Ein Plakat an einer Volksschulwand, drei Jahreszahlen und die hiesige Demokratie: über Bildungsmanagement als Kunst des Abputzens – und Geschichtsdebatten, die kein Ende nehmen wollen.
Vom Lernen aus der Geschichte geht alle Gedenkjahre lang viel die Rede und davon, was alles niemals nie nicht darf vergessen werden. Und weil mittlerweile schon kein Jahr mehr kein Gedenkjahr ist, müsste menschlichem Ermessen nach der Vorrat an Geschichtelehren sich mählich der Erschöpfung nähern. Allein, Geschichte, behaupten Skeptiker, sei ja nicht einfach das, was war; als das, was wir daraus machen, vervielfältige sie sich je nach Zeit, Bedarf und Interessenlage zu Geschichten. Und sei’s aus keinem anderen Grund, als sie, entsprechend präpariert, für Zwecke der Gegenwart in Dienst zu nehmen.
Erinnern wir uns kurz an jene Geschichtslektion, die unstreitig die öffentlichste aller heimischer Geschichtslektionen genannt werden kann. Ein hiesiger Bundeskanzler, Bruno Kreisky, erteilte sie bekanntermaßen einem Fernsehredakteur und somit einem Millionenpublikum vor den „Zeit im Bild“-Bildschirmen Anfang der 1980er. Ihr heute weniger bekannter Hintergrund: der AKH-Skandal und Querelen rund um einen dazugehörigen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Und ihr mittlerweile so gut wie unbekannter Inhalt: ein historisches Amalgam, das in kühnem Schwung Zusammenhänge zwischen dem Österreich der 1930er, gegenwärtiger Oppositionspolitik und einem soeben stattgehabten Putschversuch in Spanien herstellte – und dem Fernsehredakteur, der, ohnehin in aller Bescheidenheit, Zweifel an der Plausibilität jenes verwegenen Konstrukts anmeldete, ob solcher Insubordination die schmachvollste aller Kreisky’schen Zurechtweisungen eintrug: „Lernen S’ a bisserl Geschichte, Herr Reporter!“
Nun, es muss nicht Kreiskys Pressefoyer nach dem Ministerrat sein, aus dem Überraschendes zur Geschichte zu gewinnen wäre. Mir beispielsweise widerfuhr Nämliches vor Kurzem in einem hiesigen Volksschulflur. Die Wiener Gemeinderatswahlen hatten das Schulgebäude als Ort meiner Stimmabgabe auserwählt. Und an einer der Gangwände fand ich mich unvermittelt einem handbeschrifteten Plakat gegenüber, dessen Inhalt nachgerade ideal zu dem Anlass zu passen schien, der mich hierhergebracht hatte. „Wir leben in einer Demokratie“, stand zu lesen, rot auf hellem Packpapier geschrieben; und so ganz nebenbei war auch notiert, für welchen Zeitraum der Geschichte derlei gegolten habe: nämlich „seit 1918 bis 1938“ sowie „ab Mai 1955 bis heute“.
1918, 1938, 1955: An der historischen Ehrwürdigkeit dieser Jahreszahlen kann kein Zweifel bestehen. Monarchie-Ende und Republik-Anfang, Verlust staatlicher Selbstständigkeit durch den „Anschluss“ sowie deren Wiedergewinnung kraft Staatsvertrag dürfen für sich in Anspruch nehmen, die meistbemühten Identitätsstifter in Selbstbeschreibungen eines Österreichs heutigen Verständnisses zu sein. Doch was genau erzählen sie über Wohl und Wehe heimischer Demokratie und heimischer Demokraten?
