Wo liegt der Kontinent Kafka? Am Altstädter Ring? Hoch droben auf dem Hradschin? Oder doch ganz woanders? Von Kafka-Häferln, Kafka-Buttons und der seltsamen Sehnsucht nach Kafka-Konfekt: eine Kafka-Visite an der Moldau.
Was weiß eine Stadt über ihre Bewohner? Und was kann sie uns, wenn sie es denn will, über ihre Bewohner berichten, Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte nach deren Tod? Der Genius Loci, bereitwillig beschworen und noch bereitwilliger touristischer Verwertung zugeführt, lässt uns andächtig vor Fassaden stehen, hinter denen sich irgendwann Bedeutsames begeben hat, führt uns in Zimmer, vor Schreibtische, an Regale, die uns als Zeugen erhabener Schöpferkraft gelten. Doch was ist ihr Zeugnis nütze, da sie doch, jener Schöpferkraft längst verlustig, nichts weiter als Fassaden, Zimmer, Schreibtische, Regale sind?
Es ist ein kühl-frischer Frühlingstag, der mich mitten in Prag findet, dort, wo die Altstadt ins historische jüdische Viertel übergeht, Josefov genannt, nach jenem Habsburgerkaiser, der den Juden in einer als Toleranzpatent bekannten Schrift größere Freiheiten in der Religionsausübung zugestand, nach Joseph II. also, dessen Mutter, Maria Theresia, die Väter und Mütter jener nunmehr Toleranzpatentierten noch bei bitterster Winterkälte der Stadt verwiesen hatte.
Hierher, in diese urban-konfessionelle Zwischenzone, hat mich Alena Navrátilová an jenem Vormittag bestellt, und das aus gutem Grund: Welcher Ort wäre besser geeignet, eine Runde auf Franz Kafkas Prager Spuren zu beginnen? Denn Zufall oder nicht, genau an dieser Stelle, hie angrenzend an die barock-monumentale Sankt-Nikolaus-Kirche, da nur eine Handvoll Schritte von der ehrwürdigen Maisel-Synagoge entfernt, befindet sich das Haus, in dem Franz Kafka am 3. Juli 1883 geboren wurde.
Genauer gesagt: Es befand sich da. Vom Original nämlich hat sich nur das Portal erhalten, der Rest wurde, man sagt, nach einem Brand Ende des 19. Jahrhunderts, wenig später, ein Stück zurückversetzt, in ähnlichem Stil neu errichtet. Freilich, wie konkret kafkahaltig das Gemäuer auch sei, heute jedenfalls wird der Bau samt und sonders als Kafka-Geburtshaus wahrgenommen.
Frau Navrátilová begrüßt mich in gediegenem Deutsch, und dass es nicht jenes sagenumwobene Prager Deutsch ist, dem usuell deutschsprachige Prag-Intimi, selbst solche, die es nie gehört haben können, Tränen ergriffenen Bedauerns nachweinen, versteht sich angesichts ihrer Biografie von selbst: Ihr Deutsch verdankt Frau Navrátilová Jahren im Exil, Jahren, die sie nach ihrer Flucht, 1987, im fränkischen Würzburg zubrachte. Sie habe sich, damals Anfang 20, in ihrer Heimat „lebendig begraben“ gefühlt, gibt sie zu Protokoll. Wozu in ihrem Fall erschwerend Sippenhaftung kam, hatten sich doch ihre Eltern während der Reformtage des Prager Frühlings politisch engagiert: Das sei in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ein Karma gewesen, „das man nicht mehr loswurde“.
Seltsam genug, dass genau dieses Karma wiederum ein Stück weit mit jenem mysteriösen Herrn Kafka verbunden ist, auf den sie, kaum in Würzburg angekommen, ständig angesprochen wird – und von dem sie bis dahin doch noch nie gehört hat. „In Deutschland haben mich plötzlich alle nach Kafka gefragt“, erzählt Navrátilová. „Und ich wusste nicht, was sie von mir wollten.“
Ergebnis eines Schweigens und Verschweigens, eng verbunden mit obgenanntem Karma – und nichts weniger als Zufall: Eine Kafka-Konferenz des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands, 1963 aus Anlass von Kafkas 80. Geburtstag in Liblice ausgerichtet, gilt für viele als Ausgangspunkt jener Demokratisierungsbewegung, die im Frühling 1968 ihren hoffnungsvollen Höhepunkt, im August desselben Jahres unter den Panzern von Warschauer-Pakt-Staaten ihr – vorläufiges – Ende fand. Davor und danach blieb das Werk Kafkas in seiner sogenannt realsozialistischen Heimat weitgehend weggesperrt, zum revisionistischen Teufelszeug dämonisiert.
