freilich nicht weniger beeindruckend, wie der Band „They Called Us Enemy“ von einem anderen Kapitel US-amerikanischer Geschichte berichtet: von der Internierung japanischstämmiger Einwanderer während des Zweiten Weltkriegs. Hier ist es ein Betroffener, der sich selbst zu Wort meldet: der Schauspieler George Takei, seit einem halben Jahrhundert einer weltweiten Fangemeinde wohlbekannt als Lieutenant Sulu an Bord des Raumschiffs Enterprise.

Takei, 1937 in Los Angeles als Sohn eines Japaners und einer in den USA aufgewachsenen japanischstämmigen Mutter geboren, wird nach dem Angriff auf Pearl Harbor gemeinsam mit 120.000 Leidensgenossen von den US-Behörden ohne näheres Hinsehen als „enemy alien“ eingestuft und mit seiner Familie in wechselnden Lagern festgesetzt. Was das Kind zunächst als ein wenig seltsames Abenteuer erlebt, wandelt sich nur allzu rasch zum Albtraum, für den es über Jahrzehnte keine offizielle Entschuldigung, geschweige denn eine Entschädigung gibt.

George Takei, assistiert von den Textern Justin Eisinger und Steven Scott, berichtet davon sachlich, nüchtern, ohne Emphase und genau deshalb nur umso eindringlicher. Die Illustratorin Harmony Becker steuert zurückhaltende, auf wenige Striche konzentrierte Bilder bei, denen jedes Bemühen um Effekt fremd ist.

Ähnlich distanziert und gleichermaßen nachhaltig skizziert die Münchner Comic-Künstlerin Birgit Weyhe die „Lebenslinien“ ihrer Protagonisten. Für den Berliner „Tagesspiegel“ hat sie, mehrheitlich auf Basis eigener Interviews, Biografien nachgezeichnet, die im Spannungsfeld von Heimatverlust und Heimatsuche angesiedelt sind. Was ist Heimat, lautet die Frage: ein Ort, eine Sprache, eine Überzeugung – oder Menschen, die unser Leben teilen? Eine Frage, auf die jeder und jede eine eigene Antwort finden muss, jedoch nicht immer findet.

Die Ereignisse des Jahrs 2015 seien Ausgangspunkt ihres Projekts gewesen, berichtet Birgit Weyhe, „als auf einmal viele Geflüchtete mitten in Europa standen“. Doch sind es keineswegs nur Fluchtgeschichten, von denen sie erzählt: Da ist auch Priscilla aus Chicago, die nach einer Jugend als Punk honorige Professorin an einer US-Universität wird und doch in ihrem Herzen immer Punk bleibt. Oder Julio aus Havanna, den das Leben gegen seinen Willen nach Europa spült und der nach Jahren des Scheiterns hier letztlich dennoch Anschluss und Zukunft findet.

Ortlosigkeit. Eher Bildgeschichte denn Comic, kreisen Weyhes „Lebenslinien“ immer wieder um Entfremdung, was sie überwinden und wie sie uns die Luft zum Atmen nehmen kann. Ein Thema, dem sich auch die junge kanadische Zeichnerin widmet, die sich kurz gg nennt und mit „Wie Dinge sind“ ihre erste längere Comicerzählung vorgelegt hat. gg selbst ist die Tochter von Einwanderern, und ihre schwebenden, autobiografisch gefärbten Panels geben ohne viele Worte das Gefühl der Ortlosigkeit wieder, das Mitglieder der zweiten Generation so oft quält: die Empfindung, nicht mehr dort und noch nicht da zu sein, damit verbunden der Verlust der inneren Mitte.

Der steht, unter ganz anderen Voraussetzungen, auch im Fokus einer Serie von Erzählungen des Manga-Künstlers Yoshiharu Tsuge, entstanden Mitte der 1980er, die nun in dem Band „Der nutzlose Mann“ versammelt sind. Hier braucht’s keinen Sprach- oder Kulturschock, um den Protagonisten ins soziale Out zu treiben: Es genügt, dem obersten Gebot jeder Leistungsgesellschaft nicht mehr zu gehorchen, nämlich dem, immer und um jeden Preis leistungsfähig zu sein.

Innere Emigration. Am Beispiel des Comiczeichners Sukegawa Sukezo, den Arbeitslosigkeit in innere Emigration zwingt, exerziert Tsuge vor, wie in einem stramm am materiellen Erfolg orientierten Gemeinwesen andere Werte einer Existenz bedeutungslos werden. Und Tsuge weiß, wovon er zeichnet. Sein „nutzloser Mann“ samt dessen verzweifeltem Bemühen, einem in vermeintlicher Sinnlosigkeit ertrinkenden Leben durch geradezu groteske Beschäftigungsversuche Sinn zu geben, ist eigenen Erfahrungen abgeschaut – und dem eigenen Erstarren in hilfloser Agonie: vor dem eigenen Vorwurf des Versagens und jenem, der von anderen kommt. Ja, drinnen ist es warm und draußen kalt. Doch diese Kälte ist nur allzu oft eine, die mitten im Inneren der Gesellschaft ihren Ursprung hat.

 

„Presse am Sonntag“, 8. November 2020

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