Frau Grütter oder: Der Maler, das Modell – und die Wirklichkeit hinter den Bildern

„Stellvertretend für all die namenlosen Frauen, die in der Welt der Museen hängen“, stattet Dinah Wernli, Illustratorin im Schweizer Aarburg, Cuno Amiets Porträts der Bäuerin Louise Grütter mit Leben aus: hingebungsvoll, bewegend. „Louise“: mein Comic des Monats im November 2024.

Der Maler und sein Modell. Nicht viele Themen gibt es, die unsere Fantasien flammender befeuern. Und man muss kein sexbesessener Maniac sein, dass sich diese Fantasien in eine sehr eindeutig zweideutige Richtung entwickeln. Kurz zusammengefasst: Zwischen den beiden, da muss doch etwas gelaufen sein! Nimmt man allein die äußerlichen Gegebenheit als Maß, fällt es schwer, sich derlei Ideen zu entziehen: Zwei Personen allein in einem Raum, beide in einem Alter, dem zumeist Reproduktionsfähigkeit zugestanden werden muss, und das Ganze über Stunden – da braucht’s gar nicht die Vorstellung, eine/r der beiden könnte nur spärlich oder auch gar nicht bekleidet sein, dass unsere aufs Erotische fokussierten Gehirnsynapsen imaginationstrunken explodieren.

Die paar tausend Jahre Kunstgeschichte, auf die wir mittlerweile zurückblicken, tragen wenig dazu bei, einschlägig sinistre Gedanken als abwegig zu brandmarken. Schon vom berühmtesten aller griechischen Maler des Altertums, Apelles mit Namen und Zeitgenosse Alexanders des Großen, geht die Sage, er habe sich, von Alexander aufgefordert, dessen Konkubine Kampaspe zu porträtieren, in selbige so unsterblich verliebt, dass ihm Alexander besagte Konkubine zum Geschenk machte (was nebstbei einiges über die Stellung der Frau im alten Griechenland erzählt). Dass das auch in späteren Jahrhunderten, die nicht mehr gar so viel vom Konkubinenverschenken hielten, zum Gemäldesujet taugte, belegen Werke von Giambattista Tiepolo oder Angelika Kauffmann, Shakespeare-Übersetzer August Wilhelm Schlegel formte den Stoff gar zur literarischen Romanze.

Raffael und La Fornarina, Francisco Goya und Leocadia Weiss, Édouard Manet und Suzanne Leenhoff, Egon Schiele und Wally Neuzil, nicht zu vergessen Picasso, mit wem auch immer er gerade zusammenlebte: Maler und Modell im Doppelpack dies- und jenseits der Staffelei gehören nicht nur zum unsererseits halluzinierten Inventar, mit dem wir unsere Idee von Kunst und Künstlerleben ausstaffieren, sondern tatsächlich zu beider realem Bestand. Freilich, nicht alles, was sich in Malerateliers begab, musste notwendigerweise anrüchig sein. Und wer sagt denn, dass sich die Maler-Modell-Beziehung einzig in dieser einen, der erotisch aufgeladenen Form erfüllen muss?

Eines allerdings gilt in allen Fällen: Selbst wenn der Name von Modellen bekannt ist, bleibt deren Existenz jenseits der Leinwände, auf denen sie sich verewigt finden, regelmäßig unbeachtet und also unbedankt – als habe sich ihr Leben auf stundenlanges Posieren in zugigen Künstlerkemenaten beschränkt. Mit ungenügender Quellenlage allein wird sich das nicht erklären lassen, da wird gewiss auch ein beträchtliches Ausmaß an Desinteresse der Mit- und Nachwelt mitspielen.

Die Schweizer Illustratorin Dinah Wernli hat nun versucht, auf ihre Weise diesem Defizit zumindest ein kleines Stück weit abzuhelfen – am sehr konkreten Beispiel ihres Malerlandsmanns Cuno Amiet (1868–1961): Nicht er, der vielbeachtete Künstler, angesehenes Mitglied der Künstlervereinigung „Die Brücke“, vielmehr eines seiner ungewöhnlichsten Modelle, Louise Grütter, steht im Mittelpunkt ihres Bandes „Louise“. Und was soll man sagen? Wie Wernli die so gut wie Unbekannte und ihre Seelenwelt auferstehen lässt, hat weder in Sachen Sensibilität noch in Sachen Gestaltungskraft bis dato seinesgleichen.

2018, anlässlich einer Amiet-Werkschau zu dessen 150. Geburtstag, begegnet Wernli einem seiner merkwürdigsten Gemälde zum ersten – und bisher einzigen – Mal: Es zeigt eine Frau mit entblößter Brust, frontal dem Betrachter zugewandt, ein Sujet, wie es zu Tausenden kreuz und quer durch die Geschichte der Kunst zu finden ist, in aller Regel – siehe oben – einigermaßen sinnlich aufgeladen. Doch davon kann hier keine Rede sein: Kein verführerisches Erbauungsideal wird hier ins Bild gerückt, sondern die schonungslos unverstellte Wirklichkeit eines Körpers, der sich jenseits jeder anderen Absicht präsentiert als der, schlicht zu sein, wie er ist.

