Das Genie und das Mädchen vom Lande: Am Beispiel von Marcel Proust und seiner Haushälterin der letzten Jahre, Céleste Albaret, erzählt Chloé Cruchaudet die Geschichte einer Emanzipation. Einfühlsam – und voll subtiler Ironie. „Céleste“, mein Comic des Monats im Juli 2025.
Es soll ja Zeiten gegeben haben, in denen es, wollte man Konkretes über jemanden in Erfahrung bringen, angezeigt war, Nachschau bei dessen Hauspersonal zu halten. Mittlerweile freilich haben sich westliche Gesellschaften erfreulicherweise weit mehrheitlich in Richtungen entwickelt, in der Subalterne wie Köchin, Diener, Stubenmädchen längst nicht mehr zum selbstverständlichen Bestand auch nur halbwegs besserbürgerlicher Haushalte gehören, wodurch solche Quellen der Recherche vielfach versiegt sind. Umso schöner, wenn sich uns entsprechend intime Einsichten zumindest ins Leben von Größen der Vergangenheit erhalten haben – wie etwa jene der Céleste Albaret (1891 bis 1984).
Die nämlich, ein schlichtes Kind vom Lande, wie man in oberwähnten Zeiten mutmaßlich formuliert hätte, stand die letzten acht Lebensjahre lang einem der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Marcel Proust, zur Seite: erst als Austrägerin seiner Korrespondenz, später als Haushälterin, letzthin näher als irgendjemand sonst auf Erden.
So ist es nur zu verständlich dass sie auch in sein Hauptwerk, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Eingang gefunden hat: in Gestalt der Françoise, Bedienstete, was sonst?, des Ich-Erzählers. Und dann und wann auch als sie selbst. „Während ich mein Hörnchen in die Morgenmilch tauchte, sagte Céleste zu mir: ,Ach, Sie haben Glück, dass Sie sich Ihre Eltern unter den Reichen haben aussuchen dürfen; was wäre sonst aus Ihnen geworden, wo sie doch so verschwenderisch sind. Da wirft er jetzt sein Hörnchen fort, weil es das Bett berührt hat. Hoppla, jetzt vergießt er auch noch seine Milch, warten Sie nur, damit ich Ihnen eine Serviette umbinde. Sie wissen ja doch nicht, wie man das macht; niemals habe ich jemanden gesehen, der so dumm und so ungeschickt ist wie Sie.‘“ So viel dazu, wie Marcel Proust selbst seine Céleste gesehen haben mag oder vielmehr das, wie er gesehen haben mag, dass sie ihn sah, zumindest, soweit man diesbezüglich Band vier seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ glauben schenken kann.
Und Céleste selbst? Die hat ein halbes Jahrhundert nach Prousts Tod, in den 1970ern, nach langjähriger Zurückhaltung angesichts einschlägiger Anfechtungen, dem Journalisten Georges Belmont doch noch Erinnerungen an ihre Zeit mit Proust, bei Proust diktiert: „Die Geschichte einer Faszination“ nannte die zeitgenössische Kritik das Ergebnis, unter dem Titel „Monsieur Proust“ 1974 auf Deutsch erschienen. Und mit der „Geschichte einer Faszination“ haben wir es unstreitig auch bei dem Zweibänder zu tun, den die französische Zeichnerin Chloé Cruchaudet in nämlicher Sache vorgelegt hat; nur dass es in Cruchaudets Fall eine Faszination ist, die mindestens genauso von Albaret wie von Proust ausgeht.
Folglich verwundert es auch nicht, dass sie das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung „Céleste“ betitelt hat. Und allein die Untertitel der beiden Bände zeugen schon von deren Inhalt: Zwischen „Gewiss, Monsieur Proust“ und „Es wird Zeit, Monsieur Proust“ entwickelt sich die Geschichte einer Emanzipation, die die arglos Unterwürfige an der Seite des von allerlei Hypochondrien und Hypersensibiltäten besessenen Genies zur stets eine angemessene Distanz haltenden und dennoch kritischen Begleiterin wachsen lässt.
