Anti Social Media. Oder: Von den Monstern, die wir selbst erschaffen

Ein schottisches Gewässer, ein Alien, ein Fotograf und eine Internet-Plattform namens „Twister“: In seiner Satire rund um Fake News und Shitstorms erzählt Bruno Duhamel, wie leicht dem Einzelnen das eigene Leben entgleiten kann – und dass nicht alles schlecht enden muss, was übel beginnt. „#Erstkontakt_“: mein Comic des Monats im September 2024.

Ende Juli 2024. In der nordwestenglischen Stadt Southport überfällt ein Jugendlicher einen Tanzevent für Kinder und tötet drei Mädchen mit seinem Messer. Über Social-Media-Kanäle verbreitet sich die Falschnachricht, beim Täter handle es sich um einen muslimischen Asylwerber. Die Folge sind landesweite Übergriffe rechtsextremer Gruppen: Asylunterkünfte werden attackiert, in Brand gesteckt, Moscheen angegriffen.

Spanien, wenige Tage später. In einem Dorf nahe Toledo ersticht ein Mann einen 11-jährigen Buben, der gerade mit Freunden Fußball spielt. Innerhalb kürzester Zeit tauchen auf Social-Media-Kanälen Nachrichten auf, die den Mord mit Immigranten, namentlich solchen aus Nordafrika, in Verbindung bringen, Nachrichten, die eifrig geteilt werden. In diesem Fall bleiben Folgen der Fake-News-Lawine aus: Schon einen Tag nach der Tat ist der mutmaßliche Täter gefasst – ein psychisch kranker 20-Jähriger mit spanischer Staatsbürgerschaft.

Von all dem konnte Bruno Duhamel nichts wissen, als er an die Konzeption seiner Gaphic Novel „#Erstkontakt_“ ging: Die Fabel rund um Fake News, Shitstorms, geknackte Accounts und geleakte Privatheiten, kurz den ganzen unkontrollierten Informationswahsinn via Facebook, Instagram, TikTok, Twitter, X und Co (oder wie sie nach dem Willen ihrer jeweiligen Herren – ja, samt und sonders Herren sind es – gerade heißen sollen) ist im französischen Original schon vor fünf Jahren erschienen. Und dass der Band, seit wenigen Tagen auch auf Deutsch, bei Avant, lieferbar, nichts an Aktualität verloren hat, beweist vor allem anderen, dass wir in diesen fünf Jahren nichts, aber schon gar nichts dazugelernt haben.

Im Gegenteil: Von Tag zu Tag drängender stehen die Probleme uns vor Augen, die eine Informationsproduktion jenseits jeder Qualitätskontrolle und ihre noch viel weniger kontrollierbare Verbreitung über jene Kanäle nach sich zieht, die uns das Internet bietet – und vor allem die damit verbundene Option, sich dortselbst anonym und also jenseits jeder Verantwortlichkeit zu bewegen. Viel zu lange wurden darauf Maßstäbe angelegt, die Meinungsfreiheit mit Rechtsfreiheit verwechselten. Während traditionelle Medien, sei es Print, Radio oder TV, seit je in der Pflicht stehen, was sie der ihnen je eigenen Öffentlichkeit kundtun, nur nach bestem Wissen und Gewissen zu präsentieren – und dafür auch rechtlich gradestehen müssen –, folgen die einschlägigen Gegebenheiten im Internet bis zum heutigen Tag einem zynischen Anything goes: So abstrus kann eine Meldung/Meinung/Behauptung gar nicht sein, dass sie sich nicht, millionenfach geteilt, mitunter weltweiter Verbreitung erfreuen dürfte – und das ohne jedwede Gefahr für ihren Erzeuger wie für ihre Verbreiter, im Fall des Lügenfalles belangt werden zu können.

Gerade bei Printmedien führte das jahrelang zum Paradoxon, dass Leserbriefe, waren sie anonym übermittelt, in Druckausgaben nicht erscheinen durften, während die Internetforen derselben Zeitungen und Zeitschriften von in jeder Hinsicht namenlosem Unfug nur so überquollen.

Damit immerhin ist’s mittlerweile weitgehend vorbei. Und selbst bis in die Redaktionsstuben von Blättern, denen kein Hang zu notorischer Überkorrektheit nachgesagt werden kann, hat sich mittlerweile herumgesprochen, welche Gefahren eine jeder Beaufsichtigung entzogene Informationsproduktion mit sich bringt. „Anti Social Media“ titelte etwa kürzlich, im Zusammenhang mit oberwähnten Unruhen, das britische Boulevardblatt „The Sun“ und beklagte auf der Front Page, „wie Facebook und andere die Gewalt auf unseren Straßen“ – gemeint den britischen – „lostreten“. Das mag scheinheilig klingen, macht jedoch gleichermaßen eine Wachablöse in Sachen Meinungs- und Weltdeutungsmacht sichtbar: Durften sich bisher gerade Medien wie „The Sun“ mit ihrem nicht eben zimperlichen Zugang zur Wahrheit als Alleinherrscher im Reich der Bevölkerungsmobilisierung wähnen, ist ihnen mit Facebook, Twitter, Telegram eine Konkurrenz erwachsen, der sie ihrerseits nicht mehr gewachsen sind. Nur: Den „Sun“-Redakteur, der offensiv die Unwahrheit berichtete, den konnte jeder und jede Betroffene zur Rechenschaft ziehen – wie aber wollte man „meinungssheriff20“ oder „Mickey Mouse 200“ belangen?