„Ich bin vor dem Bild gestanden“, berichtet Wernli später dem Schweizer Radiosender KanalK, „und ich hab den Titel des Bildes gelesen, Halbakt von vorn (Frau Grütter), und die Klammerbemerkung hat mich ins Studieren gebracht: einerseits die nackte Frau, andererseits das förmliche Frau Grütter in der Klammer. Und dann hab ich angefangen zu recherchieren und gesehen, dass man nicht so viel über sie weiß.“

Gewiss, einige Eckdaten sind schon auszumachen. Der gebürtige Solothurner Amiet zieht sich nach langen Lehr- und Wanderjahren zwischen München, Paris und Bern mit seiner Frau 1898 in die Ländlichkeit des Oberaargauer Weilers Oschwand zurück, woselbst er bis zu seinem Tod bleiben wird. Dort lernt er seine Frau Grütter kennen, Bäuerin in der Nachbarschaft, verheiratet; und die wird ihm ab 1905 immer wieder Modell sitzen, nackt oder auch nicht, als werdende Mutter, als junge Mutter mit Kind, doch stets als das vorgestellt, was Amiet in ihr vielleicht gesucht und gewiss gefunden hat: Da ist keine Spur von Maler-Modell-Klischee samt allen oben bemühten Nebenerscheinungen, nur die Wahrheit einer Bodenständigkeit, die auf keiner Kunstschule und in keinem Künstlerzirkel zu haben ist. So weit Amiets Seite. Was aber mag Louise Grütter in ihren Stunden bei den Amiets, erst als Modell, später als Hilfe in Haus und Garten gefunden haben?

„Stellvertretend für all die namenlosen Frauen, die in der Welt der Museen hängen“, stattet Wernli das Dasein ihrer Louise Grütter mit Bildern aus, Bildern, wie sie deren Wirklichkeit entsprochen haben mögen. Bilder eines Daseins zwischen Stallarbeit, Feldarbeit, Arbeit als Hausfrau und Mutter, Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit, in das die Begegnung mit Amiet, das Zusammensein mit dem Künstler einbricht wie die Landung eines Alien von einem fremden, unendlich weit entfernten Stern. Ein Zusammensein, das Wernli in ihren ganzseitigen Illustrationen und den knappen Texten dazwischen zum Ausgangspunkt eines Prozesses der Selbsterkundung weitet. Denn ihre Frau Grütter hat etwas, was Frauen ihresgleichen sonst nie haben – sie hat Zeit, die Zeit, die sie vor Amiets Staffelei verbringt. Und sie hat jemanden, der sich für sie selbst interessiert, nicht nur dafür, was sie an Arbeitskraft zu leisten vermag. In Wernlis Worten: „Während sie dasitzt und sein Blick auf ihr ruht, beginnt auch sie sich zu sehen. Mit seinen Augen. Mit ihren Augen. Für einen Moment ist sie allein. Allein mit der Frau auf der Leinwand. Kein Spiegelbild. Vielmehr die Ahnung einer anderen Louise. Und doch auch sie selbst.“

Wernli verzichtet auf das genretypische Formenvokabular des Comics. Keine Panels, schon gar keine Sprechblasen, 166 Seiten lang. Und im Eigentlichen ist es ja auch keine Geschichte in Bildern, die hier erzählt wird: Die Geschichte entwickelt sich nicht in, sondern zwischen den Bildern – und doch sind es einzig und allein die Bilder, die diese Geschichte vorwärtstreiben. Die Geschichte einer Emanzipation, die sich im Inneren einer Frau ereignet, ohne dass sie die äußeren Konventionen eines Oberaargauer Landlebens verlässt. Eine ganze Galerie von Bildern als Mutmaßungen über eine Existenz, und was sie wohl im Innersten ausgemacht haben mag.

Für ihre Illustrationen scheint Wernli ganz und gar jene ästhetischen Gedanken verinnerlicht zu haben, die Amiet selbst, zeitlebens Wandler zwischen Im- und Expressionismus, für sein Schaffen in Anspruch genommen hat: „Ich habe mich schon selber darüber gewundert, wie verschieden ich male“, so Amiet. „Ich weiß auch, dass man mir das häufig vorwirft. Ich habe nie recht verstanden, warum. Von der Stunde, da man erkennt, wie viel Herrliches schon geschaffen wurde, gesellen sich auch die Einflüsse dazu. Ich erlaube mir, das Gute dort zu nehmen, wo ich es finde.“

Auch Dinah Wernli, Jahrgang 1983 und nach Berufsjahren zwischen Damenschneiderei und Kindergarten an der Hochschule Luzern zur Illustratorin ausgebildet, greift zu im reichen Fundus dieses Guten: sei es, dass sie Vorlagen Amiets weitertreibt, sei es, dass sie darauf aufbauend Neues entwickelt. Einmal überschwänglich im Farbenspiel, dann wieder verhalten gedeckt, oft im nebelhaft Verschwommenen, dann wieder klar konturiert, aber immer unmissverständlich an der Seite der einzigen Protagonistin, der sie ihre Aufmerksamkeit schenken will: Louise Grütter, Bäuerin aus Oschwanden, Oberaargau. Wer sie wirklich war, werden wir nie erfahren. Wer sie gewesen sein könnte, erzählt Dinah Wernli in „Louise“. So hingebungsvoll wie bewegend. Und von einer malerischen Verve beseelt, die daraus ein Kunstwerk sui generis macht.

Der Comic des Monats im November 2024
Dinah Wernli
Louise
166 S., € 34
(Edition Moderne, Zürich)

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