Nachkriegszeit: Im Kochtopf der Erinnerung

Gasmaskenfilter als Nudelsieb. Geschoßhülsen als Blumenvasen. Von Kriegs­gegenständen, die in der Materialnot der ersten Nachkriegsjahre ein neues Dasein fanden, erzählt die Comic-Anthologie „Stell dir vor!“. Mein Comic des Monats im Mai 2025.

Wie man sich täuschen kann. Fröhlich-unbeschwert kommt sie daher, die kleine Wanduhr, mit den beiden bunten Comic-Figuren auf dem signalroten Zifferblatt, dazu ein putzig-flauschiges Tierchen auf dem Perpendikel. Alles genau so, wie man sich erwachsenerseits gern vorstellt, Kindgerechtes müsse so und dürfe gar nicht anders sein. Kinderzimmern war das Stück denn auch zugedacht, und dass sich hinter so viel mitleidlosem Frohsinn vormals Todbringendes verbarg, kam seinen Käufern mutmaßlich nicht in den Sinn: Nichts anderes als zu Uhrwerken umgebaute Zeitzünder von Flugabwehrgeschoßen waren es, die ein Wiener Unternehmen in den Nachkriegsjahren mit vorgesetzten Kunststoffscheiben zum Wandschmuck aufhübschte.

Heute ist besagte Kinderzimmeruhr in der Schausammlung des Wiener Uhrenmuseums zu bestaunen: Dokument jener Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in der so gut wie alles, was irgendwie brauchbar schien, entsprechend adaptiert, in mitunter völlig neuen Zusammenhängen dienstbar gemacht wurde. Und dass das Diktat allgemeiner Materialnot für moralisch-ethische Skrupel in Zusammenhang mit solchen Neubestimmungen nicht viel Platz ließ, belegt auch ein Objekt, das derzeit im Wien Museum, in der aktuellen Ausstellung zur Besatzungszeit, zu finden ist: ein Wehrmachtshelm, mittels angefügten Stiels zur Schöpfkelle umfunktioniert.

Knapp 1000 Kilometer nordwestlich von Wien, im niederrheinischen Städtchen Wesel, haben Gegenstände wie diese Mitte der 1980er-Jahre die Sammelleidenschaft eines ortsansässigen Pastors entfacht: In den folgenden Jahrzehnten trug Werner Abresch in seiner unmittelbaren Umgebung zusammen, was nach der Kapitulation nazideutscher Vernichtungswut vom Handwerkszeug des Tötens zum Handwerkszeug des Überlebens promovieren durfte. Ein Gasmaskenfilter als Nudelsieb. Schuhe aus Tarnuniformen. Nicht zu vergessen die vielen roten Kleidchen und Schürzen, in die sich plötzlich ausgediente Hakenkreuzfahnen, ihres verräterischen Emblems verlustig, transformiert fanden.

Mehr als 2000 Objekte umfasste Abreschs Sammlung letztlich, „Dinge aus dem Krieg, die im Frieden ein neues Dasein bekamen“, wie Abreschs Sohn Philipp heute formuliert. Dinge, denen aktuell ein so eindringlich gestalteter wie sorgsam recherchierter Comic-Band gewidmet ist, der sich zugleich ein Stück weit als Vermächtnis des im Vorjahr verstorbenen Werner Abreschs lesen lässt: „Stell dir vor!“, eine Anthologie, in der eine handverlesene Schar deutscher Comic-Künstlerinnen und -Künstler ausgewählte Sammlungsgegenstände zum Erzählen bringt – Erzählen von einer Zeit, die in ihren konkreten Bedingnissen zwangsläufig von Tag zu Tag mehr dem öffentlichen Bewusstsein entschwindet.

Gleichsam zum Geleit zeichnet Illustrator Tobi Dahmen nach, wie Pastor Abreschs Sammlung ihren Anfang nahm. Anlässlich eines Kondolenzbesuchs entdeckt Abresch in der Vitrine einer älteren Dame zwei Schaustücke, auf deren Ursprung er sich keinen Reim machen kann. Unstreitig handelt es sich um Vasen, doch diese Form, dieses seltsame Material … Das seien ausgediente Artilleriekartuschen, wird er aufgeklärt, vormals also Behältnisse von Treibladungen für Projektile von Granaten, für die gute Nachkriegsstube zum Blumenschmuckträger umgemodelt. „Das war einer der ersten Gegenstände, der es bei uns wieder heimelig machte“, lässt Tobi Dahmen die Besitzerin sagen – und so seltsam derlei heute klingen mag, genauso wird man’s damals wohl empfunden haben.