Die Frage, so gestellt, setzt ihre Antwort ein gutes Stück weit schon voraus: weniger, als man meinen möchte. Gewiss, wer wollte bestreiten, von 1955 bis heute sei es hierorts – jedenfalls den Worten der geltenden Verfassung nach – demokratisch hergegangen und andererseits ab 1938 nicht mehr so ganz? Freilich war die bewusste demokratische Verfassung schon 1945, nicht erst 1955 wieder in Kraft gesetzt. Und sie hatte schon vier Jahre vor dem März 1938, nämlich unter dem Diktat des sogenannten Ständestaats, jede Wirkungsmacht verloren. Was jene Hundertschaften, die wie ich am bewussten Wahltag an besagtem Plakat vorbeimarschiert sein müssen, dazu gedacht haben mögen, entzieht sich zwangsläufig allgemeiner Kenntnis. Mein späterer Versuch, via Schulleitung eine angemessene Korrektur anzuregen, stieß jedenfalls auf eine Reaktion, die dem Bewusstseinsstand für die Bedeutung angemessener Zeitgeschichtsvermittlung ein eher erstaunliches Zeugnis ausstellte. Doch davon später.
Nun wäre es ein Leichtes, ein indigniertes „Lernen S’ a bisserl Geschichte!“ anzustimmen und zur Alltagsordnung eines Gedenkjahres überzugehen. Andererseits, wie unmissverständlich pflegt denn die Republik selbst die Eckdaten ihrer demokratischen Entwicklung? Anders gesagt: Wie wichtig sind sie ihr? Und um es gleich vorwegzunehmen: warum denn, was ihre Selbstdarstellung betrifft, offenbar nicht gar so sehr?
Gewiss, der Anfang alles hierorts Demokratischen ist mit besagtem 1918, genauer: dessen 12. November samt Ausrufung einer demokratischen Republik, klar definiert und über Parteigrenzen hinweg wohlgelitten. Sieht man von dem Umstand ab, dass auf dem dazu passenden Denkmal, zwischen Parlament und Palais Epstein platziert, seltsamerweise nur Vertreter der Sozialdemokratie Platz gefunden haben. Sei’s drum, jedenfalls lässt sich auch das Ende dieses Erstversuchs in hiesiger Demokratieausübung unstreitig bestimmen: 1933/34, erst mit der Ausschaltung des Parlaments, dann mit der Kundmachung der Maiverfassung, die den anschließenden autoritären Jahren den rechtlichen Rahmen gab.
Doch wie genau heißt denn das, was nach dem ominösen 1933/34 folgte? Ständestaat? Austrofaschismus? Oder, in der kompromisstrunkenen Benennung des Hauses der Geschichte Österreich, die „Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“ – als sei das Ganze eine Art Privatvergnügen der beiden Herren gewesen? Dass es für das hiesige Vorspiel zur Machtergreifung der Nationalsozialisten die längste Zeit keine über ideologische Grenzen hinweg verbindliche Erzählung gab, ist kein Geheimnis. Und ob von einer solchen verbindlichen Erzählung mittlerweile die Rede sein kann, muss füglich bezweifelt werden. Wie ist das nun, nur so beispielsweise, mit Herrn Dollfuß? Haben wir’s da mit einem bedauerlicherweise krachend gescheiterten Streiter für ein nazifreies Abendland zu tun oder doch eher und vor allem mit einem Sozialistenfresser und Arbeitermörder?
Dass es in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die beiden (damals) größten politischen Lager sinnvoll gewesen sein mag, die Gräben der Vergangenheit fürs Erste einmal Gräben sein zu lassen und sich statt mit dem Gestern mit den nur allzu drängenden Problemen des Heute zu beschäftigen, ist das eine; etwas ganz anderes ist es, wenn das Österreich der 2020er noch immer nicht imstande ist, etwa ein konkordant gestaltetes Dollfuß-Museum in dessen Geburtshaus zu Texing, Niederösterreich, auf den Weg zu bringen. Was Wunder, dass sich in durchaus nennenswerten Teilen der Gesellschaft von mehr als vier Jahren austrofaschistisch-ständestaatlicher Unterdrückung primär ihr Ende und also des letzten Unterdrückers, Kurt Schuschnigg, tränenumflortes „Gott schütze Österreich!“ erhalten hat: als hätte man dieses Österreich nicht auch vor ihm schon schützen müssen.
