Bacilieris „Private Venus“: Ein Film noir, gedreht mit spitzem Zeichenstift

Eine Tote im Gebüsch, ein Arzt als Ermittler, Sex & Crime und ein Mailand im Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre: Giorgio Scerbanencos erster Duca-Lamberti-Krimi, von Paolo Bacilieri kongenial zur Graphic Novel transformiert. Mein Comic des Monats im April 2024: „Private Venus“.

Die Mailänder Polizei muss überaus unbedarft sein. Da wird eine junge Frau im Gebüsch unter einer Autobahnbrücke gefunden, die Pulsadern aufgeschnitten, verblutet, und alles wird sorgsam dokumentiert: die Haare, „dunkel, aber nicht schwarz“, das blaue Kleid, die Sonnenbrille und deren runde Gläser, selbstverständlich auch der Fundort, Metanopoli, eine Anfang der 1950er errichtete Reißbrettstadt im Südosten der norditalienischen Metropole. Nur eine nicht so geringe Kleinigkeit wird übersehen: Womit um alles in der Welt mag sich die Arme wohl ihre tödlichen Verletzungen zugefügt haben – so sie es denn selbst war, die da Hand an sich gelegt hat . . .

Nun, man hat schon feinsinnigere Plots gelesen, die eine Intervention außerpolizeilicher Kräfte zur Aufklärung eines Kriminalfalls begründeten. Andererseits, immerhin kann angesichts solcher Ermittlungshoppalas kein Zweifel über deren Notwendigkeit bestehen. Derlei Aktivitäten wiederum einem Mediziner zu überlassen, ist zur Entstehungszeit des Romans, den der italienische Zeichner Paolo Bacilieri für seine Graphic Novel „Private Venus“ als Vorlage verwendet hat, keine große Neuigkeit: Als Giorgio Scerbanenco (1911-1969) einen Dr. med. namens Duca Lamberti 1966 erstmals auf Ermittlungsreise schickte, konnte die Ärzteschaft, beginnend mit Sherlock Holmes’ notorischem Schatten Dr. Watson, schon auf eine beachtliche Anzahl entsprechender Kriminalliteratur-Einsätze zurückblicken.

Als spezielles Kolorit hat Scerbanenco seinem Duca Lamberti allerdings eine düstere Vergangenheit auf den Doktorleib geschrieben: Lamberti hat einer todgeweihten Patientin zu einem gnädig vorzeitigen Sterben verholfen und sich darob nicht nur eine mittlerweile abgesessene Gefängnisstrafe eingehandelt, sondern zudem seine Approbation verloren. Kurz: Er muss sich sein Geld vorerst jenseits seines angestammten Berufs verdienen. Lambertis Nähe zur Kriminalistik manifestiert sich andererseits in Gestalt seines Vaters, der als Polizist erst von der Mafia gejagt, dann, nach einem Attentat, das ihn schwer verletzt hinterließ, nach Mailand versetzt wurde und – so sieht es Lamberti – aus Gram über seines Sohnes Verfehlung einen allzu frühen Tod gestorben ist.

Bilanz nach 40 von 160 Graphic-Novel-Seiten: eine mysteriös zu Tod gekommene Frau, unfähige Polizeiermittler, ein Arzt zwischen Schuldgefühl und Rehabilitierungssehnsucht – und ja, da ist noch dieser eigenartige Signor Auseri, der seinen Trinkersohn der Obhut Lambertis überantworten will, auf dass der ihn von seiner unseligen Alkoholsucht heile. Die anschließenden 120 Seiten erweisen – was sonst? -, dass all diese wirren Handlungsfäden irgendwie zusammenhängen, ja dass sich hinter den scheinbar individuellen Schicksalen ein böses großes Ganzes offenbart, das in Wahrheit zusammenkommen lässt, was anderweitig nicht im Mindesten zusammengehörte.

So weit, so konventionell. Durchaus überraschend freilich, wie Scerbanenco eine rouiniert durchbustabierte Kriminaldramaturgie entfaltet – nämlich indem er sie zum Vorwand nimmt, ganz beiläufig die sozialen Hintergründe und die Abgründe der Nachkriegsgesellschaft offenzulegen. Und dieses Wie hat ihm mit seiner Duca-Lamberti-Reihe zu Recht allerlei Ehrungen und die Nachred eingetragen, eine Art Godfather des italienischen Kriminalromans zu sein. Dazu passt dann auch, dass seit 1993 alljährlich die beste einschlägige Publikation Italiens mit dem „Premio Giorgio Scerbanenco“ geehrt wird.

