Kooperation und nicht männliches Konkurrenzdenken stand an der Wiege der Zivilisation. „Die Frau als Mensch“: Ulli Lust über Steinzeitjäger, Buschfrauen der Kalahari und die Wirklichkeit hinter Geschlechterklischees. Mein Comic des Monats im März 2025.
Mit den Geschlechtern ist es halt so eine Sache. Nicht nur, aber auch wo’s bloß (?) um grammatikalische Geschlechter geht. Nehmen wir zum Beispiel uns selbst beim Wort: Mensch, sagt das Wörterbuch, sei unstreitig maskulin. Umso auffälliger, woran sich Ulli Lust aus Weinviertler Kindheitstagen erinnert. „Bist du a Bui oda a Mensch?“, lautete da die Frage, wenn’s ums bieder-binär Geschlechtliche ging. Und so wenig Mühe es selbst Nichtniederösterreichern machen wird, im dialektalen Bui den standardsprachlichen Buben zu erkennen: Weniger geläufig dürfte heute sein, dass besagtes „Mensch“ eben nicht als der, sondern als das zu sehen ist – das Mensch als umgangssprachliches Synonym für Mädchen.
Wobei es sich bei Mensch im Neutrum keineswegs um ein Lokalkuriosum blaugelber Einschichtbauern handelt: Ein Blick ins Sprachgeschichtliche lehrt von gar nicht so fernen Zeiten, in denen das Mensch sogar gleichermaßen Frau wie Mann bezeichnen konnte.
Mit derlei Wirrsal hat die Sprachentwicklung mittlerweile gründlich aufgeräumt. Der und nur der ist der Mensch, männlich durch und durch, so männlich, als wär er nie etwas anderes gewesen, das nur mehr in der Erinnerung von Dialektromantikern, und die ist er sowieso nie gewesen. Es ist schon so, wie Ulli Lust beklagt: Die deutsche Sprache verweigert „allzu oft die weibliche Form bei generalisierenden Begriffen“. Also heißt’s der Mensch und niemals die.
Sohin lässt sich der Titel ihres neuen Comicbandes durchaus als Kampfansage lesen: „Die Frau als Mensch“ lautet der, und so selbstverständlich die Wendung auf den ersten Blick zu sein scheint, als müsste man derlei doch nicht eigens betonen, so wenig selbstverständlich ist sie, nimmt man all das als Maß, was die Vorstellung vom Menschen in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden geprägt hat: Kreuz und quer durch Kunst- und Kulturgeschichte – wo’s ums allgemein Menschliche geht, wird nur allzu oft ein Mann ins Bild gerückt. Und das quasi von Schöpfungstagen an: Adam und nicht Eva heißt der erste Mensch.
Wie das, fragt Ulli Lust, wo doch ganz im Gegenteil die frühesten Menschendarstellungen, jene der sogenannten Vorgeschichte, weit überwiegend und physisch reichlich unverwechselbar weiblich sind? Man denke an all die nachmalig von Männern verfälschend „Venus“ benannten Frauenstatuetten vorvergangener Zeiten, jene vom Hohlefels in der Schwäbischen Alb oder jene von Dolní Věstonice, Tschechien, und sowieso jene aus Willendorf in der Wachau, allesamt 30.000 Jahre alt und älter.
Womit auf Seite 17 jenes Thema umrissen wäre, das Ulli Lust auf den folgenden 230 Seiten und in einem zweiten, für 2026 annoncierten Fortsetzungsband umtreiben wird: Nicht einmal die Steinzeit tauge mehr „als Beispiel für die mancherorts immer noch viel zitierte natürliche männliche Überlegenheit, der sich die schwachen Frauen gerne unterwarfen, weil sie sonst verhungert wären“, so die Wahlberlinerin, Jahrgang 1967. Kurz: Die Idee vom virilen Steinzeitjäger, dessen bevorzugte Beute nebst Tieren nicht zuletzt nackte Frauen gewesen sind, gehört endgültig in die Rumpelkammer verstaubter Geschlechterklischees verwiesen.
