Wir reden viel über daß und dass und die korrekten Stammvokale. Und wer redet noch über die Sprache? Vom richtigen und vom guten Deutsch, zwei Monate bevor die neue Rechtschreibung verbindlich wird.
„Es ist besser, ich lege meine Karten gleich auf den Tisch und sage, wie ich dazu gekommen bin, dieses Buch zu schreiben.“ Oder: „Dieses Buch ist keine Grammatik und keine Stilkunde. Eines nämlich hat der Verfasser sich geschworen: Er werde sich hüten, den Experten ins Messer zu laufen.“ Oder: „Dieses Buch ist anders. Zunächst einmal ist es kein Lehrbuch, allenfalls ein lehrreiches Buch.“ Und so weiter.
Über Sprache zu schreiben scheint Autoren aller Haltungen und einschlägigen Intentionen unter beträchtlichen Rechtfertigungs- und Bekenntnisdruck zu setzen. Und es sind, nimmt man obige Zitate als Maß, keineswegs nur unsichere Nachwuchskräfte, die solchermaßen gleich im Vorwort ihr Beginnen legitimieren zu müssen meinen. In der Reihenfolge des Auftretens: Dieter E. Zimmer, Literatur- und Sprachwissenschaftler Jahrgang 1934, bis 1999 Redakteur der „Zeit“; Andreas Thalmayr, das mittlerweile besteingeführte Alias des Hans Magnus Enzensberger; und Bastian Sick, dessen „Spiegel-Online“-Sprachkolumne „Zwiebelfisch“ sich von Anfang an, mithin ab Mai 2003, einer beträchtlichen Aufmerksamkeit ausgerechnet unter der notorisch für sprachlich ignorant gehaltenen Internet-Community erfreute.
Nun gut, so bleibt auch mir kleinem Redakteur einer – wenigstens das! – großen österreichischen Tageszeitung gar nichts anderes übrig, als möglichst gleich und ohne weitere Umstände kundzutun, warum mich die entsprechenden Elaborate dieser drei Herren und noch dreier weiterer interessierten: weil ich von Berufs wegen naturgemäß mit Sprache zu tun habe – und weil mich der Furor, mit dem man sich seit einiger Zeit in öffentliche Fundamental-Debatten rund um Fugen-S (Schadensersatz? Schadenersatz?), Stammvokale (Stengel? Stängel?) und ähnliche sprachliche Wichtigkeiten versenkt, einigermaßen nachdenklich gemacht hat. Allzu sehr fühlte ich mich da unversehens an jene Schultage erinnert, in denen jeder Stil, und mochte er noch so papieren sein, bei sonstiger Korrektheit benotungsmäßig akklamiert wurde, was mir für die fadesten Schularbeiten von Floridsdorf und Umgebung gute bis sehr gute Zensuren eintrug.
Sicher, es hat halt etwas Verführerisches, Qualitäten welcher Art immer am Zähl- und Wägbaren zu messen, und so wie vor gar nicht so langer Zeit die Kompetenz eines Burgtheaterdirektors mancherorts nach der Zahl der Schließtage seines Instituts bewertet wurde, so fällt es allemal leichter, souveräne daß-Beherrschung, makellose Regentschaft über die Kunst des stummen Hs oder auch groß- wie kleinschreiberische Unfehlbarkeit, kurz das richtige Deutsch, zum Maßstab für das gute Deutsch zu nehmen.
