Anne Bennent: Wer ist schon dort, wo er ist?

„Mir ist völlig wurscht, ob die Staatstheater überleben. Wenn nicht, dann fangen wieder zwei Leute an, auf der Straße zu spielen – und andere schauen zu.“ Die Schauspielerin Anne Bennent über die Theaterkrise, Peter Handkes neues Stück, das Teekochen und andere wichtige Dinge in ihrem Leben.


Der Vater Schauspieler, die Mutter, eh‘ die Kinder kamen, Tänzerin, eine Jugend vor, hinter und auf Bühnen, vor und hinter Kameras: kein Wunder, dass auch Anne Bennent und ihr Bruder David ihr berufliches Heil in der Schauspielerei suchten. Anfang der Neunzigerjahre übersiedelte Anne Bennent nach Wien – und wurde ohne langes Zaudern von der Burgtheatergemeinde adoptiert. Ihre Sascha in Tschechows „Ivanov“, ihr „Käthchen von Heilbronn“, zuletzt ihre „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ reihten die Schweizerin Jahrgang 1963 in die erlesene Schar hiesiger Publikumslieblinge. Jetzt ist Anne Bennent, nach einem einjährigen Paris-Aufenthalt bei Peter Brook, ans Burgtheater zurückgekehrt: für die Uraufführung von Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ unter der Regie von Claus Peymann. Geplanter Premierentermin: 8. Februar.


Anne Bennent, in den journalistischen Inszenierungen Ihrer Person wird Ihnen regelmäßig eine bestimmte Rolle zugewiesen: die Entrückte, fern der Welt, über den Fährnissen des trüben Alltags schwebend. Die Herzen der Kritiker werden vor Ihnen weich, und da kann es schon vorkommen, dass einer Ihnen, wie kürzlich geschehen, „Augen von der grundlosen Tiefe eines Bergsees“ attestiert.

Wirklich? Das hab‘ ich nicht gelesen.

Ich kann’s Ihnen zeigen. Mögen Sie solche Zuschreibungen?

Ich muss erst einmal drüber lachen.

Auffallend ist, dass sich dieses Bild schon über etliche Jahre fortschreibt: Anne Bennent, Märchenprinzessin, Königskind.

Vielleicht vermissen die Leute ihre Märchen. Vielleicht wünschen sie sich so ein Wesen aus einer anderen Welt. Manchmal höre ich ja auch im Theater die Leute über mich reden wie über ein Extraterrestrum: „Unsere Außerirdische.“

Und Sie glauben sich auf dem Boden der Realität?

Nicht immer. Außerdem: Welche Realität ist gemeint? Die Theaterrealität, die Zu-Hause-Realität, die Realität auf der Straße? Manchmal ist es halt so, dass ich schon auf der Straße bin und noch in der Realität des Theaters stecke, und dann sehen mich die Leute wie eine Traumtänzerin über die Straße gehen. Ich bin auf der Probe manchmal noch draußen im Park, bei den Krähen, oder zu Hause. Wirklich da zu sein, wo man gerade ist, das würde ich Realität nennen. Aber wer ist das schon?

Und wie passt in Ihr Konzept von Wirklichkeit die bei Ihnen und Ihrer Familie zu beobachtende Modernisierungsverweigerung: kein Auto, kein Fernsehgerät? Schotten Sie sich nicht bewusst von der modernen Welt ab?

Ja, das ist nicht so ganz falsch. In dieser Wohnung hab‘ ich jetzt ein Fernsehgerät, das ist für mich etwas völlig Fremdes. Wenn ich da fernsehe, dann manchmal zwei Nächte durch – und dann bin ich ganz krank.

Was macht Sie krank?

Nehme ich beispielsweise die Nachrichten ernst, kann’s mir ja gar nicht gut gehen. Ich sehe schon auf der Straße jeden Tag Dinge, die mir nicht gefallen, die ich irgendwie bewältigen muss. Mein Beruf ist es ja auch, Dinge zu beobachten und zu versuchen, sie zu verstehen. Da hab‘ ich bei einem Spaziergang von zu Hause bis zum Arsenal, wenn ich die Augen aufmache, genug, was ich versuchen muss, tagsüber zu verarbeiten. Wie behalte ich meine gute Laune und meine Lebenslust, wenn da einer neben mir in der Straßenbahn krepiert? Und die Nachrichten sind dann geballt. Ein Konzentrat aus der ganzen Welt von allem, was schrecklich ist. Da bin ich dann betroffen, aber völlig hilflos, weil man ja nichts machen kann, außer es wahrzunehmen. Wenn ich mir das jeden Tag anschaue, dann reagiere ich irgendwann nicht mehr darauf.

Ich rege mich auch über Dummheit viel zu sehr auf. Und ich rege mich auf eine blöde Art auf, das heißt, ich mache mich selber fertig. Dabei brauche ich ja meine Kraft, um das mitteilen zu können, was mir wichtig ist.

