Gipi: Gefängnis oder Graphic Novel, das ist hier die Frage

Vom Vergangenen, das nie vergeht, und vom unschuldig Schuldigwerden erzählt Gipi in einem neuen Sammelband voll wiederaufgelegter, autobiografisch inspirierter Schätze: „Geschichten aus der Provinz“ – mein Comic des Monats im Oktober 2024.

Wann ist das Vergangene vergangen? Eine Frage, die, so absurd sie klingen mag, uns doch immer wieder umtreibt. „Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen.“ So lautete 1951 William Faulkners lapidare Antwort in seinem Roman „Requiem für eine Nonne“ – und die haben mittlerweile zahllose verehrungswürdige Zitatorinnen und Zitatoren, von Christa Wolf (in ihren „Kindheitserinnerungen“) bis zu Barack Obama (in seiner Rede „A More Perfect Union“, gehalten im Vorfeld zu seiner ersten Präsidentschaftswahl), als gleichsam gegeben übernommen.

Tatsächlich, jeder von uns wird es schon erfahren haben, das Fortwirken des Geschehenen in uns. Und derlei beschränkt sich keineswegs auf all das, dessen wir selbst ansichtig werden, sondern weit darüber hinaus auf vieles, das sich ohne unser Zutun zu unseren Lebenszeiten begibt, ja sogar in jenen Tagen, die davor liegen. Was wir als Erbe übernehmen, ist weit mehr als das, von dem Testamente künden: Es sind Haltungen, Gedanken, Einsichten, Überlegungen, die, egal ob wir sie teilen oder nicht, dennoch wie Bojen im Meer unserer Ideen und Assoziationen Orientierung schaffen. Der oft bemühte Schlussstrich unter das Vergangene ist nur durch Gaukelei zu haben, durch jenen Trick, den Christa Wolf benennt: „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Kurz: nichts als Selbstbetrug.

Der italienische Zeichner Gipi, recte Gian Alfonso Pacinotti, umkreist das Vergangene, und wie es uns nicht und nicht zur Ruhe kommen lässt, seit vielen Jahren: besonders augenfällig etwa in Gestalt des – fiktiven – Schriftstellers Silvano Landi, den er in seiner 2022 auf Deutsch erschienenen Fabel „Eine Geschichte“ durch eine Welt der Erinnerungen treibt, die weit vor dessen eigener Zeit angesiedelt sind: festgehalten im Tagebuch seines Urgroßvaters, das der während des Ersten Weltkriegs geführt hat.

Silvano Landi: ein fiktiver Schriftsteller? Je nun, was heißt schon fiktiv, wo es um Gipis Œuvre geht? „Ich habe immer gesagt, ich hätte keine Vorstellungskraft“, ließ sich der 1963 geborene Pisaner Mitte der 2000er vernehmen. „Das mag vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprechen, aber meine Inspiration datiert aus Ereignissen meines Lebens.“ Mitte der 2000er – das ist die Zeit, in der jene Graphic Novels entstehen, die Gipis Aufstieg zur internationalen Größe markieren: Da wäre einmal „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“, 2006 mit dem Preis für das beste Album beim Comicfestival im französischen Angoulême ausgezeichnet. Oder „Die Unschuldigen“, im selben Jahr mit dem deutschen Max-und-Moritz-Preis geehrt.

Beide finden sich dieser Tage in einem Band vereint, der den – wie so oft bei Gipi – überaus unscheinbaren Titel „Geschichten aus der Provinz“ trägt, und beide stehen gemeinsam mit einer dritten Story, gleichfalls aus Mitte der 2000er datierend, ganz im Zeichen des Fortwirkens von Gehabtem im Hier und Jetzt – und weit darüber hinaus.

Da wären einmal die drei Jugendlichen in den „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“: Vor dem Hintergrund einer nicht näher definierten dystopischen Szenerie schlagen sie sich mit kleinen Gaunereien durchs Leben, bis sie von einem Warlord auf der Suche nach immer neuen Soldaten für einen detto nicht näher definierten Krieg erst zum Werkzeug seiner kriminellen Geschäfte, dann zu Handlangern seiner martialischen Maschinerie umfunktioniert werden.

