„Das Riesenradl, das gibt’s nicht mehr“

Das Wiener Riesenrad ist kein Rad, sondern eine Brücke. Und es ist nicht rund, sondern hat 30 Ecken. 100 Jahre Riesenrad: von amerikanischem Erfindergeist, englischem Eisen und dem Wiener Zeigefinger, der stets verneint. Eine Umkreisung.


Unser Riesenrad. Wir achten, ja wir lieben es. Demonstrativ, vor aller Welt. Wir kleben es auf Schnapsgläser, brennen es in Souvenirteller, fassen es in Schneekugeln, reproduzieren es in endloser Serie auf Ansichtskarten. Als unverkennbaren und unverwechselbaren Teil von Wien schicken wir es um den Globus. Und umarmen es nur umso fester, je mehr es von draußen wiederum als typisch wienerisch eingefordert wird. Unsere Botschaft: Das Riesenrad ist ein Stück von uns.

Ein ziemlich schweres Stück: 430 Tonnen Eisen. Ein wenig unnahbar auch. Eher eine kühle Geliebte ist es, der wir uns da tourismuswirksam an die Pylonen und in die Speichen werfen. Nüchterne Zweckarchitektur, Technik ohne Schnörkel, kein Erkerchen, kein Ornamentchen, das verführerisch mit den Wimpern klimpert, nichts Anheimelndes, das die hierorts gepriesene und allenthalben beschworene Gemütlichkeit ahnen ließe. Und was uns auf den ersten Blick rundum rund erscheint, hat in Wahrheit 30 Ecken. Jeder Zoll keine Sentimentalität, keine Melancholie, nur nackte Funktion. Die Antithese zum Talmiglanz der Riesenrad-Entstehungszeit, zu Hundertwasser heute.

Und dennoch eine tief im Gefühl sitzende Größe: eine, die als Wiener Symbol im öffentlichen Bewusstsein zwar deutlich hinter dem Stephansdom, aber ebenso deutlich vor Schloss Schönbrunn, der Oper und der Hofreitschule rangiert – wenn man den Ergebnissen einer Telefonumfrage vom Jänner 1993 Glauben schenken mag.

Wie hat sie sich wohl unser Gemüt erobert, die seltsam Spröde? Durch Treue? Durch Beständigkeit? Wo es an äußeren Reizen mangelt, ist man rasch geneigt, innere Werte zu bemühen. Tatsächlich könnte man meinen, das Riesenrad habe sich in den 100 Jahren seiner Existenz mit jeder Umdrehung tiefer in unser Inneres geschraubt. Es war da, es ist da, wird immer da sein, glauben wir. So wie damals bei der alten Reichsbrücke, Sie erinnern sich, 1937 bis 1976, ruhe sanft.

Streng hypothetisch gefragt: Was, wenn einmal auch das Riesenrad fällt? An wen werden wir dann unsere überschüssige Souvenirteller- und Schnapsgläser-Zuneigung wenden? Und vor allem: Wohin werden Wiener nach der Firmung fahren?


„Urcool!“ entschlüpft es zwei Halbwüchsigen, als sich der Waggon bedächtig über das Blätterdach des Praters in die Lüfte schwingt. Urcool? Eine Geschwindigkeit von 2,7 Kilometern pro Stunde? Jeder Spaziergänger ist schneller. 65 Meter über Grund als maximale Höhe? Das übertreffen mittlerweile nicht wenige Gebäude zwischen Wohnpark Alterlaa und UNO-City. Vielleicht ist es einfach die Magie der Industrie, die bis heute ihre Wirkung nicht verfehlt.

Es ist Samstag, elf Uhr, heiter bis wolkig. Im Waggon das Ballett der Ausblickheischenden: nach dem Einstieg alles rechts schaut, geradewegs nach Süden über den dritten Bezirk hinweg, jedenfalls weg vom Rad. „Ist das dort das Hundertwasser-Haus?“ wird am folgenden Sonntagmorgen eine Touristin aus Traunstein, Bayern, fragen. Und sie wird auf ein Gründerzeithaus in der Prater-Cottage deuten.

