„Monica“: Über Kunst, Chaos und die Wahrheit im Fantastischen

Graphic Novel zum Immer-wieder-Lesen: Vor dem Hintergrund von Vietnamkrieg und Hippiebewegung erzählt Daniel Clowes vom Leben seiner Protagonistin, vor allem aber von seiner unbändigen Lust am Fabulieren. „Monica“: mein Comic des Monats im Jänner 2025.

Ordnung sei das halbe Leben, sagt man gern. Und so wenig davon unsere löchrigen Socken, Schmutzwäscheberge oder verstaubte Bücherstapel zu wissen scheinen: Was unsere Betrachtung der Welt betrifft, verwenden wir doch ziemlich viel Zeit und Energie darauf, was uns umgibt, in ein klares Koordinatensystem einzupassen, das uns – zumal in unübersichtlichen Zeiten – Orientierung erlaubt.

Nicht anders in Sachen Kunst und Kultur: Hier helfen uns beispielsweise Genrebezeichnungen, raschen Überblick zu schaffen, womit so ungefähr man’s denn zu tun habe. Und mag derlei Kategorisierung im Detail mitunter auch fragwürdig und fallweise sogar irreführend sein: Als ungefähre Richtungsangabe taugen Begriffe wie Komödie oder Krimi, Thriller oder Romanze allemal. Was aber, wenn sich Zuordnung solcher Art beim besten Willen nicht gewinnen lässt?

Es muss kein Zufall sein, dass gerade die jüngste Vergangenheit etwa in Sachen Film reich an Beispielen ist, die sich beharrlich jeder Einhegung in Genres zu verweigern scheinen, als gelte es, unsere einschlägigen Bedürfnisse quasi vorsätzlich zu unterlaufen. Wer hätte mit zwei, drei Worten zu sagen gewusst, wo denn „Everything Everywhere All at Once“ (2022) einzureihen sei? Oder, ein Jahr später präsentiert, „Poor Things“? Oder, dieser Tage, „Emilia Perez“? Und wer bislang meinte, so absichtsvolle Verwirrungsstifterei werde wenn schon nicht von der Kritik, dafür umso gewisser vom Publikum bestraft, wurde rasch eines anderen belehrt: Alle drei erwiesen sich an den Kinokassen als überaus erfolgreich, ganz zu schweigen von jurymäßigen Ehrbezeugungen von Cannes bis zur rituellen Oscar-Bescherung im Dolby Theater zu Los Angeles.

Kein Wunder also, wenn sich Vergleichbares in Sachen Comics begibt. Womit wir bei „Monica“ wären, einer Graphic Novel des US-amerikanischen Großmeisters Daniel Clowes, 2023 im Original erschienen, seit wenigen Wochen bei Reprodukt in deutscher Übersetzung erhältlich. Irgendwo zwischen Entwicklungsroman, Identitätssuche einer verlorenen Seele, Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Abrechnung mit den 1968ern, Sektenwahnsinn und Horrorschocker irrlichtert der Band, als wär’s die selbstverständlichste Sache der Welt. Und wenn wir angesichts des ganzen thematischen wie stilistischen Tohuwabohus dann noch von seinem Schöpfer anlässlich eines Interviews erfahren dürfen, dieses Buch handle von seiner „Abscheu vor dem Chaos“, sind wir zunächst einmal baff, scheint doch, was vor uns liegt, ziemlich genau das Gegenteil zu signalisieren: eine unbändige Lust, Chaos zu stiften.

Und zwar vom vorderen bis zum hinteren Vorsatzblatt: Noch vor allem anderen, vor Titel und Inhaltsverzeichnis, sehen wir uns in eine vulkanisch brodelnde Erde ferner Urzeiten versetzt, an die sich, in einem zweiseitigen Zeitraffer, von der Entwicklung ersten Lebens in der Ursuppe über Dinosaurier, Christi Kreuzigung, Shakespeare und Atombombe eine ganze Weltgeschichte anschließt; und kaum haben wir 106 Seiten später das Finale erreicht, lösen sich letzte Scheinverlässlichkeiten postfinal in einer Art Zombie-Apokalypse auf, als wär’s ein Splatter-Movie der billigeren Art. „Monica“: die ganz große Universalerzählung von überhaupt allem?

Nicht doch. Daniel Clowes scheint es im Grunde nur nicht darum getan zu sein, einer Dramaturgie zu folgen, die sich mehr oder minder stur entlang einer klar umrissenen Storyline entwickelt, welchselbige uns am Ende, um allerlei ästhetische Erlebniswerte oder gar Erkenntnisse bereichert, befriedigt in unser Leben entlässt. Motto: Buchdeckel zugeklappt, Buch abgehakt und im Regal eingeordnet.

Davon kann hier keine Rede sein. An 106 Seiten „Monica“ schließt sich unvermeidlich eine Immer-wieder-Lektüre an, „Monica“, ob wir das wollen oder nicht, lässt uns nicht mehr los. Ein Comicereignis mit Suchtfaktor. Und noch eines sei verraten: Jede Lesereprise liefert neue Einsichten – und keine die letztgültige, einzig authentische Interpretation. „Monica“: ein Comic als Vexierbild, das uns je nach Erfahrung und Erwartungshaltung immer wieder anders, neu, womöglich fremd erscheint.