Genauso mag es verlockend sein, durch eine Handvoll Algorithmen Sprache erfass- und herstellbar zu machen. Doch leider: „Mit keiner Logik ist ihr beizukommen. Zwar folgt sie tausenderlei Regeln, aber die einzige Regel, der sie ausnahmslos gehorcht, ist die, daß sie keine Regel ohne Ausnahme kennt“, schreibt Thalmayr/Enzensberger in seinem Band „Heraus mit der Sprache“ und hat recht. So ganz nebenbei gibt er uns mittels seines „daß“ auch zu erkennen, was er von der Rechtschreibreform hält: nichts. Oder, grundsätzlicher und thalmayrischer ausgedrückt: „Wer sich als Herrscher über die Sprache aufspielt, hat nicht begriffen, daß es sich um das einzige Medium handelt, in dem die Demokratie schon immer geherrscht hat. Selbsternannte Autoritäten kann es da nicht geben.“
Erstaunlich freilich, dass sich Thalmayr dennoch so untertänig an die auch nicht gerade per Volksentscheid zustande gekommene Rechtschreibregelung von 1901 (in der von der Duden-Redaktion bis in die Neunziger fortgeschriebenen Version) hält. Wo bleibt denn hier der egalitäre Impetus? „Die ,alte‘ Rechtschreibung wurde von einem kleinen Gremium aus Beamten und Experten hinter verschlossenen Türen in ein paar Tagen ausgehandelt“, weiß Dieter E. Zimmer in dem Band „Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit“ zu berichten, „und im Ruckzuckverfahren ohne Diskussion umgesetzt. Verglichen damit ist die Neuregelung geradezu ein Ausbund an Demokratie.“ Worin Zimmer wiederum, vorsichtig in Klammern gesetzt, einen Grund des neuen Rechtschreibjammers ortet: „Wahrscheinlich wäre die Neuregelung inhaltlich konsistenter und akzeptabler geraten, wenn sich weniger Gremien daran weniger ausführlich zu schaffen gemacht hätten.“ Ein bisserl weniger Demokratie – und alles wäre gut?
Immerhin, dass eine zumindest in den Grundzügen einheitliche Rechtschreibung ihre Meriten hat, darüber signalisieren Thalmayr und Zimmer Einigkeit: der eine, indem er sich, ohne viele Worte zu verlieren, an die alte hält, der andere, indem er sich für eine neue wortreich in die Bresche wirft. Und für deren Überarbeitung an zentralen Stellen: „Am dringendsten ist eine systematische Revision bei der Getrennt- und Zusammenschreibung“, meint Zimmer und findet sich seinerseits Seite an Seite mit Hartmut von Hentigs „14 Punkten zur Beendigung des Rechtschreib-Kriegs“: „Wenn die Rechtschreibreform Wörter, die in der Sprachvorstellung zusammengewachsen sind (maßhalten, liegenlassen, kennenlernen) wieder auseinandernimmt“ – richtig: auseinander nimmt! -, dann habe sie zwar die Sprache „weder geschändet noch bereichert“, doch schlimmer noch: „Sie hat ihre dienstbare Funktion verlassen.“
Was kraft der Erfahrungen in der Redakteurspraxis bestätigt werden kann: Während sich etwa die neue ss/ß-Schreibung problemlos und gleichsam über Nacht in Gehirnen wie Tastaturgriffen eingenistet hat, bleibt die Neuregelung des Trennens und Zusammenschreibens eine Quelle beständigen Ärgernisses und allgemeiner Verunsicherung. „Die Zusammenschreibung kennzeichnete oft eine semantische Differenz“, erläutert Dieter E. Zimmer. „Das hat er wohl bedacht und Das hat er wohlbedacht hatten nicht dieselbe Bedeutung. Die durch die Reform erzwungene Zerlegung hindert einen also gelegentlich, das zu schreiben, was man eigentlich meint, und das ist“ – jawohl! – „nicht hinnehmbar.“ Weshalb Zimmer vorschlägt, den Weg, der schon im Vorjahr eingeschlagen wurde, nämlich manche alte Zusammenschreibungen als Varianten wieder zuzulassen, konsequent weiterzugehen, gemäß einer neuen Formel, die etwa lauten könnte: „Wenn sich durch die Zusammenschreibung zweier Wörter eine Bedeutung ergeben soll, die über ihre getrennten Bestandteile hinausgeht, dann schreibe man sie in Dreiteufelsnamen zusammen!“
Welch kühner Schlag durch den orthografischen Knoten! Doch schon scheint Herrn Zimmer der Mut wieder zu verlassen: „Ob die Vermehrung der Varianten hinnehmbar wäre, die eine solche partielle Freigabe mit sich brächte, hängt von der Antwort auf eine Grundsatzfrage ab: Wie viele Varianten verträgt eine Orthografie?“ Da darf man ohne Sorge sein: Zumindest der Sprache selbst, wenn schon nicht ihrer rechten Schreibung, hat eine Vielzahl an Varianten wohl noch nie geschadet. Oder, mit Hartmut von Hentig gesprochen: „Ausnahme- und zweifelsfreie Regelwerke sollte niemand für eine geistige Tätigkeit aufstellen wollen, die ihre Wirkungen zu einem beträchtlichen Teil in der Abweichung und Abwandlung, im gewagten Regelbruch und in der spielenden Kombination sucht.“ Und überhaupt: „Macht Rechtschreibung nie zur Hauptsache!“ Eine Empfehlung, der zumindest vor kommendem August, wenn die neue Rechtschreibregelung – in ihrer dann aktuellen (überarbeiteten?) Form – verbindlich wird, nur wenige folgen werden.
