Der Fall Ernst Grube: Wenn das Vergangene nicht vergehen will

Von Verfolgung und Repression im Deutschland vor und nach 1945, von fatalen Kontinuitäten, Widerstand und Mitläufertum erzählt Hannah Brinkmann am Beispiel eines KZ-Überlebenden: „Zeit heilt keine Wunden“ – mein Comic des Monats im Februar 2025.

Es ist ja nicht alles Zitat, was glänzt. Dass die Zeit alle Wunden heile, verheißt uns einer der bekannteren Beiträge zu einschlägigen Sammlungen, und weil er einem philosophischen Großmeister namens Voltaire zugeschrieben wird, Wegbereiter und Wegbegleiter der abendländischen Aufklärung, sind wir geneigt, an seiner Werthaltigkeit wenig Zweifel zu hegen. Die Sache ist nur die: Wie in vielen vergleichbaren Fällen erweist eine Nachschau, dass die Zitatendinge anders liegen, als gemeinhin überliefert: „Le temps adoucit tout“, lautet der Satz im Original, auf den besagte Wendung zurückgeht, zu finden in Voltaires Kurzroman „L’ingenu“ („Der Freimütige“), kein Wort von Wunden, schon gar nicht von Heilung. Der Zeit wird nicht mehr zugemutet, als alles zu lindern. Was auf wenig Widerspruch stoßen dürfte: Dass sich aus dem Abstand der Jahre mancherlei vielleicht relativiert, hat schließlich rein gar nichts mit der Idee zu tun, noch so schlimmes Leid zerschmelze im Lauf der Jahre quasi von selbst zu Wohlgefallen.

So fällt es nicht schwer nachzuvollziehen, was der Titel jenes Comicbandes uns bedeuten will, den die deutsche Zeichnerin Hannah Brinkmann kürzlich vorgelegt hat. Der lautet schlicht: „Zeit heilt keine Wunden“. Und ganz genau so verhält es sich, und zwar nicht nur im Leben jenes Ernst Grube, dem diesmal Brinkmanns Interesse gilt – und auf den der Titel auch zurückgeht.

Dieser Ernst Grube, mittlerweile 92 Jahre alt, ist ein Überlebender: Als 12-Jähriger ins KZ Theresienstadt deportiert, hat der Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters den Terror der nationalsozialistischen Jahre überstehen müssen, nur um im Nachkriegsdeutschland erst recht Ächtung, ja Verfolgung ausgesetzt zu sein.

Doch der Reihe nach. Brinkmann setzt mit ihrer Lebenserzählung bei einem Zeitzeugenauftritt Grubes in einer bayerischen Schule der Gegenwart an. Ein verstümmelter Finger Grubes lässt einen Schüler fragen, ob die Verletzung aus den Nazi-Jahren stamme. Keineswegs, das sei Ergebnis eines Arbeitsunfalls gewesen, erwidert Grube lakonisch, um gleich anzufügen: „Oft denken die Menschen, man müsse sehen können, was die Gewalt der Nazis anrichtet. Schläge, Schüsse. Verletzung. Vernichtung. Doch die Gewalt der Nazis lässt dich auch innerlich zerbrechen.“

Auffallend, wie Brinkmann diese Passage zeichnerisch begleitet: Von einer quasi dokumentarischen Darstellung der Situation im Klassenzimmer ausgehend, lenkt sie unvermittelt unseren Blick in den Kopf Grubes, lässt uns in sein Gehirn, seine Ganglien, Synapsen, seine Zellen eintauchen, als wollte sie in anatomischen Schnitten das Unfassbare fassbar, das Unsichtbare sichtbar machen. Und doch, es bleiben Ganglien, Synapsen, Zellen, die nichts davon verraten, was durch sie pulst. Das Unfassbare bleibt unfassbar, das Unsichtbare unsichtbar, selbst wenn wir noch so tief in unser Inneres vordringen, kein Skalpell, kein Mikroskop kann es uns fassen lassen.

Es sind Stilmittel dieser Art, die 2020 schon Brinkmanns Graphic-Novel-Debüt, „Gegen mein Gewissen“, prägten. Schon da kommentierte sie die tragische Geschichte eines deutschen Wehrdienstverweigerers der frühen 1970er aus einem zeichnerischen Off heraus, wechselte immer wieder von einem reportagehaften Realismus zu metaphorischen oder karikaturhaften Bildwirkungen, die Hintergründe ausleuchteten, Motive, Seelenzustände, Wirkkräfte, welche das bloße Abbild einer Situation nie zu versinnlichen vermöchte.

War es damals das Schicksal eines Verwandten, das Brinkmann zum Gegenstand nahm, verdankt Brinkmann den Hinweis auf Ernst Grube der Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, Mirjam Zadoff: Die habe „schon lange eine grafische Biografie über Ernst Grubes Leben erarbeiten wollen“, erinnert sich Brinkmann. Ernst Grube seinerseits wiederum sei „sehr interessiert, neue Wege zu finden, seine Zeitzeugenschaft zu bewahren“. Und nicht nur dass sich rasch ein inneres Einverständnis zwischen Biografin und Biografiertem einstellte, habe man auch rasch darin Einigkeit gefunden, wo der Fokus der Geschichte liegen solle. Hannah Brinkmann: „Ernst redet als Zeitzeuge an Schulen meist über seine Verfolgung im Nationalsozialismus.“ Dass er auch in der jungen BRD verfolgt wurde, nämlich als Kommunist, komme dagegen „selten zur Sprache“.

