Festival „Hin & weg“: Theater, näher als die Wirklichkeit

Die ganze Welt ist Bühne? Zumindest ganz Litschau für zwei Wochenenden im August. „Hin & weg“: ein Theaterfestival der etwas anderen Art. Mit Größen wie Andrea Eckert und Cornelius Obonya, aber auch vielen Newcomern.

Theater ist ja jener Zauberort, wo nichts unmöglich ist. Da kann eine Bretterwand ein herrschaftliches Schloss, ein Sandhaufen der Himalaya sein. Theater transformiert alles und alle: die auf dem Podium und die davor. Mittlerweile schon das siebente Jahr transformiert Theater für zwei Wochenenden im August eine Kleinststadt im nördlichsten Waldviertel in die erstaunlichste Bühne des Landes: ganze 81 Gemeindequadratkilometer groß, dort und da mit, dort und da ohne Dach, immer und überall aber voll der Hingabe und Faszination, wie sie nichts anderes als Theater in uns auslösen kann.

„Hin & weg“ heißt das Theaterfestival, Litschau die Stadt und Zeno Stanek der Mittfünfziger, der für all das hauptverantwortlich zeichnet. Regisseur von Ausbildung und Beruf, ließ Stanek die Bretter, die da angeblich die Welt bedeuten sollen, immer öfter hinter sich, um kurzerhand die Welt selbst zu inszenieren. Zumindest die kleine Welt von Litschau, zwischen waldigen Hügeln und dem seit Jahrhunderten aufgestauten Herrensee eingebettet, als wär’s fast zu schön, um Wirklichkeit zu sein.

Bald 20 Jahre ist es her, dass Stanek erstmals mit seinem „Schrammel.Klang.Festival“ nicht nur Freunde und Ausübende wienerischer Weltmusik Richtung Nordzipfel Österreichs in Bewegung setzte, sondern zugleich die Ortsansässigen zu Akteuren und Mitgestaltern eines Konzertevents promovierte, das bis heute allenfalls Nachahmer, doch nicht seinesgleichen hat. Wenn heuer am 9. August das „Hin-&-weg“-Festival beginnt, hat es auch schon Anspruch auf den Ehrentitel Tradition.

Das Prinzip ähnelt jenem des Geschwisterfestivals: Wo Stanek bei „Schrammel.Klang“ quasi Wiesen und Wälder zum Klingen bringen lässt, wird bei „Hin & weg“ die ganze Stadt zum Verhandlungsort all der theatralen Ereignisse. Egal ob Schlachthaus des lokalen Fleischers, die Garage der Feuerwehr oder der Geräteschuppen des Bahnhofs: Alles hat schon einmal zum Theaterraum getaugt.

140 Veranstaltungen sind es heuer, verteilt auf zwei Wochenenden. Und weil die über das halbe Gemeindegebiet verstreut stattfinden, eignet ihnen trotz solcher Fülle in jedem Augenblick berührende Intimität. So nah dran an der Essenz des Schauspiels und seinen Akteuren kann man kaum irgendwo anders sein.

Nah dran an uns sind auch die Themen, die hier verhandelt werden. Unbedingte Zeitgenossenschaft ist Prinzip: Hier stehen keine auf Aktuell gebürstete Interpretationen ehrwürdiger Klassiker auf dem Programm, sondern Dramatik der Gegenwart. Und die wird beim Wort genommen: und zwar nicht allein in jenen Fällen, in denen ihre Autorinnen und Autoren zugegen sind, um sich dem Gespräch mit Zuschauern und Interpreten zu stellen.

„Identität“ und „Teilen“ stehen heuer im Mittelpunkt einer bunten Vielfalt von Produktionen, von ausgefeilten Inszenierungen, die nicht selten jenseits großer Bühnen und Metropolen ihren Ursprung haben, über szenische Lesungen, in denen neue Stücke, binnen weniger Stunden mit einfachsten Mitteln einstudiert, ein erstes Mal vorgestellt werden, bis hin zu „Küchenlesungen“, für die Einheimische dem Publikum ihren Mittagstisch und Schauspielerinnen und Schauspieler ihr Herz öffnen, um im quasi privaten Rahmen Lieblingsstücken zu ihrem Recht zu verhelfen.

Besonders reizvoll: das Nebeneinander renommierter Bühnengrößen, heuer z. B. Andrea Eckert und Cornelius Obonya, und Newcomern, nicht zuletzt Studierenden etwa der Wiener Musik-und-Kunst-Privatuniversität oder der Ernst-Busch-Schule Berlin. Wer nicht warten will, bis zu Mittag der große Vorstellungsreigen beginnt, kann schon ab elf Uhr „Fellingers Frühstück“ genießen, Diskussionsrunden, kundig angestiftet von Ö1-Moderator Bernhard Fellinger, oder schon eine Stunde davor die literarische „Teelöffellounge“ von Katharina Stemberger besuchen, die mit Stanek und Sigrid Horn für die künstlerische Festivalgestaltung verantwortlich ist.

Von Figurentheater bis zu den szenischen Forschungsarbeiten des „Instituts für Medien, Politik & Theater“, das nach der gefeierten „Fellner-Lesung“ diesmal dem Thema „Heimat bist du rechter Söhne“ nachgeht, von einer „Märchenstunde“ mit Kurt und Christa Schwertsik bis zum musikalisch-dramatischen Eintauchen in den „Kosmos Jonke“: Hier wird vieles gewagt, und wenn auch, wie es das Wagnis mit sich bringt, nicht immer alles gewonnen wird, so ist hier selbst die Niederlage regelmäßig auf- und anregender als der anderweitig schon vorab ausgemachte Triumph.

„Hin & weg“: für jene, die sich darauf einlassen wollen, ein Ausnahmezustand der Sinne. Für alle anderen: Gelegenheit, Theater auf eine Art kennenzulernen, wie’s nicht bald sonstwo zu haben ist.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 8. August 2024

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