Was ist Ihnen wichtig?

Ja, zum Beispiel jetzt eben einen Tee für uns zu kochen.

Und sonst?

Das Lebendige, das, was zwischen den Trümmern wächst. Ich weiß, das sind große Worte. Ein Gespräch zu führen mit einem Menschen, den ich nicht kenne, ein kurzes Gespräch in einer Straßenbahn oder auf einer Parkbank, ein Moment zwischen zwei Unbekannten, die sich dann trennen, ohne sich jemals wiederzusehen. Das sind mir kostbare Augenblicke. Oder ein Spaziergang.

Das Theater gehört auch zu diesen wichtigen Dingen?

Sicher. Im Theaterspielen kann ich das, was mir im Leben wichtig ist, mit anderen teilen. Ich hab‘ ja auch das Glück gehabt, Kleist, Tschechow zu spielen, Stücke von Leuten, die mich wirklich bewegen und die sich einfach besser ausdrücken können, als ich es jemals können werde. Und das mitzuteilen, was man empfindet, was einem das Leben lebenswert machen kann, durch so große Dichter, und da sind dann tausend Leute, und man kann sie mit irgendetwas anstecken, das gehört zu den schönen Dingen.

Kann man die Leute noch anstecken? In immer kürzeren Abständen wird der Tod des Theaters prophezeit, neuerdings vor dem Hintergrund einer Jugend, die mit MTV, Video, Internet aufwächst.

Solange es Menschen gibt, die noch Menschen sind – das ist eben die Frage: Wann hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein? -, wird es Theater geben. In welcher Form, das ist mir wurscht, ob das nun das Burgtheater ist oder Theater auf dem Dorf. Mir ist völlig wurscht, ob die Staatstheater überleben oder nicht. Wenn nicht, dann fängt das halt wieder von vorne an, dann fangen wieder zwei Leute an, auf der Straße zu spielen – und andere schauen zu. Das Bedürfnis danach, dem anderen etwas vorzumachen, dass das verschwindet, das kann ich mir nicht vorstellen.

Sehr eng ist mit Ihnen auch das Kosmopolitische verbunden: Anne Bennent, die Weltbürgerin, mehrsprachig aufgewachsen, als Kind mit der Familie durch die Lande ziehend, Sommer in Griechenland. Wo liegt die Heimat der Anne Bennent?

Ein Heimatgefühl kenne ich. Nur taucht das unerwartet an den verschiedensten Orten auf. Jetzt hab‘ ich zum Beispiel zwei Monate lang in Wien Wohnung gesucht, und ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kam hier herein und dachte mir: Das kann das Zuhause sein. Heimat, das ist ein wunderschönes Wort, ich liebe dieses Wort sehr, aber es hat nichts mit einem konkreten Ort zu tun, sondern mit einem Gefühl der Geborgenheit. Und Heimat hat mit Natur zu tun. In der Natur fühle ich mich immer sicher, ich habe Natur selten als gewaltsam oder fremd empfunden. Weil ich damit aufgewachsen bin. Einsamkeit, Wälder, Wildnis. Und das Meer: Ich bin jemand, der zwei Stunden lang rausschwimmt. Da fühle ich mich sicher, da habe ich vor nichts Angst. Weder vor der Tiefe noch davor, dass von unten irgendein Tier kommt. Angst habe ich in überfüllten Metros. Das ist das Gegenteil von Heimat.

Ihre Familie umgibt der Mythos des Unkonventionellen, Freigeistigen. Gleichzeitig ist die Rollenverteilung in der Familie erstaunlich konventionell: Die Mutter bekommt Kinder, gibt ihren Beruf auf und folgt dem gängigen Mutterbild der Zeit.

Ja, das ist wie im Alten Testament bei uns. Ein einziger Widerspruch. Auch dass wir in den Köpfen der Leute so eine homogene Familie sind: Einen größeren Unterschied als den zwischen Vater und Mutter kenne ich nicht zwischen zwei Menschen.

Können Sie sich vorstellen, einmal dem Vorbild der Mutter zu folgen?

Ich bin eigentlich nie einem Vorbild gefolgt. Am Anfang vielleicht, da hat es mir sehr geholfen, dass ich einen Vater hatte, der Theater spielte und überhaupt der Größte war. Auch meine Mutter war wichtig, ihre Art, frei zu sein, indem sie zwar nicht das Klischee bedient von der unabhängigen Frau, aber sich ihre eigene Freiheit schafft: Sie hat die gängige Rolle der Frau übernommen, das Sich-um-die-Kinder-und-um-den-Mann-Kümmern, aber ganz anders, indem sie diese Tätigkeit als Beruf betrachtet. Das ist nicht so ein Zwang. Sie kann ja auch ihre Taschen nehmen und weggehen, so wie sie ist.

