Zwischen Kühlungsborn, Rostock und Stralsund locken charmante Ferienorte mit weiten Sandstränden, üppiger Natur und einem historischen Erbe ohnegleichen an die Ostsee. Nachrichten aus der Heimat des Fischbrötchens.
Marco, Luca und Rüdiger haben es gut. Ein Meerwasserbecken direkt im Haus, Kost und Logis gratis, dazu die frische Luft, die von der Ostsee herüberweht, was will man mehr? Nur dass sie so ganz und gar auf weibliche Gesellschaft verzichten müssen, könnte vielleicht manchmal das Vergnügen der dickhäutigen Herrenrunde trüben. Der dichte Zaun dagegen, der rund um ihr Domizil gespannt ist, den sind sie längst gewöhnt. Marco, Luca und Rüdiger nämlich sind in Gehegen aufgewachsen, Seehunde, die jetzt gemeinsam mit acht weiteren ihrer Art sowie einer Handvoll Seelöwen und Seebären in Diensten der Robbenforschung stehen.
Hohe Düne heißt das Viertel, an dessen äußerster Nordspitze das Robbenforschungszentrum Warnemünde seine Besucher einlädt, an der Arbeit der Wissenschafter teilzuhaben: Die Wahrnehmungsfähigkeiten ihrer Schützlinge, namentlich die Mechanismen ihrer Orientierung, lässt man sich hier angelegen sein. Wer Wert darauf legt, der kann sich sogar selbst, unter professioneller Anleitung versteht sich, als Forscher versuchen – oder auf gemeinsamen Tauchgang ins Seehundbecken steigen, alles nur nach Voranmeldung naturgemäß.
Warnemünde: So nennt sich das pittoreske Seebad zehn Kilometer nördlich von Rostock, und der Name ist Programm. An der Mündung des Flusses Warnow hat sich die Ansiedlung entwickelt, die sich die Rostocker Bürgerschaft schon in mittelalterlichen Tagen als Zugang zum Meer gesichert hat. Gleich zwei Mal darf besagte Warnow in die Ostsee münden: als schmaler Alter Strom und als breiter Neuer. Entlang des alten lässt es sich zwischen schmucken Fischkuttern und ebensolchen Kapitänshäusern, beides längst zu Cafés, Läden, Fischbrötchen-Versorgungsstätten umgenutzt, flanieren; am neuen wiederum steht man parat, neben diverser Fracht auch jenes touristische Segment der Seefahrt freundlich zu empfangen, das längst nicht mehr überall wohlgelitten ist: die Kreuzfahrtschifferei. Ja, Warnemünde, das ist einer der seltenen Häfen, in denen man die von Jahr zu Jahr steigende Kreuzfahrerfrequenz nicht fürchtet, vielmehr sich darüber freut. Vermutlich weil das Land rund um Rostock aufs Engste mit der Werftindustrie verbunden ist, und die hat, nach kurzem Stillstand im Gefolge des politischen Kollapses der DDR, mittlerweile zu neuer Blüte gefunden.
Im Übrigen erweist sich auch hier, an der Mecklenburg-Vorpommerischen Ostseeküste, was so oft in Deutschlands Osten zu bestaunen ist: Was 40 Jahre DDR-Mangelwirtschaft nicht zu zerstören vermochten, liefert heute, aufs Feinste herausgeputzt, historische Ansichtskartenmotive sonder Zahl, wie es sie anderswo nicht so leicht gibt, als sei die Zeit, da im Mittelalter und in der Renaissance, dort in der Blüte des Historismus einfach stehengeblieben.
Eines von vielen Beispielen: Heiligendamm. Als erster Seebadeort Kontinentaleuropas 1793 nach englischem Vorbild gegründet, auf dass die „außer Zweifel gesetzte heilsame Wirkung des Badens im Seewasser“ nutzbar werde, erwuchs alsbald an der Ostseeküste ein imposant-klassizistisches Gesamtkunstwerk aus Logier-, Bade- und Gesellschaftshäusern, das dem Städtchen, dessen Gemeindegebiet es angehörte, Doberan genannt, in den 1920er-Jahren den Zusatz „Bad“ verschaffte. Allein, Weltwirtschaftskrise, rücksichtslose Zweckentfremdung erst in Nazi-, dann in DDR-Tagen hinterließen, wo vordem Wilhelminischer Glanz und Wilhelminische Gloria zu Hause gewesen waren, schäbige Hüllen, allenfalls in der Lage, sentimental-nostalgische Gefühle zu wecken.
Mittlerweile freilich ist in Heiligendamm längst wieder der Atem des Mondänen zurückgekehrt, nebst höchster Politik: 2007 sogar anlässlich eines Treffens der mächtigsten Staatenlenker der Welt. Und müssten da in dem weitläufigen Hotelrefugium nicht zwei, drei kleinere Objekte als verwunschene Dornröschenschlösser noch ihrer Erlösung durch einen Investor harren, nichts würde mehr an vergangene Düsternis erinnern.