Allerdings, eine tschechische Kafka-Rezeption war auch vor dem Zweiten Weltkrieg nie in Gang gekommen: Vom Prager Dichter, der „in Prag weniger gelesen“ sei „als in Deutschland“, weiß das „Prager Tagblatt“ schon im April 1924, wenige Monate vor Kafkas Tod, zu berichten. Und was Wunder in einer Republik, die sich eben erst ganz anders national erfunden hatte. In der jungen Tschechoslowakei lag der Fokus nicht gerade auf jener deutschsprachigen Elite, deren Macht gerade samt der Monarchie, die sie über Jahrhunderte maßgeblich befördert hatte, kollabiert war.
Und dass Franz Kafka, Sohn eines Aufsteigers aus der böhmischen Provinz, von seiner Herkunft her mit jener Elite nicht allzu viel gemein hatte, spielte keine Rolle. Da mochte dieser Herr Kafka hochoffiziell – etwa in seinem Bewerbungsschreiben bei der Arbeiterunfallversicherungsanstalt – noch so beharrlich für sich in Anspruch nehmen, nicht nur der deutschen, sondern auch der „böhmischen Sprache in Wort und Schrift mächtig“ zu sein, ja sogar Übersetzungen ausgewählter Werke ins Tschechische befördern: Seine Literatur war und blieb deutschsprachig – und das war nach der Proklamation der Republik Tschechoslowakei Ende Oktober 1918 die Literatur der Verlierer.
Dass zwei Dezennien danach sechs Jahre Nazi-Diktatur nichts zur Entspannung des deutsch-tschechischen Verhältnisses beigetragen haben, wird niemanden überraschen können. Ganz abgesehen davon, dass das Werk des Juden Kafka den NS-Parteigängern ohnehin genauso vernichtenswert schien, wie es nach Weltkriegsende den Kommunisten verdächtig und also Verschlusssache war. Kafkas Werk war keinem recht – und immer richtig: weil es hinter dem Lärm der Ideologien innere Wahrheit hörbar werden ließ.
Erst die Wende des Jahres 1989 samt Zusammenbruch kommunistischer Regime machte möglich, was bis dahin fast unmöglich schien: dass der aus Prag gebürtige Franz Kafka irgendwann doch an der Moldau ankommen würde. Freilich sollte es, nur so beispielsweise, bis 2007 dauern, dass eine erste tschechische Kafka-Gesamtausgabe abgeschlossen war. Bezeichnend, was deren Herausgeberin, Marketa Malisova, aus diesem Anlass zu berichten wusste: „Anfang der 1990er-Jahre bin ich in eine Galerie gekommen, und dort arbeitete eine Studentin. Als sie erfuhr, dass ich von der Franz-Kafka-Gesellschaft sei, sagte sie: ,Kafka? Wer war das, dieser Kafka? Irgendein Amerikaner? Alle Amerikaner fragen hier nach ihm.‘“
Mit so viel Kafka-Unbedarftheit ist’s mittlerweile vorbei. Seit dem Jahr 2000 trägt der Platz vor dem – nun ja – Kafka-Geburtshaus den Namen Náměstí Franze Kafky, seit 2005 lässt sich ein Kafka-Museum, untergebracht am Moldau-Ufer in einer ausgedienten Ziegelbrennerei, Biografie und Schaffen des weltweit berühmtesten Pragers angelegen sein, und dass das dabei entwickelte Kafka-Bild – eher halb tot als ganz lebendig – vor allem geeignet ist, noch die schlichtesten Kafka-Vorurteile zu bedienen, wird dem Erfolg des Museums nicht schaden.