Vielleicht passiert es mir in meinem Leben, dass ich einen Künstler treffe, der so das verkörpert, was ich mir auch wünsche, dass ich sage: Ich hab‘ genug Theater gespielt. Das kann passieren. Nur: Ich habe es nicht vor.

Was hat Sie nach Wien zurückgebracht: Handke, Peymann, das Burgtheater?

Peymann erfuhr, dass ich frei bin, und er suchte noch eine Schauspielerin für das Handke-Stück. Und das hat mich natürlich verführt, nach Wien zu kommen.

Diese Stadt ist ja sehr verführerisch für eine Schauspielerin. Man ist überall Frau Bennent, und das Theater ist schön. Und dann auch die Neugierde auf Peymann – und auf Handke. Ich habe ja noch nie, außer einmal in Stuttgart, das „Totenfloß“ von Harald Müller, das Werk eines zeitgenössischen Autors gespielt.

Hat das einen bestimmten Grund?

Nein, das ist halt so. In vielen Fällen hat man mich gar nicht gefragt, denn die Leute wollen mich lieber als klassische Schauspielerin, weil das nicht so viele verkörpern können, diese unsterblichen Figuren.

Das Handke-Stück jedenfalls, das interessiert mich sehr. Erstens ist das vor allem einmal der Text eines Dichters. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber diese Sprache ist eine dichterische Sprache, nicht so ein Fuzelkram. Und das kann ich selten sagen, wenn ich einen Text spreche, die Worte in den Mund nehme: Dichtung.

Am Anfang hab‘ ich von dem Stück gar nichts verstanden: Wie eine Sintflut ist es über mich geschwappt – Assoziationen aus dem Alten Testament, aus dem Gilgamesch-Epos und ich weiß nicht, woraus noch. Ich bin fast ertrunken in Worten. Und jetzt langsam, auf dieser Reise durch das Stück, finde ich es sehr faszinierend, was Handke da zusammengebaut hat.

Ich kenne ihn ja nicht so gut. Ich liebe seine frühen Stücke. Seine politischen Geschichten, die verdränge ich im Moment, weil ich sie erstens nicht verstehe, und zweitens ist mir da etwas nicht ganz geheuer.

Sie meinen „Gerechtigkeit für Serbien“?

Ja. Damit habe ich mich nicht beschäftigt, denn ich möchte mich nicht ärgern über etwas, was ich nicht genug verstehe. Da bin ich ganz unpolitisch. Eigentlich ist das falsch, eigentlich müsste ich mich informieren, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe, aber ich tu’s nicht, weil ich schon genug an dem Stück zu arbeiten habe.

Das wird Sie im Fall Peter Handke nicht in größere Schwierigkeiten bringen. Aber kann man politische Hintergründe grundsätzlich so einfach ignorieren? Zahllose Schauspieler wurden genau dadurch zu Wasserträgern von Regimen, mit denen sie im Grunde wohl gar nichts zu schaffen haben wollten.

Es ist mir ja auch selber nicht ganz geheuer. Aber ich wittere keine Gefahr, da möchte ich mich schon auf meinen Instinkt verlassen. Ich hoffe, wenn’s einmal drauf ankommt, dass ich dann wach genug bin.

Vor knapp sieben Jahren hat die damals 26-jährige Anne Bennent formuliert, sie werde unter Zadek in „Ivanov“ spielen, „wenn alles gut geht und wenn ich noch am Leben bin“. Ziemlich fatalistisch für eine Mittzwanzigerin.

Ich bin oft mit älteren Menschen zusammengewesen, auch meine Eltern sind älter als die meisten Eltern, mein Vater zum Beispiel ist jetzt 75. Und dieses „Wenn wir überhaupt noch leben . . .“ habe ich eben deshalb wahrscheinlich sehr oft gehört. Ich hab‘ auch manchmal solche Rollen gespielt, zuletzt Christa Wolfs Kassandra. Die weiß: Morgen ist es aus. Und das in einem positiven Sinn zu sehen . . .

Vielleicht habe ich dieses „Wenn ich noch am Leben bin“ damals auch aus reinem Quatsch gesagt. Aber es ist kein Quatsch. Meine Oma beispielsweise ist mit dem Flugzeug abgestürzt. Es gab in meinem Leben viele Momente, in denen der Tod plötzlich da war, ohne dass man es erwartet hätte. Und ich kannte kranke Menschen, die wissend, dass sie in einem Jahr sterben werden, anstatt zu jammern, gerade dadurch eine besondere Kraft zum Leben bekommen haben, die alles so genießen konnten wie kaum ein anderer Mensch.

Ich glaube, das Leben ist viel schöner, als man es empfindet, wenn man denkt, dass man noch unheimlich viel Zeit hat. Und deshalb bin ich auch sehr hungrig und möchte alles auf einmal haben.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 28. Dezember 1996

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