„Sie reagiert komplett triebgesteuert. Ich liebe sie, aber sie geht mir auch tierisch auf den Sack.“ Das sagt Elizabeth Pich über das Geschöpf, das sie in die Comic-Welt gesetzt hat. „Fungirl“ – von einer, die auszog, uns Fürchten und Lachen zu lehren. Mein Comic des Monats im Juni 2024.
Man hätte es ja wissen können. Oder zumindest ahnen. Nachdem Anfang des Jahres Emma Stone als Bella Baxter so ziemlich alles auf den Kopf gestellt hatte, was man sich bis dahin unter denkbaren Varianten weiblicher Selbstbestimmung und ihren Wegen und Zielen vorzustellen wagte, würde nichts mehr sein, wie es davor war. Wie konnte da nur eine Frau mit natürlichster Selbstverständlichkeit – und ohne jede Bedachtnahme auf Vorstellungen von G’hörtsich, Scham und comme il faut – ihren Weg ins Leben suchen und in eine Freiheit, die vor allem eines, nämlich frei von Ängsten ist? Frei von der Angst vor Ungebührlichkeit, frei von der Angst vor Schuld- und anderen -Gefühlen, nicht zuletzt frei von der Angst vor den eigenen Wünschen, Sehnsüchten, Begierden.
Giorgio Lanthimos’ so ganz andere Emanzipationsparabel „Poor Things“ brach mit allen Vorstellungen, wie man sie gegenwärtig aus Gleichberechtigungsdiskussionen kennt. Und dass ausgerechnet Stones kreatürliche, rückhaltlos explizite Interpretation ihrer Rolle sogar im sonst überaus prüden Hollywood so weit Gefallen fand, dass man sie mit einem Oscar würdigte, hätte leicht als Hinweis dafür genommen werden können, dass neben einem keim- und lustfreien Dogmatismus auch wieder andere Wege zu weiblicher Selbstbestimmung gangbar sein könnten.
Da kommt Fungirl grade recht: ein Wesen, das kaum Vorsicht, wenig Rücksicht kennt und vor allem keine Scheu, Bedürfnisse und Gelüste welcher Art immer sich selbst und anderen vorbehaltlos einzubekennen. Ursprünglich über sozialmediale Kanäle verbreitet, hintertreibt Fungirl mittlerweile auch zwischen Buchdeckeln alles, was gängigerweise als angemessen gilt – zumal für eine Frau. Dabei sind es nicht nur die Zumutungen biederen Gutbürgertums in Sachen Weiblichkeit, denen sich Fungirl kategorisch entzieht, sondern auch die eines (siehe oben) allzu dogmatischen Feminismus. Fungirl treibt, was es will und wie es will – also in aller Regel alles sehr viel bunter (und im Ergebnis sehr viel komischer), als es sich unsereins erlaubt. Und wenn ein Feuerwehrmann zum Löscheinsatz in Fungirls Küche ausrückt, weil eine im Backrohr verkohlende Pizza das halbe Haus verqualmt, kann es schon passieren, dass er von Fungirl mit einer nicht ganz alltäglichen Erklärung für das Koch-Malheur überrascht wird: „Sorry, ich war am Masturbieren.“
Die deutsch-amerikanische Comic-Zeichnerin Elizabeth Pich hat Fungirl erdacht. Und wen wundert’s angesichts des Oberwähnten, dass sie mit ihrem Geschöpf nicht überall auf eins, zwei willkommen war. Beim Ersterscheinen in den USA mancherorts in der Schublade Pornografie abgelegt, stieß „Fungirl“ auch bei deutschsprachigen Comic-Verlagen die längste Zeit auf Zurückhaltung. Ob das tatsächlich, wie Pich in Interviews insinuiert, bloß auf unterschiedliche Mechanismen von Humor dies- und jenseits des Atlantiks zurückzuführen ist, bleibe dahingestellt. Fakt ist jedenfalls, dass sich mit der Edition Moderne ein ausgewiesener Avantgarde-Spezialist nun der Sache angenommen hat.
Fakt ist wohl auch, dass Fungirl keineswegs als Selbstporträt seiner Schöpferin zu verstehen ist, vielmehr als Gegenbild: Fungirl tut und sagt, was Pich niemals zu tun, zu sagen wagte. Sie selbst, bekennt Pich, sei „eher der Typ, der sich zu viele Gedanken macht und aufpasst, um nicht unangenehm aufzufallen“. Wie wohl die allermeisten von uns. Fungirl dagegen ist ein ganz anderer Part zugewiesen: der einer Miss Hyde zu Pichs (und unserem) Dr.-Jekyll-Ego. Diese Miss Hyde auf Comic-Reise zu schicken, kann gewiss heilsam kathartisch wirken; andererseits verkennt Pich nicht das zerstörerische Potenzial, das in Fungirl steckt: „Sie reagiert komplett triebgesteuert. Ich liebe sie, aber sie geht mir auch tierisch auf den Sack.“ Was Fungirl nicht anders ausgedrückt haben würde.