Dann wäre da noch David Černýs Riesen-Kafka-Kopf, vor die Tore des Rieseneinkaufszentrums Quadrio platziert und gefügt aus rotierend gedachten Scheiben (Achtung, Symbol: Im Kafka-Kopf dreht und bewegt sich’s!); nur dass die Scheiben halt technischer Probleme halber seltener rotieren, als sie sollten. Nicht zu vergessen, seit 2003, Jaroslav Rónas Kafka-Denkmal mitten in Josefov, inspiriert von der „Beschreibung eines Kampfes“, das seine Anziehungskraft freilich vor allem der anliegenden Spanischen Synagoge mit ihrem Jüdischen Museum zu danken hat.
All das zusammengenommen, ergibt noch lang nicht den Eindruck, den man auf gut Tschechisch překafkováno nennt – überkafkafiziert. Und so wird auch unser 2024 zwischen Böhmerwald und den Beskiden vielleicht als Smetana-Jahr (200. Geburtstag) oder Jahr des Triumphs bei einer Eishockey-WM in Erinnerung bleiben, jedoch bei den wenigsten als Kafka-Jahr. Die paar Kafka-Häferln und eine Handvoll Kafka-Buttons machen ja auch noch keine Gedenkindustrie, wie man sie in vergleichbaren Fällen andernorts kennt. Eigentlich schade: Wäre es nicht aufregend zu erfahren, wie original Prager Kafka-Konfekt schmecken würde? Nicht einmal im „Restaurant Kafka“ ist derlei zu haben, untergebracht in jenem Haus, in dem Kafka jahrelang über Arbeitsunfallakten grübelte, bis ihn die Lungentuberkulose aus dem Erwerbsleben riss. Da serviert man gastronomisch-weltläufig Ochsenschleppsuppe und Forellenfilet in Mandel-Honig-Kruste – kein Sorbet à la „Strafkolonie“ und nicht das kleinste „Hungerkünstler“-Tortelett.
Apropos Arbeitsunfallversicherungsanstalt: Wie steht’s nun um die historisch-kritische Kafkahaltigkeit im Stadtbild Prags, jene Stätten, über denen einst der literarische Kafka-Weltgeist waltete? 1996 streift der Kölner Buchblogger Uwe Kalkowski (heute Produktmanager des Eichborn Verlags), Kafka im Kopf, durch ein Nach-Wende-Prag: „Viele Fassaden waren grau und bröckelig, aber das Stadtzentrum hatte ein wundervolles Flair, gerade weil noch nicht alles glatt und durchrenoviert war“, erinnert er sich später. „In dieser Atmosphäre Kafka lesen war, wie soll ich sagen, authentisch. Ich lief dort entlang, wo er auch ging. Sah die Häuser, in denen er wohnte. Fing an, seine Ängste und Einsamkeit zu verstehen. Denn in der ganzen Zeit traf ich niemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte.“
Heute, knapp 30 Jahre später, ist Kafka-Authentizität dieser Art Geschichte: Wer den (durchaus zweifelhaften) Charme des Ruinösen sucht, wird ihn nicht so leicht in der Prager Mitte finden, durch die mich Alena Navrátilová, längst zum verlässlichen Kafka-Guide avanciert, in den zwei Stunden unserer Kafka-Runde kundig geleitet: nicht im Haus zur Minute, Altstädter Ring 2, in dessen Pawlatschen-Innenhof Klein-Kafka, von seinem Vater vor die Tür gesetzt, jene traumatischen Nachtstunden verbracht haben soll, an die sich der Erwachsene noch mehr als 20 Jahre später, in seinem „Brief an den Vater“, erinnerte; nicht im „Haus bei den Drei Königen“, Zeltnergasse 3, in dem er erstmals ein eigenes Zimmer bezog; schon gar nicht im „Haus zum roten Pfau“, Kamzíkova 6, einst Heimstatt des bestbesuchten Bordells der Stadt, in dem das halbe literarische Prag der Jahrhundertwende und folglich auch Franz Kafka auf „Gämsenjagd“ (Kamzík = Gämse) zu gehen präferierte.