Wer nun eine intellektuell-gewitzte feministische Attacke erwartet, wie sie uns die schwedische Zeichnerin Liv Strömquist mit Bänden wie „Der Ursprung der Welt“ (2017) und „Der Ursprung der Liebe“ (2018) beschert hat, wird jedenfalls überrascht, ja möglicherweise gar enttäuscht sein, auf welche Weise sich Ulli Lust der selbst gewählten Materie nähert. Mit – unstreitig bewundernswerter – Beharrlichkeit und Akribie breitet sie Belege vor Leserin und Leser aus für jenes korrigierte Bild früher und frühester Gesellschaften wie früher und frühester Kunstausübung, um das es ihr getan ist. Von anthropologisch-sozialen Befunden zu Buschmännern und -frauen der Kalahari bis zu den archäologischen Erkenntnissen aus steinzeitlichen Fundstätten in der mährischen Thaya-Ebene: Nichts ist räumlich oder zeitlich zu entlegen, um als Zeugnis für ein gleichsam urmenschliches Prinzip von Gleichberechtigung und gegen das Phantasma einer wie immer gearteten maskulinen Dominanz aufgerufen zu werden. Denn: Kooperation und nicht maskulines Konkurrenzdenken sei die Kraft, die an der Wiege der Menschheit stand. Was gar nicht so wenige politischen Weltakteure der Gegenwart implizit – wen wundert’s? – ins Vormenschliche verweist.
All das scheint wohlgefügt und bestens argumentiert, und doch . . . Erinnern wir uns, welche Arbeiten Lusts Aufstieg zur Comicgröße von internationalem Format bestimmten, hoch dekoriert in Europa wie in den USA. Nach Lehrjahren bei der Berliner Comicreportagengruppe Monogatari legte sie mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ (2009) und „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ (2017) zwei autobiografische Bände vor, die in ihrer radikalen Entschlossenheit, weder ihre Schöpferin noch deren Mitmenschen zu schonen, weithin Aufsehen erregten. Der klare Blick, mit dem da jemand die eigene Generation, aber auch sich selbst ins Auge fasste, Verirrungen, Verwirrungen, Verfehlungen, aber auch Momente des Glücks als das benannte, was sie waren, Tiefen wie Untiefen eigenen Erlebens und Erfahrens auslotete, all das ließ niemanden kalt. Das Politische im Privaten, das Private im Politischen, das schien Ulli Lusts ureigene Domäne.
Nun verlangt eine Arbeit wie „Die Frau als Mensch“, von Lust selbst als „essayistischer Comic“ beschrieben, formal ganz andere Qualitäten als derlei Gehabtes. Und noch mehr von der Arbeitsmethode her: Hier braucht’s zuallererst einmal gründliche Recherche. Ganze fünf Jahre habe sie auf die Vorbereitung aufgewendet, weiß Ulli Lust zu berichten, und die Sorgfalt, sei’s im Studium von Fachliteratur, sei’s durch Besuch von Originalschauplätzen spricht aus jeder Seite.
Ihre Erfahrung als dokumentarische Comiczeichnerin gab Lust zudem den rechten grafischen „Werkzeugkasten“ zur Hand, noch die ungewöhnlichsten Herausforderungen der Darstellung zu bewältigen. Wie sie Artefakte und ganze Fundkomplexe skizziert, atmet eine Beflissenheit, fast als gelte es, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen – vermehrt um jenen Vorteil, den Lust gegenüber anderen Sachbuchautorinnen und -autoren hat: nämlich den der Bilderzählung, also Bild und Text parallel führen, archäologische oder anderweitige Befunde in Geschichten und Geschichtchen fassen zu können.
Dennoch, immer wieder ertappt man sich bei dem Gedanken, vieles davon sei gewiss ehrfurchtgebietend vorgebracht, aber doch ein Stück weit zu bemüht: als habe jemand Angst vor der eigenen Courage gehabt, in ein Feld vorzudringen, das recht eigentlich nicht das ureigene ist, und sich gegen das vermeintliche Defizit durch die schiere Ausführlichkeit des Gebotenen zu schützen gesucht. Die Folge: Da und dort hätte dem Band wie seiner Botschaft ein wenig mehr Raffung, Konzentration nicht geschadet – ein bisschen weniger Zug zum Opus magnum und ein bisschen mehr Frechheit der Ulli Lust von ehedem.
Jedenfalls: Fortsetzung folgt. Man darf gespannt sein, wie.
Der Comic des Monats im März 2025
Ulli Lust
Die Frau als Mensch
Am Anfang der Geschichte.
256 S., € 29.
(Reprodukt, Berlin)