Sehr viel weniger komplex scheinen die Gegebenheiten, was die Wiedergewinnung demokratischer Verhältnisse in der Nachkriegszeit betrifft. Am 27. April 1945, mehr als eineinhalb Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht, kann eine provisorische Regierung unter Staatskanzler Renner eine neue Unabhängigkeit verkünden: „Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.“
Dennoch, das bewusste Datum wird in künftigen Selbstbeschreibungen des Landes keine nennenswerte Rolle spielen. Zum einen wohl weil es stets im Schatten des Weltkriegsendes stehen wird, zum anderen weil jene nun Zweite Republik zwar unstreitig demokratisch verfasst ist, doch bis 1955 unter Besatzerkuratel ausharren muss, was der Nationalsymboltauglichkeit des Datums 27. April einiges an Attraktivität nimmt. Bezeichnend, dass rund um die Einrichtung eines Nationalfeiertags später vor allem Daten des Jahres 1955 zur Diskussion stehen: der 26. Oktober (Beschluss des Neutralitätsgesetzes) respektive der 15. Mai (Unterzeichnung des Staatsvertrags). Von 1945 und also vom 27. April ist in diesem Zusammenhang kaum je die Rede.
Bezeichnend auch die Geschichte, die sich um jenes Denkmal rankt, das vorgeblich genau dieses Datum in den Fokus rückt: das Staatsgründungsdenkmal im Wiener Schweizergarten. Sein Bestand: eine gut elf Meter hohe Metallsäule, dazu ein auf dem Boden liegendes, detto etliche Meter langes Steinband, in das der Text der bewussten Unabhängigkeitserklärung eingraviert ist. So weit, so gut – und so unbekannt, dass die Mitglieder jener Ehrentrosse, die sich alle Jubeljahre zwecks ritueller Gedenkausübung in den Schweizergarten zu begeben haben, mutmaßlich stets aufs Neue wundern, dass es derlei überhaupt gibt.
Allein, von absichtsvoller Denkmalsetzung kann in diesem Fall ohnehin keine Rede sein, die hat sich bloß so ergeben: Ursprünglich als Denkmal für Karl Renner entworfen, schien die oben beschriebene Kombination den Verantwortlichen für den vorgesehenen Aufstellungsort, im Südosteck des Rathausparks, neben dem Parlament, allzu abstrakt, weshalb man das ungeliebte Trumm, zum Staatsgründungsdenkmal befördert, ins Off jenseits des Gürtels verbannte. Gedenkpolitik dank Denkmalrecycling. Wer wollte da die Stadtgärtner schelten, die vor wenigen Jahren nichts dabei fanden, kurzerhand Säule und Steinspruchband durch einen Weg zu trennen?
Ein Plakat in einem Volksschulgang, darauf Jahreszahlen von Gewicht, die freilich anderes erzählen, als das Plakat erzählen will: Was alles ließe sich daraus lernen? Womöglich dass uns Daten nationaler Selbstbestimmtheit in Sachen öffentlicher Repräsentanz offenbar sehr viel wichtiger sind als die Antwort auf die Frage, wie demokratisch oder auch nicht die jeweilige Republik denn war?
Mein freundlicher Hinweis auf die Plakat gewordene Geschichtsverwirrung förderte seitens der Schulleitung anderes zutage: einzig die Erleichterung, nichts damit zu tun zu haben. Da der betroffene Schulbereich vom Hort genutzt werde, möge ich mich doch bitte an den Hort wenden. Bildungsmanagement als Kunst des Abputzens. Seitens der Hortleitung übrigens zeigte man sich einsichtig. Und sonst? Das nächste Gedenkjahr macht’s wieder gut.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 21. Juni 2025.