Mit einer Präzision, wie sie eigene Erfahrung ahnen lässt, begleitet Gipi seine drei Protagonisten auf dem Weg in ein scheinbar unvermeidliches Verderben, eingezwängt zwischen Überlebenskampf, Gruppendruck und falschen Idealen. Und es ist bezeichnend, worin Gipi den Urgrund dafür ansetzt, dass die drei diesem Weg ins Verderben folgen: in einer Entwurzelung, die ihnen jede Lebensbasis und damit jede Basis für eigenverantwortliches Handeln raubt. Nur Giuliano, Gipis Ich-Erzähler, wird im letztlich entscheidenden Moment buchstäblich den Absprung schaffen: weil er zumindest ein Stück weit jene Geborgenheit kennt, die im Idealfall Familie schaffen kann.

Nehmen wir Valerio in den „Unschuldigen“. In seiner Jugend haben ihm korrupte Polizisten das Leben zur Hölle gemacht. Als er sich dagegen aufzulehnen versucht, verschwindet er für Jahre im Gefängnis. Worauf anderes denn auf Rache sollte er sinnen, sobald er die Freiheit wiedererlangt hat? Oder das namenlose Personal der dritten Geschichte, die schon in ihrem Titel von Bedrohlichkeiten kündet: „Sie haben das Auto gefunden“ – was anderes denn unheilvolles Fortwirken gehabter Schuld und neuerliches Schuldigwerden sollte damit verbunden sein?

Ja, Schuld ist allgegenwärtig in den Geschichten dieses Sammelbandes, und immer wieder ist es das Motiv eines unschuldig Schuldigwerdens, wie es das antike Drama kennt: ein Hineingeworfensein in Verhältnisse, aus denen es vermeintlich oder auch tatsächlich keinen anderen Ausweg gibt, als selbst zu fehlen. Gipi selbst nennt derlei Schicksal: „Ich habe mich immer gefragt, was es ist, das dein Leben rettet oder dich verdammt“, gab er wenige Jahre nach dem Erscheinen der genannten Geschichten in einem Interview zu Protokoll. Das sei Ergebnis seiner eigenen Jugend, während der er viele seiner Freunde – „Menschen wie mich“ – scheitern sah: „Ich bin in einem ziemlich harten Umfeld aufgewachsen, in einer Bande kleiner Gauner. Aber ich bin mit dem Leben davongekommen.“ Dafür sei zum einen – wir erinnern uns, siehe oben, an Giuliano – die Familie verantwortlich, und in seinem speziellen Fall „die Kunst und die Liebe zum Geschichtenerzählen“. Seine Adoleszenz, auf den Punkt gebracht: „Dein Leben endet entweder im Gefängnis – oder damit, Graphic Novels zu zeichnen.“

Und wie nun zeichnet Gipi diese Graphic Novels? Dass sie sich im gegenständlichen Fall in schlichtem Schwarz-Weiß, präsentieren erklärt Gipi selbst mit materiellen Notwendigkeiten: Zur Zeit ihrer Abfassung sei der Verlag nicht sicher gewesen, ob die Sache einen Vierfärber wert wäre.  Andererseits habe er etwa in den „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ bewusst auf „prachtvolle Seiten und glänzende Effekte“ verzichten wollen. Eine Zurückhaltung in der grafischen Gestaltung, die sich auch anderwärts niederschlägt: Die Handlung ereignet sich konsequent zwischen den Panels, die Panels selbst zeigen regelmäßig nur das Davor und das Danach eines Geschehens. Ein für Comics durchaus unüblicher Zugang, zählen doch gerade die quasi gefrorenen Momente von Actionszenen vom ersten Tag an zu den genretypischen Kennzeichen der Neunten Kunst.

Wie sieht das Gipi selbst? Das ist im Schlussabschnitt der „Geschichten aus der Provinz“ nachzulesen, mysteriös „Die tote Hand“ betitelt, in der Sache freilich nichts weiter als einer Art ästhetischer Selbsterklärung: „Manchmal denke ich, dass die Fähigkeit, eine gute Geschichte zu erzählen, wirklich darin besteht, die Haltepunkte so zu setzen, dass sie die Vorstellungskraft beflügeln. Die Szene und die Handlung in genau dem Moment anzuhalten, der es anderen ermöglicht, sich vorzustellen, was dazwischenliegt.“ Und: „Wenn vom Comic geredet wird, wird oft an Karikaturen gedacht. An ausufernde Bewegungen, an übertriebenen Ausdruck. Das ist eine Möglichkeit. Eine andere ist die Untertreibung. Den Ausdruck anzuhalten, bevor er sich manifestiert.“ Gipi, der Untertreibungskünstler. „Geschichten aus der Provinz“ erzählen davon.

Der Comic des Monats im Oktober 2024:
Gipi
Geschichten aus der Provinz
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano und Giovanni Peduto.
208 S., € 35
(Avant Verlag, Berlin)

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