„Maltempo“: Ferragosto, Rock ’n’ Roll und der Traum vom besseren Leben

In die süditalienische Provinz entführt der Franzose Alfred im abschließenden Band seiner italienischen Trilogie: „Maltempo“ erzählt von Jugendlichen in einer Gesellschaft der Abgehängten – und der Hoffnung, die ihnen bleibt. Mein Comic des Monats im August 2024.

Ferragosto. Ein einziges Wort – und schon liegt eine sanfte Sommerbrise in der Luft, der Duft von Gelato, Meer und Sonnenöl, „Azzurro“ singt’s leise durch Pinienhaine, eine Ahnung von dolce far niente pocht in der Brust. Und weil keine Strandwirklichkeit das halten kann, was unsere Imagination verspricht, lassen wir’s damit idealerweise gleich wieder gut sein. Denn wer sich ausgerechnet zur italienischen Hauptreisezeit rund um den 15. August, Ferragosto eben, in jenes Land begeben muss, wo nebst Zitronen auch Autokolonnen, überfüllte Restaurants und anderweitiger Overtourism bestens gedeihen, wird kaum Gelegenheit haben, seine Träume vom Zauber des Südens bestätigt zu sehen.

So viel zur schlechten Nachricht. Die gute Nachricht freilich ist: Auch ohne sich vom Fleck zu bewegen, können Sie sich dem Charme der Italianità hingeben. Oder, genauer, dem, was wir damit verbinden: mit Wärme, nicht nur meteorologischen Messwerten nach, sondern auch mit der einer Lust am Leben, die noch so herbe Dissonanzen des Irdischen in Wohlklang aufzulösen scheint – vielleicht nur für Stunden oder Tage, aber immerhin. Was Sie dazu tun müssen? Begeben Sie sich in die Buchhandlung Ihres Vertrauens und erwerben Sie eine der sensibelsten, scharfsichtigsten und zugleich zauberhaftesten Graphic Novels der jüngeren Vergangenheit: den Band „Maltempo“ des französischen Zeichners Alfred.

Aus seinen persönlichen Erinnerungen an Italien, seiner „ureigenen italienischen Mythologie“ habe er den Stoff für seine „italienische Trilogie“ geschöpft, weiß Alfred selbst zu berichten, eine Trilogie, die sich aus drei jeweils abgeschlossenen, für sich stehenden Geschichten konstituiert. Was vor zehn Jahren mit einer Erkundung des postfaschistischen Italien der 1950er unter dem Titel „Come Prima“ begann und 2021 mit „Senso“ seine Fortsetzung fand, einer liebenswürdig-zufälligen Erwachsenenromanze, geht mit „Maltempo“ nun in ein Finale, das Kindheit und Jugend in der süditalienischen Provinz ins Auge fasst.

„Hier ist nichts zu tun! Hier war nie was zu tun, und hier wird nie was zu tun sein“, lässt Alfred seinen Protagonisten, den 15-jährigen Mimmo, einmal grimmig sagen. Und dass er diesen Mimmo mit Nachnamen (wie auch den ganzen Band) Maltempo, zu Deutsch Schlechtwetter, nennt, lässt schon ein Stück weit ahnen, wie es Alfred mit Symbolen hält: Schlechtwetter in einer Gegend, die nichts anderes als Sonnenschein kennt?

Nun, Alfred, mit bürgerlichem Namen Lionel Papagalli, wird wohl aus eigener Erfahrung um die assoziative Kraft wissen, die von sprechenden Eigennamen ausgehen kann. So ist es wohl auch kein Zufall, dass der Ort des Geschehens, ein fiktives Küstenstädtchen, den Namen Scamorza trägt, Kulinarikern als süditalienische Käsespezialität geläufig. Und dass ein Mädchen namens Alba, Morgenröte, immer wieder Mimmo Maltempos Wege kreuzt …

Ja, der Morgen dämmert in der Ereignislosigkeit von Scamorza herauf, als auf Plakaten ein Casting angekündigt wird: Mitten in Italiens ferialster Ferienzeit, an einem 24. August, werde sich eine Prominenten-Jury der „angesagtesten Musik-Show“ des Landes in Scamorza einstellen, um daselbst Talente zu entdecken. „Sie wollen der nächste Star werden, der Millionen Platten verkauft?“, lautet die Frage. Nun, Mimmo will, und was läge da näher, als die eigene Band zu reaktivieren?