Zurück zu Bruno Duhamel, zurück zu „#Erstkontakt_“. Dem französischen Zeichner, Jahrgang 1975, ist es nicht ums große politisch Ganze getan, vielmehr darum, wie sich dieses Ganze im Leben des Einzelnen widerspiegelt. Das hat er schon bei „Niemals“ und „Niemals D-Day“ vorexerziert: In beiden Fällen ist es eine wehrhaft-schrullige Alte, die Umweltignoranten wie Rechts-Außen-Populisten Mores lehrt – vor der Kulisse von Duhamels ureigener Heimat, der Normandie.

Für „#Erstkontakt_“ nun hat Duhamel den Ärmelkanal überquert und ist in Schottland gelandet. Einem fiktiven Schottland, wie er im Vorwort eilig betont. Und im Übrigen: „Wenn Sie weiterlesen, stimmen Sie unseren allgemeinen Nutzungsbedingungen und Datenschutzbestimmungen zu.“ Ein Disclaimer als Buchpräambel. Wir ahnen schon: Nicht alles ist hier tierisch ernst gemeint.

Dass Duhamel seinen Band dem „Broccoli Tree“ widmet, verrät ganz nebenbei, welches Ereignis ihn zu seiner Fabel inspiriert haben mag: der kuriose Wirbel, den der schwedische Fotograf Patrik Svedberg in den 2010ern ungewollt mit Bildern einer Weide entfachte, deren Krone entfernt an Broccoli erinnerte. Zunächst absichtslos, alsbald regelmäßig platzierte Svedberg Fotos des Baums auf Instagram, und ohne jedes weitere Zutun entwickelte sich daraus ein Internet-Hype, auf dessen Höhepunkt täglich 30.000 Instagram-Abonnenten auf das neuste Bild des Baums warteten – samt Touristenscharen, die an Ort und Baumstelle pilgerten. Die gibt es bis heute, dem Baum dagegen hätte die abstruse Angelegenheit fast das Leben gekostet: Unbekannte haben ihn 2017 dermaßen massakriert, dass er gefällt werden musste. Die gute Nachricht: Weiden sind enorm regenerationsfähig, aus dem verblieben Stumpf sprießt längst wieder Weidennachwuchs.

Bei Duhamels schottischem Fotografen liegen die Dinge etwas komplizierter: Nicht ein simpler Baum ist es, den der, Doug mit Namen, vor das Objektiv seiner Kamera bekommt, sondern ein wahrhaftiger riesiger Alien, der eines Tages vor ihm aus den Tiefen des fiktiven (was sonst?) Castle Loch taucht. Doug drückt den Auslöser, platziert ein Alienfoto auf der (detto selbstverständlich fiktiven) Plattform Twister – und mehr braucht’s nicht, um sein eigenes Leben wie das seiner näheren Umgebung durcheinanderzuwirbeln. Über die schottische Einsamkeit bricht ein mediales Pandämonium herein, Doug sieht sich mit Vorwürfen von Geltungssucht bis Bildmanipulation konfrontiert, sein Account wird geknackt, um ihn und seine Ex-Frau mit Aktfotos, die er in besseren Beziehungszeiten angefertigt hat, zu kompromittieren. Und könnte nicht auch das nahe Gentechnik-Labor irgendetwas mit der Sache zu tun haben?

Mit leichter Hand, doch nie ohne den ernsthaften Hintergrund des Geschehens aus den Augen zu verlieren, statuiert Duhamel am Beispiel Dougs ein Exempel dafür, wie das, was als Schmetterlingseffekt in die Chaostheorie eingegangen ist, längst Teil unseres medialen Alltags wurde. Dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann, darüber wundert sich, auf die Gesetzmäßigkeiten der Internetkommunikation umgelegt, dieser Tage niemand mehr.

Nun, es wäre nicht Duhamel, wüchse der Irrsinn zur Tragödie. Um zu zeigen, was er zeigen will, genügen ihm die Mittel von Satire und Groteske – und eine Bildsprache, die in liebevollen Details ein Schottland in die Panels zaubert, wie es schottischer gar nicht geht: ein bisschen rätselhaft, ein bisschen urtümlich, ein bisschen anders, ein bisschen karg und mit einem Alien ausstaffiert, wie es sich charmanter nicht denken lässt.

Am Ende kommt es so, wie es nicht kommen müsste: Zwar bleibt nichts, wie es ist, doch bleibenden Schaden trägt niemand davon. Wie ja auch Herrn Svedbergs „Broccoli Tree“ wider jede Erwartung wieder grünt. Nichts ist unmöglich, nicht einmal, dass doch alles gut wird. Und was, wenn nicht genau dieser Glaube, könnte Antrieb unseres Lebens sein?

Der Comic des Monats im September 2024
Bruno Duhamel
„#Erstkontakt_“
Aus dem Französischen von Lilian Pithan.
72 S., € 22.
(Avant Verlag, Berlin)

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