Zwischen Freudianischen Fieberträumen und SciFi-Fantasmen: Sechs Jugendliche suchen sich selbst – und entdecken ihre Sexualität. Seit Kurzem liegt der abschließende dritte Band von „Daidalos“ vor: Mein Comic des Monats im Juli 2024.
Was kann schon groß aus jemandem werden, dessen Seele der zersetzenden Wirkung von Comics bereits in zartem Vorschulalter ausgesetzt war? „Mein Vater war ein Wissenschaftler, der ursprünglich Zeichner werden wollte“, bekennt Charles Burns. „Deshalb durfte ich Comics lesen, ohne dass man mir voraussagte, sie würden meinen Verstand zerstören.“ Und was, Mister Burns, war das Ergebnis? „Mein Gehirn verfaulte.“ Eben. Unsere Eltern und Großeltern haben es doch immer schon gewusst.
Nun, dafür, zu einem der wichtigsten Comickünstler der Gegenwart zu werden, hat’s für Charles Burns immer noch gereicht. In Washington, D. C., 1955 geboren, geriet er nach einem Studium der Malerei und Bildhauerei Anfang der 1980er in die Fänge jenes Art Spiegelman, der ehedem das Underground-Comicmagazin RAW leitete, und was soll man sagen: Burns verfiel der sogenannten Neunten Kunst, als wären deren acht nicht schon genug.
Das heißt: Sein täglich Brot verdiente er die längste Zeit jenseits von Panels und Sprechblasen – etwa als Cover-Illustrator für Magazine oder mit Werbe-Sujets. Wie hätte sich einer auch sein Leben mit Comics finanzieren sollen, der sich so viel Zeit für jedes Detail darin nahm? Knapp zehn Jahre umspannten die zwölf Bände seiner Serie „Black Hole“, mit der er, noch im strengen Schwarz-Weiß, den Grundstein für ein Schaffen legte, das ihm mittlerweile allerlei ehrende Zuschreibungen eingetragen hat, nur so beispielsweise der „große Stilist des amerikanischen Comics“ zu sein.
Nun, „großer Stilist“ ist nicht zu viel gesagt, sofern man jemanden damit bezeichnen will, der die Ausdrucksformen seines Metiers ideal beherrscht. Ja, das tut er, dieser Charles Burns, der sich geradeso in der Welt des US-Horror-Comics der frühen 1950er zu Hause fühlt wie in der streng disziplinierten Bildsprache eines Hergé. Und wie er all das und allerlei dazwischen seinem immer wieder hervorgeholten Lieblingsthema dienlich macht, den Nöten, Schrecken und Abgründen, wie sie nur das Heranwachsen kennt, das lässt mitunter die Bedeutung der Handlung hinter der Schönheit und Faszination der Bilder zurücktreten, in die sie gekleidet ist.
Nun also „Daidalos“, ein Dreiteiler, vor vier Jahren begonnen und kürzlich mit Teil drei abgeschlossen. Auf Deutsch zumindest und ein halbes Jahr, bevor das amerikanische Original erscheint. Interessant auch die unterschiedliche Titelwahl: in der deutschsprachigen Version ein Rückgriff auf antikes Sagengut, im künftigen amerikanischen ein Verweis Richtung Kino – „Final Cut“. Und beides hat seine je eigene inhaltliche Stimmigkeit. Hier der Mythengrieche, der für den Kreterkönig Minos das Labyrinth erfindet, auf dass der rabiate Minotauros auf ewig darin gebannt sei, dort ein Terminus technicus der Filmerei, Bezeichnung für die letztgültige Szenenmontage. Wie das eine zum selben Stoff wie das andere passt? „Final Cut“ auf der direktest möglich Linie, immerhin haben wir es dem Inhalt nach mit Dreharbeiten zu tun, an deren Ende als Ergebnis ein Film mit dem Titel „Final Cut“ steht, und auch an Kreuz- und Querverweisen durch die Filmgeschichte besteht kein Mangel. Der Labyrintherfinder wiederum kommt auf einer metaphorischen Ebene ins Comicspiel: Was hier verhandelt wird, sind nicht zuletzt – und bei Charles Burns wieder einmal – die Irrungen und Wirrungen von Jugendlichen auf dem Weg zur Adolszenz. Was ließe sich labyrinthischer denken als dieser Weg? Und was in jenen besonderen Tagen furchteinflößender als der Minotauros namens Sexualität?
