Strömquists Influencer-Demontage: Ich berate, also bin ich

Hie eine Gesellschaft im Selbstoptimierungswahn, da Ratgeber aller Qualifikationen und Popularitäten, die uns zeigen wollen, wie wir bekommen, was nicht zu haben ist: ewiges Glück. Liv Strömquists Sachcomic „Das Orakel spricht“: mein Comic des Monats im Dezember 2024.

Sie wohnen komfortabel, verfügen über ein solides Einkommen, die privaten Beziehungen zwischen Ihnen und Ihren Mitmenschen erfolgen friktionsfrei, die beruflichen ebenso, Sie genießen das Leben, wie es Ihnen begegnet, Sie sind gesund und im Rahmen des menschenmöglichen sorgenfrei, kurz: Es geht Ihnen gut. Es geht Ihnen gut? Nicht doch. Tief in Ihrem Inneren drinnen, da findet sich bestimmt irgendeine kleine – sagen wir – Irritation. Und was heißt schon gut, wo es doch bestimmt noch besser ginge?

Aber keine Angst, Rettung ist nah. Heilung von Enttäuschungen, Problemen, von denen niemand ernsthaft Notiz nähme, gäbe es da nicht Heerscharen von Ratgeberinnen und Ratgebern aller Qualifikationen und Popularitäten, die sie uns, zum Trauma aufgeblasen, ins Gemüt schwatzen. Ratgeberinnen und Ratgeber vom Format jener Nicole LePera, die Liv Strömquist in ihrem aktuellen Sachcomic „Das Orakel spricht“ als Beispiel für eine ganze Branche herausgreift: Seelentröster von eigenen Gnaden, deren Erfolg darauf beruht, uns Sorgen einzureden, die wir ohne sie gar nicht hätten, um uns anschließend, sei es via Youtube, sei es in ihren Büchern, den rechten Weg zu zeigen, wie wir, was wir eigentlich gar nicht hatten, wieder loswerden.

Nun, derlei ist im Grunde keine Neuigkeit, sieht man von dem Potenzial ab, der sich psychologisierenden Quacksalbern aller Arten durch die medialen Möglichkeiten der Gegenwart in Sachen Verbreiterung ihres Kundenkreises bietet. Wo ehedem Tausende erreicht wurden, sind es mittlerweile zig Millionen. Was Strömquist an LePera und Co aber im Besonderen interessiert, ist etwas anderes: dass wir ob der permanenten Beschäftigung mit dem eigenen Ich und seinen Befindlichkeiten unsere Mitmenschen aus den Augen verlieren. Strömquist nennt das „chronische Selbstreflexion, ein krankhaftes Fokussieren auf sich selbst, anstatt dass man jemanden anderen in den Blick nimmt, sich für etwas anderes interessiert, jemandem hilft, jemanden liebt“.

Wir ahnen schon: Nach ihren vor allem feministisch inspirierten Comicerfolgen „Der Ursprung der Welt“ (2017) und „Der Ursprung der Liebe“ (2018) bewegt sich die schwedische Zeichnerin diesmal quasi geschlechtsneutral durch soziologische Gewässer, freilich mit derselben Verve, Akribie und Schnoddrigkeit, die schon den genannten Vorgängerbänden eigneten.

Wie diese vertraut auch „Das Orakel spricht“ über weite Strecken der Macht des Schriftlichen: Hier geht es nicht zuvörderst um zeichnerische Finessen, hier ist zuallererst das Wort am Wort, einmal groß, dann wieder klein auf die Seiten gesetzt, verzerrt, zittrig oder auch in grotesken Typografien, je nach Bedeutung und Sinnzusammenhang, weit mehrheitlich allerdings quasi locker handschriftlich hingeworfen, als sei der Text eben erst, fast im selben Augenblick geschrieben, da wir ihn lesen. Nur da und dort blitzt Strömquists illustratives Raffinement auf, etwa wenn sie jenen Philosophieheroen, die sie zitiert, ein Gesicht gibt, um deren Einsichten in Sprechblasen legen zu können. Von Theodor W. Adorno über Jacques Lacan bis Slavoj Žižek: Sie alle finden sich, als feine, stets wertschätzende Karikatur, auf Strömquists Seiten wieder.