Dabei, den Äußerlichkeiten nach könnte man meinen, alles sei ganz klar: Wie der Titel signalisiert, kreist der Band „Monica“ – eben – um das Leben einer Frau namens Monica, deren Geschichte sich, oberflächlich betrachtet, zwar nicht gerade banal, aber doch auf eine Weise präsentiert, die routiniert ausgetretenen Spannungspfaden zu folgen scheint. Diese Monica also, bei ihren Großeltern aufgewachsen, begibt sich eines Tages auf die Suche nach ihrer Mutter, welche sich ihrerseits einer mysteriösen Sekte angeschlossen hat. Nach einigen Mühen gelingt es ihr tatsächlich, zu dieser Sekte vorzudringen et cetera et cetera.

So weit, so konventionell. Nachdenklich allerdings könnte gleich anfangs stimmen, dass Clowes die Vita seiner Protagonistin quasi in einem Schützenloch des Vietnamkriegs beginnen lässt. Eine erste Volte, die sich rasch begründet findet: Einer der beiden GIs, die da über Gott, die Welt, den Tod und ihre Zukunft bramarbasieren, ist nämlich Verlobter jener Penny, die wir gleich im nächsten Kapitel kennenlernen, ihr Bett mit einem anderen teilend und auf bestem Weg dazu, sich zu Monicas so gar nicht mütterlichkeitsbewegter Mutter zu befördern. Aber was hat das alles mit jener seltsamen Stadt zu tun, in der blaugesichtige Wiedergänger, siehe Kapitel drei, die Macht übernommen zu haben scheinen? Oder mit dem bizarren Maler Krugg, der sich nach wilden Jugendjahren nun, im Alter, Kapitel acht, entschieden hat, „fernab des Getümmels in mönchischer Hingabe“ an seine Kunst zu leben?

Immer wieder lässt uns Clowes glauben, der Lösung jener Rätsel, die er uns – so will es der Anschein – aufgibt, nah zu sein, und immer wieder lässt er unsere Gedankenkonstrukte mit ein, zwei kurzen Handlungswendungen kollabieren. Und so unmissverständlich seine Bildsprache in den 1950ern zu Hause ist, so wenig zeitverbunden bleibt der Rest: Einer Handvoll inhaltlicher Anhaltspunkte, Vietnamkrieg, Hippiebewegung, die den Anfang von Monicas Biografie definieren, steht ein Weiterschreiten durch Jahre und Jahrzehnte, bis in eine mutmaßlich jüngere Vergangenheit gegenüber, die ohne zeittypische Elemente wie etwas Mobiltelefone oder Computer bleibt: als sei das Leben festgefroren in einer Epoche, die ihrerseits seltsam amorph, zuschreibungsfrei daherkommt.

„Meine Vorstellung von diesem Buch, noch bevor ich wusste, worum es gehen sollte, war ungefähr folgende: ein mehrere Genres abdeckender 80-Seiten-Comicsammelband in etwa aus dem Jahr 1957“, so Daniel Clowes in einem Gespräch mit dem US-Fachmagazin „The Comics Journal“. „Er sollte mit Krieg beginnen, danach eine Liebesgeschichte, dann Horror . . . Ich stellte mir vor, dass ein solches Format damals existierte, aber ich denke, das stimmt nicht. Einen solchen Sammelband hat es nie gegeben.“

Nun ja, jetzt, 70 Jahre später, gibt es ihn. Und es mag die unbändige Lust am Fabulieren sein, die Leserin und Leser immer wieder aufs Neu in seinen Bann schlägt: weil er uns in seiner Vieldeutigkeit, in seiner Unergründlichkeit ständig auf ganz und gar unerwartete und unerwartbare Weise stimuliert, wie eine Droge, die unsere Visionen und Nachtmahre zum Leben erweckt.

Auch die Juroren des Festivals von Angoulême vermochten sich dieser Faszination nicht zu entziehen: 2024 wurde „Monica“ daselbst mit dem Preis für das beste Album ausgezeichnet. Es handle sich um Daniel Clowes’ „intimsten Band“, hieß es in der Jurybegründung, „gespeist aus seinen persönlichen Erfahrungen“. Und womöglich liegt genau darin das eigentliche Geheimnis von „Monica“: dass Glowes sich jenes schöpferische Chaos, vor dem er – siehe oben – so große Abscheu hegt, einmal so richtig vom Herzen gezeichnet hat. Andererseits, erinnern wir uns kurz, was er seinen geheimnisvollen Maler Krugg sagen lässt: „Ein wahrer Künstler wird offenbar nur bewundert, wenn er versehentlich missinterpretiert wird.“ Egal: Ein bisserl Bewunderung wird trotzdem gestattet sein.

Der Comic des Monats im Jänner 2025
Daniel Clowes
Monica
Aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland.
106 S., € 24.
(Reprodukt, Berlin)

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