Die hat zwar ihre Probenarbeit vor ein paar Monaten eingestellt, Gennaro, dem Schlagzeuger, waren die Becken aus der Garage gestohlen worden; doch bald stehen die vier wieder in Mauros Schuppen, hoch über Scamorza und also unbehelligt von jeder Nachbarschaft, die sich durch allzu laute Rockklänge gestört fühlen könnte: Guido, der Bassgitarrist, der so gern mit seinen Liebesaffären prahlt, Cesare, der intellektuelle Querkopf und Leadsänger der Band, dazu eben Mimmo an der Gitarre, Gennaro am Schlagzeug.

Und neben ihren Instrumenten bringen sie ihre je eigenen Sorgen und Nöte mit: die Sorgen und Nöte von Halbwüchsigen auf dem Weg ins Erwachsenensein, aber auch die Sorgen und Nöte, die mit ihrer ureigensten Umgebung verbunden sind. Denn hinter den beschaulichen Fassaden, in der Stille weitab vom Lärm der Metropolen wuchert nicht nur bei Mimmo – siehe oben – das Gefühl des Abgehängtseins, die Beklemmung, die eine Existenz in der Sackgasse auslöst. Da ist Gennaros Vater, der lokale Lebensmittelhändler, für den die Flüchtlinge und Bettler schuld an allem Übel sind. Da ist diese Bande jugendlicher Neofaschisten, die die Region mit Mussolini-Büsten und xenophoben Plakaten versorgt. Da ist eine allgegenwärtige Atmosphäre aus Neid, Missgunst, Abstiegsangst.

Und als eines Tages, auf der Baustelle, an der das neue Hotel errichtet werden soll, ein Kran gesprengt wird, wundert das im Grunde niemanden mehr. Schließlich, was für die einen die Aussicht auf Arbeitsplätze in einer notorisch wirtschaftsmaroden Region bietet, wird von anderen als mutwillige Landschaftszerstörung wahrgenommen. Noch einmal mit Mimmo gesprochen: „Hier kannste nur krumme Dinger drehen, elendig auf ’ner Baustelle verrecken oder verrückt werden!“

Nun, gerade Mimmo tritt an, das Gegenteil zu beweisen: In dem bewussten Casting erkennt er die Chance zum Aus- und Aufbruch, die er um jeden Preis nutzen will – gegen alle Widerstände und gegen jede Wahrscheinlichkeit. Und im Grunde ist es gleichgültig, ob ihm am Ende der heißersehnte Triumph tatsächlich vergönnt sein wird oder nicht: Allein schon der Versuch macht ihn zum Sieger über jene Lethargie, die bleischwer über der Region und ihren Einwohnern lastet.

Bleischwer könnte auch die Diktion sein, in der sich derlei erzählen ließe: als harsches Sozialdrama, das in seinem verbiesterten Pessimismus an nichts mehr glaubt, schon gar nicht daran, es könnte möglich sein, das Schicksal, so schwer es dich auch schlägt, dennoch in die eigenen Hände zu nehmen. Alfred sucht und findet einen anderen Weg: Ohne den düsteren Hintergrund, vor dem sich die Handlung entwickelt, aus den Augen zu verlieren, bleibt er doch dem Prinzip Hoffnung treu, dem Glauben daran, dass auch im Schuft ein Mensch steckt, der vielleicht nur noch nicht weiß oder womöglich vergessen hat, dass er einer ist. Wie Mimmo Maltempo ist auch der nach ihm benannte Band von der Überzeugung getragen, dass wir nichts hinnehmen müssen, wie es ist, und dass keine soziale Kälte so kalt sein kann, dass sie sich nicht auf lebensbejahende Temperatur bringen ließe.

Mit klaren Strichen und einem präzisen Verständnis für einprägsame Details entwickelt Alfred, aufs Anheimelndste assistiert von seinem Koloristen, Laurence Croix, ein Bild vom Süden, das zugleich realistisch und dennoch fast weltentrückt ist: wahr, und doch fast zu schön, um wahr zu sein. Panel für Panel schreitet die Handlung wohlgeordnet fort. Nur wo die Band sich musikalisch ins Zeug zu legen hat, da darf auch der Zeichenstift ekstatisch über die Blätter toben: Hier rockt das Leben.

Am Ende dürfen wir mit Mimmo und mit Alba von einer besseren Zukunft träumen – einer Zukunft freilich, die ohne unsere Gegenwart und Vergangenheit nie zu haben ist. Mimmo, wir ahnen es, wird derlei nicht vergessen. Und vielleicht kann ja sogar Scamorza Ort seiner besseren Zukunft sein.

Der Comic des Monats im August 2024:
Alfred
Maltempo
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg.
186 S., € 24.
(Reprodukt, Berlin)

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