Auf dem Höhepunkt dann leichte Irritation, meist die Wanderung zur schmalen Westseite des Waggons mit Blick auf Kahlenberg, Leopoldsberg und die Hundertwasser-Müllverbrennungszwiebel („Was glänzt denn da in der Sonne?“). Schließlich alles nach Norden, abermals dem Rad den Rücken gekehrt, UNO-City, die rasch aufschießende Verbauung der Platte über der Donauuferautobahn samt Andromeda-Turm (garantiert hundertwasserfrei). Die Ostseite bleibt die längste Zeit verwaist; wen interessieren schon die Entsorgungsbetriebe Simmering oder das Kraftwerk Lobau? Und die „Hundertwasser-Style-Bar“ direkt am ostseitigen Fuß des Rades, die kann man ja nach dem Aussteigen in aller Ruhe inspizieren.

Wien 1897. Eine Künstlergruppe rund um Gustav Klimt gründet die Secession. Gabriele von Possanner wird als erste Frau in Österreich zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert. Die erste elektrische Straßenbahn rattert die heutige Linie 5 entlang. Karl Lueger tritt sein Amt als Wiener Bürgermeister an. Gustav Mahler wird Operndirektor. Und das Riesenrad dreht seine erste Runde.

Wien 1997. Secession und Secessionisten sind Museumsstücke. Ein Volksbegehren fordert, die Gleichstellung von Mann und Frau als Staatsziel in die Verfassung aufzunehmen. Das Liniennetz der Straßenbahn umfasst gut 400 Kilometer. Michael Häupl ist Bürgermeister, Ioan Holender Operndirektor. Und das Riesenrad dreht sich noch immer – fast so wie ehedem.


„Wir investieren sehr viel in die Instandhaltung“, erzählt Peter Petritsch, Herr über die „Dr. Lamac & Co. KG“, in deren Eigentum das Riesenrad steht. „Voriges Jahr im Winter haben wir den kompletten Radkranz sandgestrahlt und dann gestrichen; heuer im Winter werden wir die Pylonen streichen. Das kostet je acht Millionen Schilling. Der Antrieb wurde vor fünf, sechs Jahren erneuert. Die Seile müssen ständig gewechselt werden, jedes Jahr sechs bis zehn Stück. Da ist jetzt keines mehr älter als aus den Achtzigerjahren.“ Und was wird dann eigentlich demnächst 100 Jahre alt, Herr Petritsch? „Das Stahlgerüst, die Pylonen, der Radkranz, die Achse.“ Immerhin.

Begonnen hat die ganze Riesenräderei in Chicago. Ausgerechnet. Die „Windy City“ am Lake Michigan, hierorts vor allem als Mischung aus Mafia, langen Schatten, vollen Flaschen, Pulverdampf, Eliot Ness und anderen gern gesehenen Helden aus Film und Fernsehen bekannt, gilt nebstbei als veritables Zentrum US-amerikanischer Architekturavantgarde des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Chicago, und nicht New York, ist die Geburtsstadt des Wolkenkratzers. Und so liegt es auf der Hand, dass man sich auch anlässlich der Weltausstellung 1893 nicht lumpen lassen will.

Paris hat vier Jahre davor mit dem Eiffelturm die Latte für künftige Weltausstellungsattraktionen gut 300 Meter – genauer gesagt: 1000 Fuß – hoch gelegt. Was tun? George Washington Gale Ferris hat eine Idee: Sein Aussichtsturm würde zwar nur 264 Fuß hoch sein – aber er würde sich drehen. Das „Ferris Wheel“ wird zur Sensation der Weltausstellung von Chicago: Getrieben von einer 1000-PS-Dampfmaschine, trägt es 36 Waggons mit jeweils 40 Sitz- und 20 Stehplätzen, summa summarum Raum für 2160 Passagiere.

Diesseits des Atlantiks macht sich wenig später der Navy-Frühpensionist Walter B. Basset, nach Quittierung des Flottendienstes innerhalb weniger Jahre zum kundigen Ingenieur avanciert, gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern an die Konstruktion seines ersten „Gigantic Wheel“. Standort: der „Earl’s Court“ zu London. Durchmesser des Rades: gut 80 Meter.