Dahmen ist es auch, auf den die Idee zu „Stell dir vor!“ zurückgeht. Seinerseits in besagtem Wesel aufgewachsen und mit Familie Abresch seit Schultagen bekannt, erfährt er anlässlich eines Besuchs in seiner alten Heimat, dass die Sammlung Pastor Abreschs dem Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens überantwortet worden ist. Und für ihn, der die Sammlung quasi von Kindesbeinen an kennt, scheint zweierlei klar: einerseits, wie inspirierend es wäre, über die Ausstellung der Objekte hinaus zusätzlich die damit verbundenen Schicksale und Lebensbedingungen in den Blick zu rücken. Und andererseits: Welches Medium wäre dazu besser geeignet als der Comic?

Tatsächlich zählt Geschichtsvermittlung seit Jahrzehnten, spätestens mit Art Spiegelmans Holocaust-Fabel „Maus“ (1986), zu den Hauptagenden zeitgenössischer Comic-Produktion, und das aus gutem Grund: kann sich doch die Erzählung in Bildfolgen einerseits die Sinnlichkeit des Visuellen dienlich machen, ohne andererseits Gefahr zu laufen, mit einer gehabten Wirklichkeit verwechselt zu werden.

So realistisch präzis kann ein Abbild gar nicht sein, dass es nicht doch stets Abbild bliebe. Oder René Magritte folgend: Selbst die noch so exakte Darstellung einer Pfeife ist eben nie die Pfeife selbst. Das „So ist’s gewesen“, wie es uns Film und Fotografie vorgaukeln, im Comic ist es allseits erkennbar ein „So könnte es gewesen sein“. Ganz abgesehen davon, dass wir ohnehin nie sehen, was ist und wie es ist, vielmehr zuvörderst nur das, was wir sehen wollen. Respektive: was uns Bewusstsein und Erfahrung zeigen. So sind es auch durchaus unterschiedliche Gestaltungswege, auf denen sich Dahmens drei Mitstreiterinnen und zwei Mitstreiter den von ihnen ausgewählten Sammlungsgegenständen und deren Geschichte annähern, nicht zuletzt abhängig davon, wie viel konkret zu deren Entstehung und nachmaliger Nutzung jeweils bekannt ist.

Julia Bernhard und Volker Schmitt etwa haben sich eines Brautkleids angenommen, genäht aus Fallschirmseide für eine Braut, deren Bräutigam in den Wirren der allerletzten Kämpfe dem mörderischen Schlachten zum Opfer fiel. Und auf welchen Wegen besagtes Brautkleid doch noch, und sogar zweimal, in Nachkriegstagen zu Ehren kam, gehört nicht zuletzt aufgrund einer Erzählweise, die sich in klar strukturierten Bildern auf die Wirksamkeit der Geschichte verlässt, zum Anrührendsten, was der Band zu bieten hat.

Melanie Garanin wiederum musste mehr imaginieren, als sie wissen konnte: Schließlich ist der Kochtopf, den sie sich vorgenommen hat, nichts weiter als eben einfach ein Kochtopf, und dass sein Material aus alten Flugzeugteilen zusammengeschmolzen wurde, sieht man ihm naturgemäß nicht im Mindesten an. Freilich, vorstellen lässt sich allemal, was der Besitz eines solchen Kochtopfs für Familien bedeutet haben mag und wie er gleichermaßen zum Gegenstand von Hoffnung wie zur Projektionsfläche düsterer Erinnerungen werden konnte, beides von Garanin ins Ungefähre zart aquarellierter Bildfolgen gefasst, als wären’s Schimären nur – und sind doch Nachkriegslebenswirklichkeiten.

Objekt für Objekt öffnen sich immer neue Zugänge zu jenem Damals, das Frieden hieß und noch immer Fortwirken des Krieges war. Und wenn irgendetwas dem Band vorzuwerfen wäre, so einzig, dass nur vier Gegenstände, und wovon sie Zeugnis sind, Platz gefunden haben. Kein Krieg endet, wenn die Waffen schweigen. „Stell dir vor!“ erzählt davon.

Der Comic des Monats im Mai 2025
Tobi Dahmen, Jakob Hoffmann (Hrsg.)
Stell dir vor!
Comics über die Nachkriegszeit.
186 S., € 26
(Avant Verlag, Berlin)

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