Wie hat man sich nun das Umfeld dieser Antiheldin vorzustellen? Fungirl lebt mit ihrer Ex-Liebesgefährtin Becky in wohngemeinschaftlicher Unverbindlichkeit zusammen. Und dass die beiden je mehr geteilt haben als Wohnzimmer, Bad und Küche, lässt sich angesichts ihrer Unterschiedlichkeit nicht leicht ermessen. Wo Fungirl rotzfrech durchs Leben schreitet, mit ausgeprägter Libido und ohne Respekt vor irgendwas oder irgendwem, zeigt sich Becky skrupulös, stets auf der Suche danach, das moralisch wie (frauen-)politisch Richtige zu tun (was frappant an Selbstbeschreibungen Pichs erinnert). Dann ist da noch Peter, Beckys aktueller Partner, Repräsentant eines neuen, aufgeklärten Männerbilds, der in seiner Verunsicherung, was denn genau darunter zu verstehen sei, vor lauter Vor-, Um- und Rücksicht auch schon einmal die Fassung verliert – und das so atavistisch-urmännlich, wie er sich’s sonst verbietet.
Rund um dieses seltsame Trio gruppiert sich allerlei Nebenpersonal, das die Handlung immer wieder ins Groteske kippen lässt. Da wäre einmal der Bestattungsunternehmer mit seiner skurrilen Sammlung obskurer Präparate, der das Pech hat, dass Fungirl in einem seltenen Anfall von Leistungswillen ausgerechnet bei ihm anheuert; oder die ältliche Barfrau, die von Oralverkehr mit schnauzbärtigen Männern (Tom Selleck!) schwärmt; nicht zu vergessen die Ex-Bodybuilderin, die nun als selbsternannte Karriereberaterin mit Vorträgen über „Power Posing“ ihrem weiblichen Klientel das Geld aus den Taschen zieht. Welch Ironie, dass gerade sie, die Psycho-Gauklerin, Fungirls innerstes Wesen durchschaut: „Du bist eine Versagerin ohne Ehrgeiz und Ziel. Du verbringst die meiste Zeit in Unterwäsche auf dem Sofa und glaubst, Masturbieren zähle als Hobby.“ Und: „Die einzige Beziehung, die du führst, ist die zu Tiefkühlpizza.“
Das mag im Detail übertrieben sein, und trifft doch den Kern. Nur: Wie viel weniger irrsinnig ist der Irrsinn, den wir in unserem Alltag für angemessen und richtig halten? Was erzählt Fungirl über uns, über Erfolgswahn, Leistungsdruck, Selbstkontrolle, eine Welt, in der nichts so fremd ist, als sich einmal selbst zu verlieren, in der alles möglich ist und doch von Tag zu Tag weniger zulässig zu sein scheint?
So rabiat Pich ihre Protagonistin auftreten lässt, so formal brav gibt sich die formale Gestaltung. An klassischen Vorbildern wie „Tim und Struppi“ oder den „Peanuts“ orientiert, hüllt Pich ihre fallweise verstörend provokativen Inhalte in einfache Linien, eine Handvoll klarer Farben, die nichts von der Revolte gegen den Biedersinn ahnen lassen, die hier angezettelt wird. Fungirl selbst zeigt sie stets in schwarzer Hose und rotem Pullover mit weißen Kragenspitzen, in ihrem Äußeren eher Vorzugsschülerin denn Rebellin wider die Philisterei. Und noch das Ungewöhnlichste ist, dass Pich in ihrem Zug zur Reduzierung ihren Akteuren Mund und Nase vorenthält – zu sagen haben sie auch so genug.
Ein Gutteil zum Vergnügen tragen zeichnerische Anspielungen kreuz und quer durch Kunst- und Kulturgeschichte bei, die Pich wie selbstverständlich in die Handlung flicht. Da lässt sie ihr Geschöpf schon einmal schlapp wie Dalís „Weiche Uhren“ in einer surrealen Landschaft hängen. Und spätestens wenn Fungirl ganz im Stil der Artemisia Gentileschi als neue Judith, assistiert von Becky, Peter-Holofernes an den Kragen geht, ahnen wir: „Fungirl“ macht Spaß. Doch so blutig ernst war Spaß vielleicht noch nie.
Der Comic des Monats im Juni 2024
Elizabeth Pich
Fungirl
Aus dem Englischen von Christoph Schuler.
256 S., brosch., € 26
Edition Moderne, Zürich