Gabor Steiner, ständig auf der Suche nach neuen Attraktionen für sein „Venedig in Wien“, eine Kunststadt, die das Gelände des Kaisergartens an der Westspitze des Praters in ein skurriles Konglomerat aus falschen Palazzi und echten Gondolieri verwandelt, sieht Bassets Earl’s-Court-Wheel – und ist „platt vor Bewunderung“. Und als die Engländer einige Zeit später bei Steiner anfragen, ob denn an die Errichtung eines Riesenrades in Wien zu denken sei, greift Steiner zu, ohne zu zögern.


„Gefahren bin ich auch schon früher, es hat sich halt gedreht, und damit war die Sache erledigt“, berichtet Josef Beseda, einer von neun Männern, die das Wiener Wahrzeichen betreuen: „Wir machen alles, Rasen schneiden, Waggons putzen und natürlich die Wartungsarbeiten. Im Zweischichtbetrieb. Es muss halt rennen, aus, Ende. Wenn das Radl steht, verdient der Chef nichts, wenn der nichts verdient, verdienen wir auch nichts.“

Beseda, der gelernte Schmied, weiß Walter Bassets Werk zu schätzen: „Der, der das erfunden hat, alle Achtung. Das Ding ist 65 Meter hoch, man glaubt, weiß Gott was sich da abspielt, und eigentlich ist das Rundherum erstaunlich klein.“ Das Rundherum: zwei 15-Kilowatt-Schleifringmotore, zwei Zugseile antreibend, die an den Außenseiten des Radkranzes über Reibungsbacken die 245 Rad-Tonnen in Bewegung setzen. „Jetzt haben wir bald die nächste Nachtarbeit. Das eine Antriebsseil müssen wir kürzen. Da kommt eine Fachfirma, dafür übernimmt sonst keiner die Verantwortung. Wenn so ein Seil herunterschnalzt, möcht‘ ich nicht dabeistehen.“


Eigentlich sei das Riesenrad „eine Brücke, die der Form nach aus zwei gleichen, übereinandergestellten Halbkreisen besteht“, notiert Friedrich Beck 1937. Zu dieser Zeit kann Beck schon auf knapp vier Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte mit dem Eisenriesen des Herrn Basset zurückblicken: als Vertreter Bassets in Wien und technischer Betreuer der Anlage.

Man schreibt den 21. Juni 1897, als Lady Horace Rumbold, Gemahlin des britischen Botschafters in Wien, zur „Einnietung der letzten Schraube“ schreitet, im Zuge der hiesigen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Thronbesteigung Königin Victorias. Wenig später, am 3. Juli, ist es soweit: Das Riesenrad wird offiziell eingeweiht. Die „Neue Freie Presse“ berichtet: „Wien ist um eine große Attraktion reicher, um das Riesenrad in ,Venedig in Wien‘, das heute abends zum ersten Male in Bewegung gesetzt wurde. Seit Monaten hat man das riesige Eisengerippe in die Höhe wachsen gesehen, und die allgemeine Neugier befasste sich mit dem Ungetüm, dessen gigantische Formen im Prater von weither zu erblicken sind. Vor dem Einsteigen richtete Ingenieur Feilbogen“ – ein Wiener Mitarbeiter Bassets – „eine Ansprache an die Gäste, worauf er nach seemännischer Art eine an der Eisenkonstruktion befestigte Champagnerflasche mit einem Segensspruche für das Rad zerschmetterte.“


Wer hat Angst vor Frank Stronach? Seit der austrokanadische Milliardär mit der wunderbar antiquierten Guter-Onkel-aus-Amerika-Attitüde sein Ebreichsdorfer Riesenkugelprojekt „Magna Globe“, gut doppelt so hoch wie das Riesenrad, durch die Medienlandschaft rollt, herrscht im Vergnügungsgewerbe Aufregung. Peter Petritsch bleibt gelassen: „Durch den Stronach werden sicher Kunden nach Ebreichsdorf abgezogen, andererseits werden die Touristen sicher nicht nur nach Ebreichsdorf fahren. Also: Meine Angst hält sich in Grenzen. Wenn mein Produkt stimmt, dann brauch‘ ich mich nicht zu fürchten.“