Genau dieser Aspekt ist es, der „Zeit heilt keine Wunden“ aus der Fülle von Zeitzeugenberichten heraushebt, die sich auch in gezeichneter Form mittlerweile angesammelt hat. Die Zeiten, da Art Spiegelman mit „Maus“ eine vehemente Debatte auslöste, ob es denn zulässig sei, sich der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten mit den Mitteln des Comics, noch dazu in eine Fabel gewendet, anzunähern, sind lang vorbei. Jährlich wartet der Buchmarkt mit Comic-Neuerscheinungen in einschlägiger Sache auf. Freilich, was nach KZ-Befreiungen, nach der NS-deutschen Kapitulation im Mai 1945 geschah, das bleibt regelmäßig ausgeblendet. Die Nazis sind weg – und alles ist gut?

Nun, weder dies noch jenes, wie der Lebenslauf Ernst Grubes beweist: Zum einen hatten sich weder die NS-Parteigänger der ersten Stunde plötzlich in Luft aufgelöst noch die Mitläufer vergangener Jahre. Und also konnte zum anderen auch nicht alles gut, aus und vorbei sein. Entnazifizierung hin oder her: Die sogenannten Ehemaligen besetzten nach 1945 noch jahrzehntelang zentrale Stellen in der Verwaltung, an Universitäten, in der Lehrerschaft und nicht zuletzt in der Justiz. Und wie auch anders: Woher hätte ein Staat quasi über Nacht all die Unbelasteten nehmen sollen, die an ihre Stelle hätten treten können?

So kommt es, dass ein gewisser Kurt Weber, in den Tagen nationalsozialistischer Despotie zum Ersten Staatsanwalt aufgestiegen, eines Nachkriegstags, mittlerweile zum bundesrepublikanischen Richter gewendet, über Ernst Grube und seine kommunistische Gesinnung Recht spricht: 1959 wird Grube wegen Mitgliedschaft bei der zu diesem Zeitpunkt schon verbotenen KPD zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.

Und damit nicht genug: Er sei danach zwar nicht noch einmal im Gefängnis gewesen, staatliche Repressionen freilich habe er weiterhin erlebt, gibt Grube seiner Biografin zu Protokoll: „1974 verlor ich durch den Radikalenerlass beinahe meine Stelle als Berufsschullehrer. 2012 wurde ich im bayerischen Verfassungsschutzbericht als Linksextremist diffamiert, der seine Verfolgungsgeschichte nur erzählt, um Einfluss auszuüben.“ Wobei Grube Wert darauflegt, dass die Repressionen der Nachkriegszeit nicht mit jenen davor in eins zu setzen sind: „Erst heute verstehe ich, unter was für einem Druck meine Eltern gestanden sein müssen.“

Brinkmann beschränkt sich freilich nicht darauf, dem Opfer Grube eine Stimme zu geben, sie lässt auch die Täterseite zu Wort kommen – in Gestalt des eben erwähnten Nachkriegsrichters mit der ausgeprägten NS-Vergangenheit. Akribisch hat Brinkmann den Lebensweg dieses Kurt Weber aus Akten, in Archiven recherchiert, entwirft daraus das Bild eines Karrieristen, den nebst seiner Gier nach Erfolg nicht zuletzt die politischen Umstände vom Biedermann zum willigen Werkzeug des Unmenschentums mutieren lassen. Der Weg vom braven Bürger zum Handlanger einer Despotie ist auffallend kurz – und mit vielen vermeintlichen Sachzwängen gepflastert: Das all jenen gesagt, die sich dieser Tage gar so sicher sind, sie wären vor solcherlei Anfechtungen gefeit. Man kann nur hoffen, dass all die selbsternannten Standhaften nicht schon demnächst Gelegenheit erhalten, ihre Standhaftigkeit unter Beweis stellen zu dürfen.

Über die Darstellung konkreter zeitgeschichtlicher Zusammenhänge hinaus wirft Hannah Brinkmann am Beispiel des Lebens von Ernst Grube grundsätzliche Fragen auf: Wie frei ist, was wir freie westliche Welt nennen? Wie wehrhaft muss eine freie Welt gegenüber ihren Feinden sein? Und wo schlägt ihre Verteidigung womöglich in Unterdrückung um?

„Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner. Gerade in diesen Tagen scheint der Ungeist des Vergangenen vielerorts gegenwärtiger, als uns lieb sein kann.

Der Comic des Monats im Februar 2025
Hannah Brinkmann
Zeit heilt keine Wunden.
Das Leben des Ernst Grube.
264 S., € 30.
(Avant Verlag, Berlin)

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