Was übrigens die oben schon erwähnten Badefreuden betrifft: Da ist die Region zwischen Kühlungsborn und Stralsund mit zahllosen Kilometern bestgepflegter Sandstrände gesegnet und mit fast ebenso vielen Dörfern. Und weil die mildtätige Brise, die hier selbst die anderweitig heißesten Sommer ins Annehmliche wendet, dann und wann ein bisschen gar zu mildtätig bläst, darf man sich auch der Erfindung jenes Strandwundermöbels rühmen, das, aus dem Norden kommend, längst auch Gärten und Terrassen viel weiter im Süden erobert hat: des Strandkorbs.
Der hat zwar eine lange Vorgeschichte als Indoor-Schutz gegen allzu zugige Stuben hinter sich, zum Strandkorb unseres Verständnisses, als Zweisitzer mit Fußstützen und Seitentischen, soll das charmante Stück aber erst der Rostocker Hofkorbmachermeister Wilhelm Bartelmann um- und neugestaltet haben. Und es sei Frau Bartelmann gewesen, die der Überlieferung nach 1883 in der Nähe des Warnemünder Leuchtturms erste Strandkörbe zur Vermietung angeboten hat und damit einen Geschäftszweig begründete, der bis heute nichts an seiner Attraktivität verloren hat. Kaum zu glauben, dass die malerischen Strandkorbformationen, die heute allenthalben nördliche Dünenlandschaften mit Komfort versehen, irgendwann einmal nicht dagewesen sein sollen.
Gut vorstellbar dagegen, dass es nicht zuletzt Künstler waren, die die Stille und Gelassenheit der sanft gewellten Ebenen an der deutschen Ostseeküste als Rückzugsorte vom Lärm der Großstädte für sich entdeckten. So darf Ahrenshoop für sich sogar den Ehrentitel Künstlerdorf in Anspruch nehmen: Schließlich hat um die Jahrhundertwende der seinerzeit überaus erfolgreiche Landschaftsmaler Paul Müller-Kaempff Ahrenshoop zum Standort einer veritablen Künstlerschule gemacht. Bis heute lassen die verträumt-reetgedeckten Katen ahnen, was Müller-Kaempff und die Seinen hier gesucht und gefunden haben mögen.
Nicht wenig mag dazu die besondere Lage des Künstlerdorfs beigetragen haben: auf einer schmalen, fast insgesamt 50 Kilometer langen Halbinsel situiert, die ihre Entstehung der Vereinigung der ehedem selbstständigen Inseln Fischland, Darß und Zingst verdankt. Die drei gemeinsam trennen ihrerseits den Bodden von der offenen See, eine lagunenartige Wasserlandschaft, an den Ufern dicht von Schilf bedeckt und somit idealer Lebensraum für Wasservögel aller Art, die hier ihre Heimat oder, im Vogelzug, ihre temporäre Ruhestatt finden. Was Wunder, dass derlei als „Vorpommersche Boddenlandschaft“ mittlerweile zum Nationalpark nobilitiert ist, dem drittgrößten Deutschlands immerhin.
Wem der Sinn weniger nach Kranich, Kegelrobbe und Co. denn nach hansestädtischer Pracht steht, der findet das drei Dutzend Kilometer weiter im Osten: in Stralsund mit viel Backsteingotikzauber (Nikolaikirche! Rathaus!). Zahlreiche repräsentative Bürgerhäuser, zwei mittelalterliche Stadttore oder auch, ein wenig versteckt, eine zauberhafte Fachwerkkolonie auf dem Gelände des ehemaligen Johannisklosters liefern weitere Gründe, die Stadt am Tor zur Insel Rügen im Weltkulturerbe der Unesco gut aufgehoben zu wissen.
Zu viel Altehrwürdigkeit? Dann kann ein Besuch des Ozeanums empfohlen werden, von Behnisch Architekten 2008 an die Stralsunder Hafenkante gesetzt. Und wer sich an dessen verwegen geschwungenen äußeren Formen stößt, wird im Inneren mit atemberaubenden Durch- und Ausblicken, auf dem Dach mit einer quirligen Truppe von Humboldt-Pinguinen versöhnt.
Es ist schon so: Kunst und Natur, Alt und Neu, Stadt und Land – unter den weiten Himmeln an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns findet Gegensätzliches zusammen. Und dass diese so vielfältige Strandurlaubsferne diesfalls nicht im Süden, vielmehr im Norden zu finden ist, kann da gar nicht mehr wundernehmen. Gewiss, Zitronen blühen hier nicht, und Oliven sind nur im Glas zu haben. Aber Hand aufs Herz: Bei Bier, Korn und Bismarckhering lässt es sich auch gut leben.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 5. Juli 2025.