Worum es ihr getan ist, darüber sorgt Strömquist für Klarheit, noch ehe sie das erste ihrer sieben Kapitel beginnt. In einer Art Präludium lässt sie eine nicht näher benannte Influencerin über fünf Seiten und 30 Panels in allen quälenden Details ihre „abendliche Hautpflegeroutine“ vorführen, bestehend „aus einer zehnminütigen Vibrationstherapie“ mit einem elektrischen Massagestab, der final, was sonst, auch noch feilgeboten wird: „Nur jetzt für 389 Euro!“ So einfach lässt sich unser zwänglerischer Selbstoptimierungswahn samt seiner Benutzung als Geschäftsmodell ins Bild setzen.

Ja, aus allen medialen Kanälen purzeln sie uns entgegen, die selbsternannten Weisen aus dem Abendland, die uns in drängender Ausführlichkeit erklären, wie man richtig schläft, isst, trinkt, joggt, lernt, spart, denkt, fühlt, wie man sich – siehe oben – Heilung von allem und jedem verschafft. Vor allem aber: wie man Spaß am Leben hat, also so richtig, nicht einfach nur so, sondern einem korrekten Spaßerzeugungsregulatorium folgend. Wir unsererseits wiederum haben offenbar nichts Wichtigeres zu tun, als all das begierig in uns aufzusaugen. Aus Überdruss am Überfluss, der uns umgibt, könnten manche meinen. Weil wir verlernt haben, mit Rückschlägen, mit Verlust, mit Trauer, mit der ultimativen Peinlichkeit unserer Existenz, der, irgendwann sterben zu müssen, auch nur halbwegs zurande zu kommen, meint Liv Strömquist. Stattdessen jagen wir besessen einem wie auch immer definierten Ideal hinterher, selbst wenn besagtes Ideal bloß aus diesem bewussten noch viel gesünderen Müsli oder dem Staubwedel besteht, der unser Bücherregal so radikal entstaubt wie kein anderer.

Unmittelbar verbunden mit unserer verbissenen Arbeit am Ego, ja geradezu deren Voraussetzung, ist die nicht weniger verbissene Lust, anderen Ratschläge zu erteilen. Eine Art sich beständig selbstverstärkender Kreislauf: Denn Ratschläge zu erteilen wirft seinerseits wiederum Mehrwerte fürs Ich ab. Ich berate, also bin ich. „Es ist ein interessanter Gedanke“, so Strömquist, „dass die Springflut an ,Lebensexpert*innen‘ mit ihren Milliarden Tipps“, etwa dem, siehe oben, wie man mit einem Massagestab korrekt das Gesicht massiert, „sich nicht aus einem allgemeinen Bedürfnis speist, sondern dass die Ursache bei den Beratenden zu finden ist“ – weil die sich selbst „so glücklich und wichtig fühlen, wenn sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben“.

Es ist ein komplexer Sozialbefund, den Strömquist, ausgehend von unserer permanenten Selbstthematisierung, entwickelt: ein Befund, der die Fragmentierung westlicher Gesellschaften genauso in den Blick nimmt wie die furiose Beschleunigung des Lebens in der Gegenwart oder eine merkantile Maschinerie, die uns Entscheidungskompetenz vorgaukelt, wo wir längst nichts mehr zu sagen haben.

Was also tun? Naturgemäß wäre es naheliegend, in einem Band, der sich der allgegenwärtigen Ratgeberei entgegenstemmt, auf Empfehlungen welcher Art immer zu verzichten – oder sich allenfalls mit jener zu bescheiden, die einst das delphische Orakel in gewohnter Doppelbödigkeit einem Ratsuchenden erteilt haben soll: „Folge keinem Rat!“ So ganz freilich vermag sich Strömquist derlei denn doch nicht zu enthalten. „Geh raus“ ist das finale Kapitel ihres Bandes überschrieben, gemeint: raus aus der manischen Selbstbetrachtung und hinein in das, was Strömquist „sinnliches Erleben“ nennt. Was auch immer man darunter verstehen mag: Schaden kann’s auf keinen Fall.

Der Comic des Monats im Dezember 2024
Liv Strömquist
Das Orakel spricht
Aus dem Schwedischen von Katharina Erben.
248 S., € 25
(Avant Verlag, Berlin)

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