„Das Buch, das Sie in Händen halten, bietet natürlich eine vollkommen subjektive Sicht dessen, was ich durch die Flammen hindurch wahrgenommen habe“, meint Cruchaudet selbst dazu. Und es sind die Flammen einer Leidenschaft, die merklich für Marcel Proust, allerdings viel mehr noch für Céleste Albaret lodern – einer Leidenschaft, die sich gewiss auch auf all jene, die bislang weder mit dem einen noch mit der anderen allzu viel anzufangen wussten, mit und durch und dank Cruchaudet überträgt.
Der Rahmen, in den sie ihre Erzählung spannt, kommt dramaturgisch durchweg konventionell daher: Ein Antiquitätenhändler-Paar wird bei der alternden Madame Albaret vorstellig, in der Hoffnung, über sie in den Besitz von Memorabilien aus dem Leben ihres vormaligen Dienstherrn gelangen zu können. Vor ihnen breitet Madame nun jene Begegnungen aus, die wohl wie nichts anderes ihr Dasein bis ins nunmehr hohe Alter bestimmt haben, nur dann und wann unterbrochen von ihrem Mann, der aus seinem Missmut angesichts des fraglos schon so oft Gehörten kein Geheimnis macht. Dass es dabei ausgerechnet er war, der zusammenbrachte, was sich auf so überaus seltsame Art letztlich als zusammengehörig erwies, gehört zu den ironischen Seiten des Daseins: Als Taxifahrer fallweise Monsieur Proust zu Diensten, erfährt er von dessen Suche nach Unterstützung bei alltäglichen Besorgungen – und bringt seine erst jüngst Angetraute ins Spiel.
Der Rest ist einerseits Literaturgeschichte, andererseits, dank Chloé Cruchaudet, ein hochsensibles, berückend schön gestaltetes Stück Comickunst vom Allerfeinsten: Wie Cruchaudet ihre Céleste vom schüchternen Mäuschen zur souveränen, und doch stets respektvollen Komplizin an der Seite ihres zwischen Leiden wie Genuss am eigenen Schaffen hin und her gebeutelten Dichters reifen lässt, einer Komplizin, die seine vermeintlichen wie seine tatsächlichen Kränklichkeiten immer genauer zu unterscheiden wie zu kurieren lernt, das zeugt nicht bloß von Sympathie, vielmehr von einer Form von Anverwandlung, die alle Grenzen zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben scheint. Wo endet Chloé – und wo beginnt Céleste?
Die Bilder, in die Cruchaudet ihre Erzählung kleidet, sind von seltener Kraft der Imagination und Einfühlsamkeit. Da ist zunächst der in seinem mehrheitlichen Aufenthaltsort, der eigenen Liegestatt, auf höchstem Gipfel seiner Kunst entrückte, unter einem Glassturz von den Unbilden der Welt geschiedene Unansprechliche, zu dem Céleste kaum vorzudringen wagt. Später dann dieselbe Céleste, die freilich längst nicht mehr die gleiche ist, und wie sie, als eine Art akrobatischer Hängebrückentanz über den Dächern von Paris, mit größter Selbstverständlichkeit die Übersiedlung ihres gar nicht mehr so sehr bloß eingebildeten Kranken organisiert.
Ein ständiges Fließen und Vibrieren liegt über Cruchaudets Bildfolgen, ein beständiges Changieren zwischen dem aquarellierten Ungefähren und dem feinen, konkreten Tuschestrich, der sanft und doch klar den Figuren Kontur gibt. Damit nicht genug: Auch die Texterin Cruchaudet versteht sich darauf, stets schlüssig und genauso stets mit leichter Hand alles zu erzählen, und doch nichts zu verraten, Empathie mit subtiler Ironie zu verbünden.
Ihr Werk möge dazu beitragen, „die Erinnerung an die großartigen Menschen der Familie Albaret lebendig zu halten“, schreibt Cruchaudet im Nachwort. Berührender hätte derlei nicht gelingen können.
Der Comic des Monats im Juli 2025
Chloé Cruchaudet
Céleste
Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Band 1, 124 S., € 25.
Band 2, 144 S., € 26.
(Insel Verlag, Berlin)