Damit es auch wirklich stimmt, das Produkt Riesenrad, wird es zum heurigen Jahreswechsel als Riesen-Swatch verkleidet, vor der sich die Snowboard-Prominenz auf einer 27 Meter hohen und 81 Meter langen Kunstpiste in Richtung Neujahr schwingen darf. Peter Petritsch, sichtlich enthusiasmiert: „Die Rampe geht bis zur Mitte, gewaltig, drei Wochen Aufbau, das Ganze kostet zehn Millionen Schilling. Außerdem stehen wir in Verhandlungen, um in den Silvesterstadl zu kommen; das schaut gut aus. Das ist der eigentliche 100-Jahre-Event.“ Stadl, Snowboard, Swatch: Da bleiben keine Wünsche offen.


„Wenn man so über Wien blickt, das ist sehr schön“, weiß Cécile Cordon, Autorin der jüngst erschienenen ersten umfassenden Riesenrad-Monografie, „Das Riesenrad hat alle entzückt“ (Mandelbaum Verlag, Wien). „Aber wenn man direkt runter schaut, na ja.“ Direkt drunter unter dem Rad, da liegt der Wurstelprater, der „älteste Vergnügungspark der Welt“, wie gern behauptet wird, „eine traurige Gstätten“, wie Cécile Cordon meint. Ein Befund, dem wenig entgegenzusetzen ist: Tristezza, wohin man schaut, mehr Zentralfriedhof des Schaustellergewerbes denn Amüsierbetrieb. Wer sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln dem Wurstelprater nähert, hat zum einen also einen unvergnüglichen Vergnügungspark vor sich, zum anderen den Praterstern hinter sich, einen Ort, den man so gern wie wenige andere hinter sich lässt. Irgendwann soll es hier recht bukolisch zugegangen sein, damals, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Joseph II. erst den Prater, dann den Augarten der Allgemeinheit öffnete: Am Praterstern traf die Achse, die Augarten und Prater verband, auf jene Achsen, die das Publikum aus der Stadt ins Grüne führen sollten, eine Schnittstelle des Urbanen mit der Natur.

Mittlerweile ist der Praterstern längst kein Stern mehr – und Urbanität und Natur liegen begraben unter einer blubbernden Verkehrsmasse, die nichts außer sich selbst zulässt. 1955 verwandelte man den Stern in einen Riesenkreisverkehr, 300 Meter im Durchmesser, der samt Schnellbahntrasse, die ihn quert, nicht Herz der Leopoldstadt, sondern unüberwindbare Bezirkshürde wurde. Das „große Ringelspiel“, wie man es damals nannte, geriet nur allzu rasch außer Kontrolle, zwischen Raserei und konfusem Stillstand.

Der Bahnhof Wien Nord, inmitten des Tobens, stirbt heute einen langsamen Tod. Die Geschäftspassage unter den Gleisen, einst wirtschaftlicher Hoffnungsträger, schwitzt Burenwurst, Bier und Taubendreck. Der Pissoir-Atem der Fußgängerunterführungen lässt die Passanten in die Abgaswogen der oberirdischen Straßenquerungen flüchten. Keiner kommt hierher, wenn er nicht muss; und jeder geht, so rasch er kann.


„Das Riesenradl, das gibt’s schon lang nicht mehr.“ Die Anker-Verkäuferin ist verblüfft, dass sich noch jemand jener Brotspezialität vergangener Tage entsinnt. Immerhin ist ja schon ein gutes Dreivierteljahr vergangen, seit man das „Riesenradl“, ein würziges Landbrot, nach sechs Jahren Produktion zum letzten Mal in die Regale geschlichtet hat. Eine halbe Großbäcker-Ewigkeit. Das Ende des Riesenradls vollzog sich im September 1996, im selben Monat, in dem der damalige Anker-Chef, Helmut Schuster, in einer Wiener Tageszeitung „Österreich über alles“ erhob – und ein halbes Jahr bevor er seine Aktienmehrheit an die bayrische Müller-Brot GmbH veräußerte.