Sechs Personen suchen einen Autor, ließe sich mit Luigi Pirandello sagen, doch anders als in Pirandellos Klassiker der Moderne suchen sie den Autor nicht anderweitig, vielmehr in sich selbst: den Autor, der sie selbst sind und der nicht ihr gehabtes, vielmehr ihr künftiges Leben ihnen auf den Leib schreiben wird. Da sind Dana und James, dauerverliebt und dauerknutschend. Da sind Jimmy und Tina, irgendwie ein Paar und genauso irgendwie wieder nicht. Und da sind vor allem Brian und Laurie, beide auf je eigenen Pfaden unterwegs durchs Sein, die sich für beide unvermittelt kreuzen: bei Jimmys Geburtstagsparty, die der mit filmischen Kindersünden würzt – Mini-Horrorschocker, von ihm gemeinsam mit Brian gedreht auf Super-8-Material, einschlägig vielversprechende Titel wie „The Flash Eaters“ oder „I Was a Teenage Frankenstein“ inklusive.
Dreharbeiten zu einem Amateurfilm sind es auch, die die sechs im Irgendwo einer US-amerikanischen Bergeinsamkeit zusammenführen und die letztlich „Final Cut“ zum Ergebnis haben: eine schlichte Story rund um welterobernde Aliens, getaucht in eine Freudianisch aufgeladene Bildersprache, in der das Vergnügen an Schockeffekten längst ganz anderen Lüsten und Gelüsten Platz gemacht hat. Und was Wunder angesichts des längst dem Kindlichen entratenen Alters der Protagonisten, dass die nämliche Interessensverschiebung, sei es offen, sei es insgeheim, besagte Dreharbeiten begleitet, in Fantasien und Nachtbildern sogar dominiert.
Brian und Laurie sind es, die aus ihren je eigenen Perspektiven davon berichten: hie der akribische Kinofreak, der, was für die anderen nicht mehr als Zeitvertreib ist, ernst nimmt, als gelte es tatsächlich ein cineastisches Werk von Ewigkeitswert zu schaffen; da Laurie, für die dieses zwischen sprudelndem Überschwang und schlagartiger Verschlossenheit wechselnde Gegenüber mit seinen gleichermaßen befremdenden wie an- und aufregenden Imaginationen zum Katalysator auf dem Weg zum Ich wird. Und nicht allein die zeichnerische Begabung ist es, die in diesem Brian ein Stück weit seinen Schöpfer, Charles Burns, kenntlich macht: auch etwa die Tatsache, dass das Personal, das Brian umgibt, selbst Laurie, kaum eigene Geschichte vorzuweisen hat, eigentlich nur im Verhältnis zu Brian zu existieren scheint, als wären all die anderen bloß seiner Vorstellung entsprungen.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wo beginnt, was wahr ist, wo löst es sich in Wunsch- und Angstträumen auf, und wann und wieso gebären diese Träume erst recht wieder Realität? Charles Burns’ „Daidalos“ nimmt von allem Anfang an gefangen, vom Cover des ersten Bandes weg, und lässt niemanden los, der irgendwann selbst Antworten auf diese Fragen suchen – und erleben musste, das die doch stets nur Antworten mit Ablaufdatum sind, Jahr für Jahr und Tag für Tag neu zu erfahren.
Im Wechselspiel zwischen klar getuschter Kontur, subtiler Bleistiftzeichnung, spektakulären Farbeffekten und raffinierten Licht-Schatten-Wirkungen entfalten die Panels des Charles Burns eine Eindrücklichkeit, die mühelos die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem vergessen macht, nisten sich in uns ein – als könnten sie genauso gut unseren eigenen Köpfen entstammen wie jenem ihres Schöpfers. Jeder von uns sein eigener Charles Burns? Nun ja, das fürwahr wäre zu viel gesagt. Andererseits: Der Minotauros, der seine halbwüchsigen Protagonisten vor sich herjagt, wer von uns wäre ihm – sei es gestern, sei es heute – noch nie begegnet?
Der Comic des Monats im Juli 2024
Charles Burns
Daidalos
Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders.
3 Bde., zus. 216 S., Bd. 1 und Bd. 2 je € 20, Bd. 3 € 24.
Reprodukt, Berli