All das präsentiert sich herausgeputzt, freundlich, entstaubt. Und mit Gefühlen von Einsamkeit ist es im Zentrum einer der beliebtesten Reisedestinationen Europas ohnehin nicht mehr weit her. Doch wie authentisch wäre denn jenes Kafka-Prag, das, morbid bis in die Grundmauern, durch die Vorstellungswelt Kalkowskis – und die der meisten von uns – spukt?
Genau in die Lebensspanne Kafkas – und auch davon weiß Frau Navrátilová zu berichten – fällt der Zeitraum, in dem der in die Jahre gekommene Baubestand von Josefov abgerissen und durch Jugendstil-Pracht ersetzt wird. Kafkas erster Arbeitsplatz: die Assicurazioni Generali am Wenzelsplatz, ein neobarocker Neubau, mit seinem figuralen Fassadenüberschwang, kürzlich frisch renoviert, ehedem wie heute wenig geeignet, notorisch beschworene Kafka-Hinfälligkeit ins Bild zu setzen.
Kafkas letzter Prager Wohnort schließlich: das Oppelthaus an der prestigeträchtigen Ecke Pariser Straße/Altstädter Ring, ein modernes Miethaus der Jahrhundertwende mit Lift und polyglott-mondänem Habitus. Kafkas Prag: zu seinen Zeiten wie gegenwärtig ein Sammelsurium an schmucker Frisch-aus-dem-Ei-Gepelltheit – das soll die Heimstatt des Dichters gewesen sein, dem wir „Das Schloss“, den „Process“, „Die Verwandlung“ zu danken haben?
Wer seine Sehnsucht an angemessen kafkaesken Kafka-Lokalitäten hätte stillen wollen, der wäre in seinen Tagen allenfalls hoch droben auf dem Hradschin fündig geworden: Dort hat sich der 33-Jährige – auf der Suche nach Distanz vom Großstadttrubel – eine Handvoll Monate in einer der heruntergekommenen Keuschen einquartiert, die, an die Nordmauer der Prager Burg gelehnt, in den Renaissance-Tagen Kaiser Rudolfs II. Wachleuten als Quartier zu dienen hatten. Eine Fotografie, aufgenommen um 1900, zeigt eine düster fassadierte Hütte, rundherum Arme-Leute-Elend.
Freilich, die Kunst des Illustrators und Kulissenmalers Jiří Trnka hat in den 1950ern aus Kafkas Weltflucht-Quartier ein pittoresk-farbenfrohes Ensemble aus Puppenstuben für Erwachsene gezaubert, das seine heutige Bezeichnung, „Goldenes Gässchen“, schon allein deshalb verdient, weil es beträchtliche Mengen an Eintrittsgeldern in die Kassen der Burgverwalter spült. Und noch das Kafkaeskeste daran ist, dass derselbe Ort, durch den sich Touristenmassen Tag für Tag gegen Bares quetschen, vereinsamt daliegt, hat erst der späte Nachmittag und damit jene Stunde begonnen, ab der das Revier gratis zu bewundern ist.
Was soll’s? Der Kontinent Kafka ist ohnehin auf keiner Landkarte und in keinem Stadtplan zu entdecken. Er liegt auf keinem Globus, kein Straßenverzeichnis kennt die Orte, die er trägt. Er ist nicht hier und ist nicht da, doch stets und immerdar von dieser Welt. Wer ihn erkunden will, wird ihn zwischen Buchdeckeln finden.
Und dann und wann, da offenbart er sich ganz unvermittelt mitten unter uns. So wie damals, im August 1968, als Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten den Prager Frühling niederschlugen: Da fuhr ein Panzer vor dem Kafka-Geburtshaus auf und richtete sein Geschützrohr, als gelte es, bedrohlichen Widerstand niederzuzwingen, gegen die Kafka-Büste, die seit 1966 am Geburtshaus angebracht ist, Dokument des kurzen Kafka-Tauwetters nach der folgenreichen Konferenz von Liblice. Augenzeuge Heinrich Böll hat die Szene überliefert. „Hier wurden Symbol und Wirklichkeit kongruent“, so sein Kommentar. Böll hat, was sich da ankündigte, den Bankrott eines politischen Systems, nicht mehr erlebt: Er starb 1985, vier Jahre vor der Wende.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 1. Juni 2024