Und dann? Was dann? Werden wir uns damit begnügen, regelmäßig bei Bastian Sick nachzulesen, wie man die Diskussionsthemen des Duden-Bands Nummer neun, „Richtiges und gutes Deutsch“, in leserfreundliche „Zwiebelfisch“-Kolumnen füllen kann? Werden wir wieder allerorten Sprachgeschütze in Stellung bringen, wo es um die Verteidigung des reinen Deutsch vor der Barbarei fremdwörtlicher Sprachusurpatoren geht? Werden wir uns wieder hingebungsvoll in Marmelade/Konfitüre-Kriegen ergehen, als hingen davon Wohl und Wehe ganzer Staaten und Kulturen ab? Oder werden wir uns endlich damit ausführlicher beschäftigen, was dem Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger dann und wann schon jetzt in seinen Glossen angelegen ist: Sprachkritik als Kritik am Sprachgebrauch?
Nehmen wir als Beispiel Gaugers (in alter Rechtschreibung abgefasste) Ausführungen zum semantischen Siegeszug des „Privaten“, man denke an die „Privatisierung“: „Privat suggeriert ,frei‘“, weiß Gauger. Aber welche Freiheit kann hier wohl gemeint sein? Die Freiheit, zu sehen, wo man bleibt? Kurz: „Warum sagt man nicht Kommerzialisierung? Dieses entschieden rauhere Wort ist da doch einzig angezeigt.“
Einer anderen Form fragwürdigen Sprachgebrauchs, dem verbrauchten, dem vorgefertigten Ausdruck, zu dem wir nicht zuletzt dann gerne greifen, wenn die Zeit knapp und der Geist ermattet ist, hat Gustave Flaubert ein „Wörterbuch der gemeinen Phrasen“ gewidmet. „Im ganzen Verlauf des Buches dürfte kein einziges Wort vorkommen, das auf meinem eigenen Mist gewachsen wäre, und wenn man es gelesen hätte, dürfte man überhaupt nichts mehr zu sagen wagen vor lauter Angst, zwangsläufig eine der Phrasen nachzuplappern, die sich darin finden“, so umriss er 1852 sein Vorhaben. Wohlan, da sollten Flauberts Fundstücke mittlerweile ausgestorben sein. Eine Stichprobe – der neuen Übersetzung Hans-Horst Henschens folgend – fällt ernüchternd aus: Auch heute sind in Schriften aller Art Hengste vorzugsweise „feurig“, Mörder „feige“, Dichter „Weltfremde“. Aber welcher Berufsschreiber hat schon Angst vor Gustave Flaubert? Und welcher nicht vor der Deadline?
Interessant übrigens, welche „gemeine Phrase“ Monsieur Flaubert unter dem Stichwort „Orthographie“ notierte: „Nie erneuern!“ Tempora mutantur? Ach wo.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 28. Mai 2005