Das Riesenrad, das eiserne, ist freilich kein geeigneter Anlassfall, das rotweißrote Ausverkaufslamento anzustimmen, war es doch selbst Stück für Stück ein „Zuagraster“: von englischen Ingenieuren aus englischem Eisen auf englischem Boden errichtet – denn der Kaisergarten stand ab 1891 in englischem Eigentum, die Habsburger hatten ihn ohne große Sentimentalität ins Ausland verkauft.

Mit einigem Recht kann man im Übrigen unterstellen, ein original österreichisches Riesenrad – so es jemals in Betrieb gegangen wäre – stünde heute längst nicht mehr. „Das Riesenrad“, meinen Jan Tabor und Regina Haslinger in ihrem Band „Architektur und Industrie“ (Brandstätter Verlag, Wien), „ist ein Sinnbild der Situation, in der sich die österreichische Industrie am Ende der Gründerzeit befand.“ Österreich habe die industrielle Revolution verschlafen. „Die Industrialisierung wurde allmählich, meist mit erheblicher Verzögerung und gegen starke Widerstände, aus dem Ausland importiert.“ Kein Wunder also, was der ersten von österreichischen Ingenieuren errichteten Eisenbrücke widerfuhr: Sie stürzte – so Tabor und Haslinger – „gleich am Tag der Eröffnung ein“.

Das Abenteuer Riesenrad hat, wo immer sich wer immer dran versuchte, kaum jemals Glück gebracht. George Ferris scheidet im November 1896, völlig verarmt, im Alter von 37 Jahren aus dem Leben. Seine Schöpfung überlebt ihn knapp zehn Jahre. Auch Walter Basset ereilt ein früher Tod, 1907, im Alter von 44 Jahren, und wie Ferris ist auch Basset am Ende eigentlich bankrott. Seine „Gigantic Wheels“ in London und Blackpool bleiben kaum länger als ein Jahrzehnt in Betrieb, seine „Grande Roue“ in Paris wird 1926 demontiert.

Nur Bassets Wiener Riesenrad dreht sich – gegen alle Gesetze der Kurzlebigkeit des Sensationellen – immer weiter. Es dreht sich weiter, nachdem es zweimal, 1916 und 1920, der Demolierung entgangen ist, weil der Abbruch nicht finanziert werden konnte. Es dreht sich weiter, als es von vier verdienten NS-Parteigenossen arisiert wird, als Eduard Steiner, Riesenrad-Besitzer zwischen 1919 und 1938, in Auschwitz umkommt. Und es hält auch nur kurz an, wie um zu verschnaufen, als es in den letzten Kriegstagen ausbrennt; schon 1947 dreht es sich wieder, wenngleich nur mehr mit 15 statt mit 30 Waggons.

1953 wird das Riesenrad an die drei Erbinnen Steiners zurückgestellt; 1961 übernimmt Karl Lamac, Rechtsvertreter der Steiner-Erbinnen im Rückstellungsprozess und zu dieser Zeit schon Miteigentümer des Rades, die verbleibenden Anteile, nachdem sie – erfolglos – der Stadt Wien zum Kauf angeboten worden sind. Bis heute ist das Wiener Riesenrad Familienbesitz – und prosperiert wie kaum jemals zuvor. Aus dem Best- ist ein Longseller geworden, aus der Jahrmarktsattraktion das Denkmal eines Jahrhunderts.


Samstagabend im Prater, eine Viertelstunde vor Mitternacht. Gerade noch Zeit für eine Riesenrad-Runde, eh‘ sich die Pforte schließt. Doch die Kassa liegt schon im Halbdunkel, und aus der Düsternis ragt dem späten Gast der hocherhobene Zeigefinger der Kassierin entgegen, der bedächtig, aber unmissverständlich von rechts nach links, von links nach rechts zu schwingen beginnt. Das ist der Wiener Zeigefinger, der Zeigefinger, der stets verneint, der Zeigefinger, der keinen Widerspruch duldet, der „Nix is“, „Schluß is“, „Aus is“ sagt, mit einem „Ätsch“ in seiner strengen Zeigefingerstimme. So viel Heimat unter so viel englischem Know-how: Was auch immer die Welt uns bringt – Wien bleibt Wien.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 14. Juni 1997

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