Es sind späte Ehrungen, die der aus Kiew gebürtige Sohn eines Lateinlehrers und einer Italienerin erfährt. Lange Jahre hindurch sind Schundheftverlage und die Unterhaltungsressorts von Tageszeitungen einzige Tribünen für Scerbanencos schriftstellerische Tätigkeit, und erst der Erstauftritt von Duca Lamberti öffnet ihm 1966 die Tür zu den erlauchten Räumen literarischer Anerkennung; mehrere Verfilmungen und Fernsehadaptionen folgen – so gut wie alle allerdings werden erst nach Scerbanencos Tod im Alter von gerade einmal 58 Jahren veröffentlicht.

Zum selben Zeitpunkt, im Oktober 1969, hat Paolo Bacilieri erst seinen vierten Geburtstag hinter sich: Und genau dieselbe Zeit, die Scerbanenco in seinen Duca-Lamberti-Romanen skizziert, ist die Zeit, in der Bacilieri aufwächst. Und noch etwas anderes verbindet die beiden, die doch sonst so viel, nicht nur das Alter, trennt: ein Leben, das beide, wiewohl anderwärts geboren, letztlich nach Mailand führt. So kennt Bacilieri von Klein auf all die Mailänder Quartiere, die Scerbanenco mit konziser Präzision für seine Handlung als Schauplätze wählt. Und Bacilieri weiß auch ganz selbstverständlich um die Atmosphäre, die diesen Quartieren in jenen Tagen eignete.

Es ist die Zeit des ausklingenden italienischen Wirtschaftswunders, das ab den 1950ern gerade die hochindustrialisierte Boomtown Mailand in eine Art Goldgräberstimmung versetzte. Eine Goldgräberstimmung, in der Scerbanenco jenen folgt, die beharrlich daran scheitern, an der allgemeinen Fortüne teilzuhaben. Es sind die Randexistenzen, die Ausgestoßenen, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt, und ihren Versuchen, doch ein Stück vom großen Glück zu erhaschen – und die sich und anderen immer drängender die Frage stellen, warum ausgerechnet ihnen doch genau dieses Glück fort und fort verwehrt bleibt.

Mit der Präzision eines Filmregisseurs setzt Bacilieri das Personal Scerbanencos in Szene – und mit der Wirkmächtigkeit eines Zeichners, der keine Berührungsängste mit der Kolportage kennt. Das beginnt quasi schon beim „Casting“ seiner Comic-Charaktere: Präziser lassen sich Scerbanencos Figuren gar nicht ins Bild fassen, der kantige Duca Lamberti, der schwammig-aufgedunsene Sohn Signor Auseris. Und dass es in Serbanencos Story nicht nur um Crime, sondern nicht zuletzt um Sex geht, bleibt auch im Artwork kein Geheimnis.

Dialoge, die wie in einem Drehbuch aufgedröselt sind, dann wieder harte Schnitte zwischen Close-ups und Totalen, Rhythmuswechsel, unvermitteltes Beschleunigen, dem ebenso unvermittelt ein Zögern folgt, als forderte ein bestimmter Moment unsere ganze Aufmerksamkeit: Nichts ist dem Zufall überlassen, alles folgt einem Handlungsaufbau, der Leserin und Leser in eine Lektüre zwingt, die ebenso alternativlos scheint wie eine Lebenswelt, die die Akteure, je verzweifelter sie sich dagegen sträuben, umso unvermeidlicher ins Unglück stürzt.

Bacilieris Annäherung an Scerbanencos Roman ist ein Stück Kintopp auf Papier: ein Film noir, gedreht mit Feder und spitzem Zeichenstift – und naturgemäß konsequent in Schwarz-Weiß. Hinreißend mitreißend. Und glaubt man Bacilieris Aussagen nach der italienischen Erstveröffentlichung im Dezember 2022, soll er weiteren Scerbanenco-Adaptionen nicht abgeneigt sein. Man kann nur hoffen, dass dem viel beschäftigten 59-Jährigen zwischen all seinen anderen Projekten genug Zeit dafür bleibt.

Der Comic des Monats im April 2024
Paolo Bacilieri, Giorgio Scerbanenco
Private Venus
Aus dem Italienischen adaptiert von Myriam Alfano nach einer Übersetzung von Christiane Rhein.
160 S., € 25
(Avant Verlag, Berlin)

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